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Musik auf dem Kirchentag - das ist eine unendliche Geschichte. Immerhin bot das Protestantentreffen in diesem Jahr innerhalb von drei Tagen gut 4.500 Veranstaltungen an. Das ist zwar nicht alles Musik. Aber allein der Bereich der Rock-Musik, auf den ich mich in Hannover konzentriert habe, dürfte es auf eine dreistellige Anzahl von Einzelkonzerten gebracht haben. Etwa 20 davon habe ich gesehen oder zumindest gestreift.
Lasst Euch an die Hand nehmen und folgt mir durch mein Kirchentagstagebuch, um einen Eindruck dieser Mega-Veranstaltung zu finden. Denn die fünfhundert Meter, die man auf den großen Festivals zwischen Auto, Zelt, Bühne(n), Klo und Bierständen herumlaufen muss, sind im Vergleich mit einem Kirchentag geradezu lächerlich. Exemption spielten im nördlichen Stadtteil Vahrenwald, Chrisma jenseits der südlichen Stadtgrenze, [Earth:link] im östlichen Arbeiterviertel Linden. Und selbst die Konzerte, die auf dem Messe- und Expo-Gelände selbst stattfanden lagen weiter auseinander, als auf den größten Festivals. Und bei wohl um die 200.000 Dauerteilnehmer verlässt man auch in der Straßenbahn den Veranstaltungsort nie wirklich.
Mittwoch, 25. Mai - Der Abend der Begegnung
Bevor das eigentliche Kirchentagsprogramm (Donnerstag bis Freitag) startet, findet als Auftakt traditionell der Abend der Begegnung statt, ein Straßenfest in der Innenstadt des gastgebenden Ortes. Hier begegnen sich Kirchentagsteilnehmer und Stadtbewohner. Die gastgebende Landeskirche stellte sich vor, indem die verschiedenen Kirchenkreise in einzelnen Straßen mit Ständen und Bühnen Programm machten. Zentrales Symbol war dieses Mal der Leuchtturm, der als Orientierungspunkt an mehreren Punkten der Innenstadt aufgebaut war, und natürlich auch auf die Orientierung gebende Funktion des christlichen Glaubens hinweisen sollte. Schnuckenwürste aus der Lüneburger Heide und frische Krabben aus dem Kirchenkreis Ostfriesland buhlten im Schatten der Leuchttürme gemeinsam mit Zirkus- Kabarett- und Musikveranstaltungen um die Gunst der Gäste, die sich bei extrem sommerlichen Temperaturen durch die hannoversche Altstadt schoben.
Der Ansturm war erheblich größer als erwartet. Etwa 400.000 Menschen waren gekommen. Der Versuch den zentralen Eröffnungsgottesdienst vor dem Opernhaus zu besuchen, wurde schon im Ansatz erstickt. Bereits in der Bahnhofsstraße wurden wir (zu Fuß) in Richtung Marktkirche umgeleitet, um auch dort ein vorsorglich ordentlich gedrucktes Schild „Kirche überfüllt“ zu entdecken. Also ließen wir uns mit der Menge treiben. Das familienfreundliche Musikprogramm schlug mich nicht in seinen Bann. Sacro-Pop, Bläsermusik und Chöre bestimmten akustisch das Bild. Gegen halb 9 schafften wir dann doch noch den Durchbruch zum Opernplatz. Voll war es immer noch. Aber die wieder auferstandenen Alphaville zogen nicht ganz so große Massen an, wie der Eröffnungsgottesdienst.
Tag 1 - Donnerstag, 26. 5. 2005
Bildungsbewusst bin ich am Vormittag erst einmal auf das Messegelände zu einer Podiumsdiskussion mit dem Thema Islamisches Recht und demokratischer Staat gefahren, bevor ich mich ins lärmende Getümmel gestürzt habe. Mein erstes Ziel war das Capitol, ein mittelgroßer Musikclub im Arbeiterviertel Hannover-Linden. Hier stehen regelmäßig Rock- und Metal-Acts auf der Bühne.
Auf dem Weg dorthin bin ich kurz vor dem Stadtzentrum aus der Bahn gestiegen. Im Haus der Jugend, soviel wusste ich, sollte es eine Nachwuchsbühne geben. Was dort aber wann abgehen sollte, war mir unklar. Bevor im Europasaal im ersten Stock Last Man standing zu lärmen begannen, konnte ich einiges über das Quartett in Erfahrung bringen. „New melodic Core“ nennen die Ulmer ihr Gebräu. Die Band ist gerade dabei ein zweites Album einzuspielen. Während das Debüt Sound of my Mind nur bei Konzerten verkauft wurde, ist für das neue Album nun auch ein Vertrieb im Gespräch. Die Situation sei aber noch so offen, dass er keinen Namen nennen wolle, sagte Gitarrist und Sänger Traugott Schmid. Zwei Stücke hörte ich mir an. Lärmende Gitarren stehen im Vordergrund. Ganz viel eigene Identität ist in der Live-Situation noch nicht zu erkennen, aber es wurde reichlich powerndes Engagement geboten. Die Band bewegte sich auch wesentlich mehr als viele der Amateurbands während dieser Tage. Der Name wird jedenfalls beim nächsten Kirchentag wieder auf meiner Kontrollliste stehen. (lmsmusic.de)
Nebenbei konnte ich ein Gesamtprogramm der Nachwuchsbühne abgreifen. Leider kollidierten die interessantesten Veranstaltungen mit festen Programmpunkten auf meiner Liste. Organisiert wurde die Bühne vom christlichen Kulturnetzwerk Crossover e.V., das seit Jahren eine engagierte Internetseite (www.xo4u.de) betreibt, die zwar über eine klare christliche Identität verfügt, aber gerade im Musikbereich ohne Scheuklappen auch alle anderen Musiken bearbeitet. Die Seite hat keine Einzelausgaben, sondern ein ständig wachsendes Archiv mit Reviews, Berichten etc. Über Updates kann man sich per Newsletter informieren lassen.
Ruhiger, aber auch ein wenig professioneller im Sound präsentierten sich Sprinx auf der EC-Bühne vor dem Haupbahnhof, wo ich die Straßenbahn nach Linden zum Capitol nehmen wollte. Melodischer Rock mit leicht progressiven Einsprengseln fesselte mich. So lies ich einige Straßenbahnen fahren, blieb bis zum Ende des Sets und lies mir etwas über die Band erzählen. Es liegen schon etliche Jahre Erfahrung hinter den Tübingern. Seit vier Jahren gibt es die Band, die sich aus Landeskirchlern und Methodisten zusammensetzt. Kennen gelernt hat man sich beim CVJM. Als mir dann noch gesagt wurde, dass es sich quasi um eine Nachfolgeband von Splendid back handelt, war für mich auch die relativ große Professionalität keine Überraschung mehr. Splendid back hatte ich bereits 1999 beim Kirchentag in Stuttgart gesehen und dort das recht beeindruckende Album [i:ve'lu:sen] abgegriffen, das Sprinx übrigens auch noch im Merchandise-Koffer mitführen.
Sprinx wollen bewusst an dem melodischeren Kurs festhalten. Die derzeit auch im christlichen Underground angesagte Tendenz in Richtung numetallischer Härte ist nicht ihr Ding. So schämt man sich auch nicht, die oft verunglimpften Bon Jovi als eines der Vorbilder zu nennen.
Auch Sprinx haben bereits ein eigenes Album am Start, das über Asaph vertrieben wird. Eine neue Scheibe ist in Arbeit. (www.sprinx.de)
Mein Aufenthalt bei Sprinx hat dazu geführt, dass ich Crushead im Capitol verpasst habe. Schade, denn nicht zu unrecht gilt die Stuttgarter Truppe als eine der führenden Rockbands in der deutschen christlichen Szene, die genau den von Sprinx gemiedenen Weg crossovernder Numetallik konsequent beschreibt. Aber über Crushead habe ich an dieser Stelle ja schon vor zwei Jahren vom letzten Kirchentag in Berlin berichtet und CD-mäßig ist seitdem nichts passiert. Der einzige neue Song steht auf der Homepage zum runterladen. (www.crushead.com)
Als ich im Capitol ankam stand die folgende Truppe, Crossing, bereits auf der Bühne. Mir erschien sie als eher austauschbare Coverband. Nähere Informationen konnte mir während des Sets niemand geben. Und da die Mittagshitze an diesem ersten knallwarmen Tag, das Islamforum am Morgen, die Fahrerei und die Rennerei mich nach Ruhe lechzen lies, lies ich Crossing Crossing sein und schlenderte am schattigen Ufer der Ihme entlang zum Faust, einer ehemaligen Bettfedernfabrik, die zum Kulturzentrum ausgebaut worden ist und immer wieder in den Tourplänen kleiner und mittelgroßer Metalbands auftaucht. Der Schatten des dazugehörigen Biergartens und ein großes Alster machten mich bis zum Beginn des Auftritts von [Earth:link] wieder handlungsfähig.
Aus der gleißende Sonne zwänge ich mich durch die Eingangstür und befinde mich sofort in einer anderen Welt. Statt blendender Helle ist plötzlich Schwarz in allen Schattierungen angesagt. Wände, Bühne und auch die meisten Besucher - alles in Schwarz. Und dann setzt wenige Sekunde nachdem die Band die Bühne betreten hat ein Orkan ein, der alles wegbläst. Mein üblicher Kirchentagsansatz „Reingehen - zwei, drei Stücke Hören - Fotos machen - nächste Band“ war vergessen. Denn es war von Anfang an klar, dass hier eine der musikalischen Sternstunden des Kirchentags ablief. Logisch, dass [Earth:link] der Aufmacher für meinen Artikel über Rock auf dem Kirchentag wurde. Und den werde ich jetzt der Einfachheit halber kurz zitieren.
“„Faust“ nennt sich die Konzerthalle. ... Der Name passt perfekt auf das, was hier kurz nach fünf in dem dunklen Konzertsaal abgeht. [Earth:link] zementieren einen Soundwall in den Raum, der so zärtlich ist wie die Bilder von Mel Gibsons „Passion Christi“. Hard Core Metal wird laut; aber in exzellenter Aussteuerung ins Publikum geblasen. Jeder Ton, jede Feinheit ist zu hören. Eines der musikalischen Highlights des 30. Kirchentages. Auch optisch können [Earth:link] überzeugen. Während die Musiker vieler Bands in diesen Tagen wie festgewachsen auf der Stelle stehen, wird hier mit Bass und Gitarre auf der Bühne gepost, was das Zeug hält. Wut erfülle ihn, wenn er höre, was George Bush im Namen des Christentums tut, antwortet Sänger Marc Dobat auf die Frage, wieso Christen derart brutale Musik machen.“
Optisch fällt vor allem der obercoole Bassist Frank Oeste auf, der während des Konzertes seine Tätowierungen unter einem eleganten schwarzen(!) Hemd verhüllt, das zur schwarzen Sonnebrille passt. Gemeinsam mit einem kurzfristig eingesprungenen Ersatzdrummer fährt das Trio ein extremes Brett. Schade, dass von dieser Formation noch keine CD existiert. Die Band ist die Nachfolgeformation von Cherubim, die bei den letzten Kirchentagen regelmäßig im Programm waren. Groß! (www.earthlink.de.vu)
Nach diesem gleichzeitig auspowernden und Kraft gebendem Erlebnis stand wieder eine inhaltliche Veranstaltung auf dem Programm. Im „Freikirchlichen Begegnungszentrum“ in der Baptistengemeinde sollte unter anderem ein Mitarbeiter von „Willow Creek“ über „Kreative Ansätze in der Jungendarbeit“ sprechen. Willow Creek, eine Gemeinde in Chicago hat in den vergangenen Jahren von sich reden gemacht. Mit massivem Vertrauen in die Fähigkeiten jedes einzelnen Gemeindemitglieds wurde eine Gemeinde mit vorwiegend ehrenamtlicher Arbeit innerhalb weniger Jahre von 0 auf 10.000 Mitglieder hochgefahren. Mittlerweile versuchen auch Gemeinden in Deutschland von Willow Creek zu lernen. Ich war gespannt.
Der Weg führte mich wieder in den Süden quer durch die Stadt fast bis zum Messegelände. Da ich noch etwas Zeit hatte, nutzte ich die Gelegenheit zwischendurch auszusteigen und noch einmal auf die Nachwuchsbühne im „Haus der Jugend“ zu schauen. Dort waren gerade Obscura am Werk, ein Mädchen-Quartett aus Waldkirch, das sich selber zwischen “Tiefsinn und Melancholie“ verortet. Ganz nett - vor allem natürlich optisch; aber bei den Newcomern schlägt das Problem, das viele andere Gothic-Engelbands auch im professionellen Bereich heimsucht, doppelt zu Buche. Wirkliche Emotionalität wird kaum über die Rampe gebracht. Und so wirkte der Auftritt dann doch etwas seicht, dünn und leblos. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Der Ansatz ist nicht verkehrt. Mal sehen, ob die jungen Damen bis 2005 zum nächsten Kirchentag durchhalten, und wie das Ganze dann klingen mag. (www.obscuras-welten.de)
Den weiteren Weg nach Süden hätte ich mir dann sparen können. Vom sechsköpfigen Podium im „Freikirchlichen Begegnungszentrum“ war ausgerechnet der Willow Creek-Mann erkrankt und somit nicht dabei. Also pflegte ich meinen Körper mit dem einfachen, reichhaltigen und preiswerten „Pilger-Menü“, lauschte der ersten Gesprächsrunde und blätterte im 600-seitigen Programmheft nach einer Alternative, um den Abend zu beschließen. Gefunden habe ich die Vahrenwalder Gemeinde, die nun zwar genau entgegengesetzt nördlich der Innenstadt liegt, aber dafür in unmittelbarer Nähe der Wohnung meiner Mutter, in die ich mein müdes Haupt am Abend sowieso noch schleppen musste.
Der Slogan “haad, strait und granschig für den König und gegen das Metronom“ hatte mich nur bedingt angesprochen. Daher standen Exemption nur unter ferner liefen auf meiner Programmauswahl. Ohne die geographisch vorteilhafte Lage der Gemeinde wäre mir die Truppe - endlich mal aus Norddeutschland - wohl entgangen. Das wäre schade gewesen. Zum späten Abend wurde in dem Gemeindesaal richtig Power geboten. Zwischen traditionellem Rock und Hard Rock im 80er Stil wurde von den nicht mehr ganz jungen Musikern ein feines Brett gefahren. Rock’n’Roll, ZZ Top, Springsteen und gemäßigte Rainbow steckten den Rahmen ab, in dem unter anderem einem der größten christlichen Rock-Hits aller Zeiten, dem “Jesus Freak“ von DC Talk noch einmal mächtig in den Arsch getreten wurde. Überwiegend aber gab es eigenes Material zu hören.
Die Brunsbüttler existieren seit 1984, waren bei den letzten drei Kirchentagen dabei und haben schon eine Reihe von Tapes veröffentlicht. Der Kirchentag in Hannover wurde zum Anlass genommen, nun auch einmal Musik auf CD zu brennen. Die Bodenständigkeit der Truppe könnte auch daraus resultieren, dass wir es nicht mit studierten Akademikern zu tun haben, sondern mit Menschen, die in der Ausbildung zur Gitarre gegriffen haben, auch um über ihren Glauben zu singen. Sehr sympathisch war der Einsatz von Kenny Gorny, einem
vielleicht 12jährigen Jungen, der bei einigen Stücken am Keyboard antrat - und seine Sache sehr gut machte. "Es war sein allererster Livegig überhaupt," erklärt Gitarrist Carsten Witt stolz. "Kenny ist ein sehr aufgeweckter Bursche, der sich seit 2004 recht unkompliziert in die Band eingefunden hat."
Norbert von Fransecky
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