Artikel
Info
Zeit: 31.03.2022
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
„Scherben der Stille“ ist das 2. Violinkonzert von Unsuk Chin betitelt, das mit dem Gewandhausorchester an diesem Abend seine deutsche Erstaufführung erlebt. Begreift man „Stille“ in letzter Konsequenz wie John Cage in „4‘33“, müßten auch die Scherben der Stille ausschließlich die Spielanweisung „tacet“ tragen, aber damit kann man natürlich keine knappe halbe Stunde füllen, und so sollte sich doch ein anderer Sinn ergeben, meint man. Nach der halben Stunde ist man schlauer: Die südkoreanische Komponistin spielt nur in ganz wenigen Momenten mit sich zeitlupenartig aus der Stille entwickelnden Klängen (man denke für ein klassisches Beispiel an Einojuhani Rautavaaras „Cantus Arcticus“) und reiht ansonsten eher Scherben aneinander.
Das klingt jetzt vielleicht negativer, als es gemeint ist – immerhin gibt es da den Soloviolinisten Leonidas Kavakos, als dessen musikalisches Porträt die Komponistin das Konzert verstanden wissen will und dem sie eine Art eigentümlicher Führungsrolle zuweist, obwohl er gar nicht so offensiv mit dem Orchester interagiert. Themenhin- und -herreichungen in althergebrachter Manier gibt es durchaus, wenngleich man sich ziemlich konzentrieren muß, um die Themen und Motive als solche zu erkennen. Ein markantes langes Grundmotiv evoziert der Violinist jedenfalls gleich zu Beginn, beantwortet aus dem Orchester zunächst mit Rassel- und Rauschsounds, bevor eine Hinführung zur ersten Scherbenstruktur erfolgt, in diesem Fall einem bigbandartigen Klang. Dirigent Andris Nelsons führt die Beteiligten sozusagen von einer Scherbe zur nächsten und bringt das Kunststück fertig, wildes Getrümmer von sechs Kontrabässen so transparent gestalten zu lassen, dass man den Solisten darüber immer noch hört. Der darf sichtbar Freude daran haben, als Führungsfigur für die im höchsten Bereich glissandierenden Orchesterviolinen zu agieren, und Leonidas Kavakos wird dem Rezensenten hoffentlich nicht böse sein, wenn der zwei Scherben, an denen der Solist gar nicht beteiligt ist, als die eindringlichsten der halben Stunde Musik bezeichnet. Wenn der Pauker minutenlang in hoher Geschwindigkeit sein Instrument mit Jazzbesen bearbeitet, ist das genauso jenseitig wie das, was die Kontrabassisten nach dem folgenden Bombastzusammenbruch veranstalten: Sie legen ebenfalls über lange Zeit einen extrem weit zurückgenommenen ultratiefen Klangteppich, den man nur wahrnimmt, wenn man sein Ohr gezielt nach ihm suchen läßt, der die darüberliegenden klimpernden Floskeln perfekt grundiert und der im besten Sinne an den tiefen Ton in Anathemas „Dreaming: The Romance“ erinnert. So geht es munter weiter durch die Klangscherbensammlung, und wenn man das Programmheft liest, stellt man zudem fest, dass der Dirigent auch im Fortgang beim Erzeugen von Orchesterlärm eher auf Transparenz und Sparsamkeit aus ist, während man aus der Lektüre heraus etwas ganz anderes erwarten würde. Aber auch die Komponistin spielt mit den Erwartungen des Hörers: Die vordere Reihe der Orchesterstreicher spielt eine kadenzartige Passage, der Solist dagegen bekommt keine, und nach einem kurzen Crescendo ist mit einem vom Rest abgetrennten, aber alles andere als vernichtenden Schlag plötzlich Schluß – eine Entwicklung innerhalb des Konzerts in althergebrachter Manier hat wie bekundet nicht stattgefunden. Aus den sehr übersichtlich gefüllten Reihen kommt für eine derartige Novität durchaus viel Applaus, aber Kavakos verzichtet auf eine Zugabe.
Eine Tschaikowski-Sinfonie konnte man vom Gewandhausorchester gerade erst zwei Wochen vorher erleben, nämlich die Fünfte – nun gibt es wieder eine, allerdings eine, die nicht in die offizielle Zählung eingegangen ist: die auch als „Manfred-Sinfonie“ bekannte Sinfonie h-Moll op. 58, ein Stück Programmusik, das in diesem Falle zu gewaltiger Größe angeschwollen ist und chronologisch zwischen der 4. und 5. Sinfonie lagert, das große schicksalhafte Geschehen in letztgenannter und dann auch in der 6. möglicherweise mit vorbereitet habend. Unter den summiert also sieben Sinfonien Tschaikowskis nimmt diese bezüglich der Aufführungshäufigkeit einen der hinteren Plätze ein, aber für das Gewandhausorchester zählt auch sie zum Stammrepertoire: Erstmals 1908 unter Arthur Nikisch hier gespielt, hat der eine oder andere Musikliebhaber möglicherweise auch die unter Kurt Masur anno 1991 getätigte Einspielung im Tonträgerschrank stehen. Jaap van Zweden hatte die Fünfte zwei Wochen zuvor eher als Materialschlacht interpretiert, aber von Andris Nelsons erwartet man eine ganz andere Herangehensweise und sieht sich eine knappe Stunde später auch bestätigt.
Kurioserweise bezeichnet das Programmheft die Sinfonie als fünfsätzig, weist dem Andante con duolo also eine eigene Satznummer zu, was sich in der Aufführung natürlich nicht widerspiegelt. Das Manfred-Thema kommt zunächst nur leicht angedüstert aus dem Fagott, aber die Verzweiflung des Helden macht Nelsons natürlich trotzdem schnell deutlich: Finsteres Streichergesäge führt zum ersten Tutti, das auch er erstmal noch als eher amorphe und bedrohliche Klangmasse auftürmt, die lichten Momente weit ins Abseits stellend, das Holz besonders trübsinnig agieren lassend und den Bratschern und Cellisten gewisse Läufe wieder mal in fast zum rechten Winkel gekrümmter Körperhaltung förmlich aus ihren Instrumenten ziehend. Wirkungsvolle Kontraste aus strahlendem Horn und ultradunklem Tiefblech führen ins nächste Tutti – und siehe da, aus ist’s mit der amorphen Masse: Nelsons nimmt es deutlich klarer, wie man das von ihm gewohnt ist. Dass ihm ausgerechnet in die spannungsgeladene Generalpause vor den lieblichen Streicherchorälen jemand reinhustet, verdirbt erstaunlicherweise die in der Folge überraschend gute Laune des durch die Alpen irrenden Helden nicht, die der Dirigent mal wieder in seiner anderen typischen Körperhaltung, also mit einer Hand am Gitter des Dirigentenpults, hervorholt. Die weitere Dramatisierung erledigt er lehrbuchreif, und wie er den Finalbombast mit enormer Wucht und nicht minder enormer Transparenz ausstattet, das ist das, wofür man ihn so liebt (unter anderen Tugenden natürlich).
„Die Alpenfee erscheint Manfred unter dem Regenbogen des Wasserfalls“ – das ist das Programm des Scherzos, eines Vivace con spirito. Das könnte man ironisieren, man muß es aber nicht. Nelsons entscheidet sich für letztere Option und nimmt das muntere holzdominierte Treiben mit überschaubarer Dramatik und völlig ironiefrei, was auch für große Teile des berückend schönen Trios gilt: Die Fee gehört offensichtlich zur guten Sorte, auch wenn sie den verirrten Helden letztlich doch nicht erlösen kann, wie der doppelte Boden am Ende des Trios andeutet. Das Geschehen atmet im Paukengedonner viel Intensität – und siehe da, plötzlich tritt der doppelte Boden auch weitreichender zutage, gekrönt von der aberwitzigen Dialogpassage von Konzertmeister und Harfe im Satzschluß, die nicht umsonst an das Ticken der Totenuhr erinnert.
Vorher steht aber noch ein Andante con moto mit dem Charakter einer Pastorale, das einfache und behagliche Leben der Gebirgsbewohner illustrierend. Das ist natürlich ein völlig irreales Geschehen, wie jeder Bergbewohner weiß – im 19. Jahrhundert noch viel stärker als heute. Nelsons entscheidet sich aber auch hier für eine ironiefreie Darstellung, schüttelt die wenigen Dramatisierungen praktisch aus dem Ärmel und läßt das Orchester über weite Strecken unaufgeregt laufen. So hebt sich die zum Angriff blasende Trompete, die zu einem glockenunterstützten Zusammenbruch führt, besonders wirkungsvoll aus dem Geschehen heraus, und da legt der Dirigent natürlich nicht die alles dämpfende Decke drüber, wie er das dann im Ausplätschern des Satzes tut.
Das Finale, ein Allegro con fuoco, überrascht in der Lesart des Dirigenten vielleicht am stärksten. Die einleitende Party in der Hölle nimmt er nämlich alles andere als höllisch, wie der Programmhefttext assoziiert – statt dessen kommt einem der alte AC/DC-Songtitel „Hell Ain’t A Bad Place To Be“ in den Sinn, und zwar in der Mißinterpretation diverser Glaubenskrieger (der Hintergrund des Songtexts war ein ganz anderer), die erstaunlicherweise hier prima paßt: Die Party macht einfach nur Spaß, wofür neben der wieder mal erstaunlichen Klangtransparenz (Ahriman hat also offenbar einen guten Mann an seiner höllischen Soundanlage stehen) nicht zuletzt die völlig abstrusen jazzigen Soli aus Baßklarinette und Horn sorgen (wir befinden uns kompositionsseitig wohlgemerkt im Jahr 1885!), und obwohl aus dem Tiefblech bisweilen tatsächlich latente Bedrohung kommt und der Gong für Dramatik sorgt, bleibt es eine richtig gute Party, bis Nelsons Manfreds „Rausschmiß“ in Richtung des folgenden Adagio gekonnt zelebriert, wonach es vorbei ist mit der guten Laune des Protagonisten, im Gegensatz zu der des Hörers, die angesichts der folgenden Glanzleistungen von Orchester und Dirigent auf hohem bis höchstem Niveau bleibt. Egal ob spannende Holzkammermusik, infernalisches Gedonner, groovende Offbeats (1885!) oder die Lieblichkeit der harfendominierten Passage, die andeutet, dass Manfred vielleicht doch erlöst werden kann – die Gestaltung überzeugt an diesem Abend ohne Wenn und Aber. Für den Schlußteil wählt der Dirigent wieder etwas mehr Breite in den Tutti, ohne allerdings irgendwelche Abstriche bei der Klangtransparenz zu machen, und da er weiß, dass er sich auf seine Leute verlassen kann, spricht nichts gegen ein völlig unaufgeregtes Dirigat auch in dynamikdominierten Passagen. Das Monumentalfinale (mit Orgel) legt Nelsons sehr feierlich an, die Rückführung zum Frieden kommt herrlich unangestrengt von der Bühne, und dass das Holz ausgerechnet in den letzten drei Akkorden wackelt, fällt da auch nicht mehr ins Gewicht: Klangschönheit und Spannung werden dadurch nicht negativ beeinflußt. Etliche Bravi und viel Applaus belohnen Andris Nelsons und das Gewandhausorchester – der letzte Überwältigungsfaktor beim Applaus bleibt nur deshalb aus, weil das Gewandhaus nur halbvoll ist, obwohl kapazitätstechnisch bei diesem letzten Konzert vor dem Wegfall diverser Coronaregeln schon wieder mehr gegangen wäre. Selbst schuld, wer sich’s entgehen ließ.
Roland Ludwig
Zurück zur Artikelübersicht |