Artikel
Info
Zeit: 09.04.2022
Ort: Leipzig, Bandhaus
Internet:
http://www.kontraire.de
http://www.facebook.com/4Fliegenband
http://www.facebook.com/lessoner.music
http://www.bandcommunity-leipzig.org
Auch im Keller des Leipziger Bandhauses geht nach langer pandemischer Pause der Konzertbetrieb wieder los – allerdings mit anderweitigen Hindernissen: Im März mußte das Weedpecker-Konzert noch ausfallen, weil das Ordnungsamt den Keller nicht als Club, sondern als Konzertveranstaltungsstätte eingestuft hatte und die damit verbundene Corona-Regelung keinen sinnvollen Konzertbetrieb ermöglicht hätte. Am 1.4. konnten immerhin drei der vier geplanten Bands auftreten (nur 1000 Löwen unter Feinden mußten kurzfristig passen, allerdings nicht virusbedingt, sondern weil ein Bandmitglied einen Unfall hatte), und am 8.4. hätte eigentlich ein Doom-Package spielen sollen, bestehend aus einer weißrussischen Formation, zwei russischen Bands und einer international zusammengesetzten Combo, aber die Begleiterscheinungen des Krieges in der Ukraine machten dieses Vorhaben zu einer logistischen Unmöglichkeit, und so stellt der Releasegig von Kontraire am Folgeabend das zweite öffentlich zugängliche Konzert im Bandhaus seit urewigen Zeiten dar.
Eigentlich spielen drei Bands, und der Rezensent hat 21 Uhr als Anstoßzeit auf dem Schirm und schafft es darauf bezogen auch, pünktlich zu sein. Seine Zeit stellt allerdings einen Irrtum dar (auf der Facebookseite des Bandhauses ist tatsächlich ein früherer Beginn angekündigt), so dass Lessoner bei seiner Ankunft ihren letzten Ton bereits gespielt haben. Die Liveberichterstattung kann also erst mit 4Fliegen losgehen, die nach Behebung etlicher technischer Probleme mit „Kein Geheimnis“ einsteigen und ein langes, entrücktes Intro in fast postrockiger Manier dramatisieren, die innere Songdramaturgie aber gelegentlich zu zerschnippeln geruhen, bevor sie letztlich doch noch in einer für ihre Verhältnisse großen Doomwalze landen. Mit Alternative Rock, wie man ihn vor einigen Jahrzehnten definierte, hat das nur noch am Rande etwas zu tun – die Saarbrücker folgen eher Pfaden, wie sie im frühen 21. Jahrhundert von Futile angedeutet worden sind, tappen aber noch zu häufig in die Falle, zu viele Passagen unterschiedlichen Charakters einfach aneinanderzureihen und den einzelnen Ideen, so gut sie auch sein mögen, die Entfaltungsmöglichkeiten zu stark zu beschneiden. So steht der trotz angeschrägter Harmonik durchaus eingängige Refrain von „Neben dir“ ebenso etwas im Abseits wie das psychedelisch angehauchte Hauptsolo von „Niemals hier“, wobei hier und auch im folgenden „Konstant“ einige geradlinige Passagen ein fast punkiges Feeling hinterlassen, was dem Quartett wiederum gar nicht so schlecht zu Gesicht steht und in „Konstant“ tatsächlich wirkungsvolle Kontraste zu den Wall-of-Sound-Andeutungen und den eher breaklastigen, an der Grenze zum Progrock siedelnden Passagen ermöglicht. Wie man anhand der Songtitel bereits erahnt, singen die Saarländer in Deutsch, allerdings versteht man von den Lyrics im bisweilen leicht verwaschenen Mix nur wenig, wobei außer dem leadsingenden Gitarristen mitunter auch der Bassist mitsingt und auch für die vereinzelten Schreipassagen verantwortlich zeichnet.
Erst in der zweiten Sethälfte aber spielen die Saarländer ihre größten Trümpfe aus. „Genug“ läßt dabei zunächst negativ aufhorchen, indem die im Intro aufgebaute Spannung sang- und klanglos versandet, gewinnt aber dann in den marschartigen Passagen mit appellierendem Charakter enorm an Überzeugungskraft und hängt ein krasses Finale an, das für die noch mehrmaligen Torpedierungen der songimmanenten Spannung entschädigt. „Hotel“ knüppelt für 4Fliegen-Verhältnisse ordentlich ins Mett, schaltet im Hauptteil nur leicht zurück und setzt abermals einen heftigen Finalausbruch an. Ihr Meisterstück liefern die vier Jungs aber mit dem Setcloser „Konsequenz“ ab, einem riesigen Epos, lange halbballadesk, dann wilde Progbreaks auffahrend und nach dem ersten großen Zusammenbruch den Hörer mit einem gewaltig raumgreifenden Baß umschließend, wonach sich ein großartiges Finale entwickelt. Hier stimmt von der internen Dramaturgie her wirklich alles, und wenn 4Fliegen die Tugenden dieses Songs auch in ihrem künftigen Schaffen pflegen, sollte man ihnen noch die eine oder andere Großtat zutrauen können. Positive Reaktionen aus dem Publikum bekommen sie jedenfalls auch an diesem Abend schon.
Setlist 4Fliegen:
Kein Geheimnis
Neben dir
Niemand hier
Konstant
Genug
Hotel
Konsequenz
Kontraire haben am Vortag ihre Debüt-EP Urteil herausgebracht, deren sechs Songs sich auch allesamt in der Setlist dieses Gigs wiederfinden. Das Trio steigt mit „Konstrukt“ ein und macht schon mit diesem Song klar, dass eine grundsätzliche stilistische Verwandtschaft zu 4Fliegen da ist – allerdings mit einem markanten Unterschied: Die Zahl der unterschiedlichen Parts innerhalb eines Songs bleibt begrenzt, und die Nummern behalten stets einen grundsätzlichen Flow, was für eine gehobene songwriterische Reife der noch recht jungen Musiker spricht. Nur an wenigen Stellen ertappt man sich bei der Fragestellung, ob ein zweiter Gitarrist dem Livesound guttun würde, etwa gleich beim psychotischen Solo von „Konstrukt“. Andererseits ist die Transparenz des Sounds ohne die zweite Gitarre durchaus etwas größer, und den großen Doompart am Ende des besagten Songs bekommt das Trio auch ohne einen vierten Mann richtig fett hin. Und Quasi-Hits schreiben können die Jungs auch, wie das vom Auditorium begeistert mitgesungene „Gedeih“ gleich an zweiter Setposition unter Beweis stellt. Auch bei Kontraire übernimmt der Gitarrist das Gros der Leadvocals, allerdings geht auch das gelegentliche Geschrei auf seine Kappe, während der Bassist meist cleane Einwürfe liefert.
Das phasenweise halbakustische, aber trotzdem schlagzeugseitig treibende „Flunkerer“, der erste Nicht-EP-Track im Set, überzeugt ebenso wie das härtere, den Sänger teilweise in einen appellierenden Gestus verfallen lassende „Dunkelblau“, und in „Abdank“ (laut bejubelt und mitgeklatscht) und „Schluck“ zeigen Kontraire, dass auch sie in der Lage sind, große Postrockwälle aufzuschichten. Das eingängige „Spirale“ leitet über zu „Einsicht“, einer Halbballade mit einigen ergreifenden Momenten, etwa wenn im Mittelteil nur die beiden Stimmen über dem Schlagzeug zu hören sind, die Saiteninstrumente aber völlig schweigen. Der Kontrast zum EP-Titeltrack paßt: Ähnlich wie 4Fliegen haben auch Kontraire ein großes Epos ans Setende gestellt, nicht ganz so gewaltig wie „Konsequenz“, aber seinen herausgehobenen Status trotzdem problemlos rechtfertigend und auch von der Anhängerschaft laut bejubelt, so dass das Trio noch zwei Zugaben auspackt, von denen „Schuss“ eher geradlinig und eingängig, „Tauziehen“ wiederum flotter und druckvoller daherkommt. Solange Leipzig solche Bands hervorbringt, ist die Szene gesund, und auch hier darf man auf die nächsten Entwicklungsschritte gespannt sein, so dass zumindest für den vom Rezensenten erlebten Teil der Livemusikdarbietungen ein positives Urteil ergeht.
Was den Abend unvermutet auf gelungene Weise abrundet, ist die Konservenmusik. Im Bandhaus läuft in den Pausen mit Kessoptha eine hochinteressante Combo irgendwo zwischen technischem Death Metal und einigen Symphonic-/Gothic-Elementen, und in der ARD-Hitnacht beim Heimfahren setzt der Programmierer direkt nacheinander „House Of The Rising Sun“, „Tausendmal Du“ und „Don’t Worry, Be Happy“ an. Danke!
Setlist Kontraire:
Konstrukt
Gedeih
Flunkerer
Kunststück
Dunkelblau
Abdank
Schluck
Spirale
Einsicht
Urteil
--
Schuss
Tauziehen
Roland Ludwig
Zurück zur Artikelübersicht |