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Info
Zeit: 26.03.2022
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)
Internet:
http://www.igorlevit.com
http://www.gewandhausorchester.de
Im Jahr 1950 weilte Dmitri Schostakowitsch mit einer sowjetischen Delegation in Leipzig zum Bachfest, das unter schwierigen strukturellen Bedingungen dem 200. Todestag des einstigen Thomaskantors gewidmet war, aber nominell auch neue Wege in der Bach-Rezeption zu markieren helfen sollte. Letzteres war natürlich politisch determiniert, aber Schostakowitsch schlug einen völlig anderen, unerwarteten Weg ein, mit dem er zu den Wurzeln seiner eigenen Bach-Rezeption zurückging: Das Wohltemperierte Klavier hatte er schon als ganz junger Klavierschüler (noch vor der Revolution in Rußland!) kennen und schätzen gelernt, und spätestens als Zwölfjähriger, 1918, war er in der Lage, den kompletten gewaltigen Zyklus, der bekanntlich aus 24 Präludien und Fugen in allen Tonarten besteht, auswendig vorzutragen. Fortan blieb Bach immer ein zumindest latenter Einfluß für Schostakowitsch, wenngleich man seinem Schaffen das kaum direkt anhört, weder dem avantgardistischen Frühwerk noch den ab 1936, nach Stalins „Chaos statt Musik“-Verdikt, entstandenen Kompositionen. Das änderte sich 1950 markant: Schostakowitsch hörte die Pianistin Tatjana Nikolajewa das Wohltemperierte Klavier interpretieren, war offensichtlich hingerissen und kam auf den Gedanken, selbst einen entsprechenden Zyklus zu schreiben. Wie stark ihm dieses Bedürfnis gewesen sein muß, verdeutlicht der Fakt, dass wir uns hier in einer Zeit befinden, als der Komponist gerade wieder, diesmal wegen des Formalismus-Vorwurfs, auf der offiziellen Abschußliste stand, seine Ämter verloren hatte und genau wußte, dass die 24 Präludien und Fugen op. 87, die er in einer Art Schaffensrausch Ende 1950 und Anfang 1951 schrieb, seitens der Kulturbürokratie abermals mit einem Formalismus-Vorworf belegt werden würden – außerdem lebte Stalin noch, und was der dazu sagen würde, dass Schostakowitsch sich mit in sozialistischem Sinne völlig unnützer Kompositionsarbeit beschäftigte, konnte niemand prognostizieren, selbst wenn der Komponist versuchte, sein Werk als Übungsstück für das Schreiben polyphoner Strukturen und damit als „nützlich“ zu deklarieren. Erstaunlicherweise schaffte er es 1952 doch, das Werk zur Aufführung genehmigen zu lassen, nicht zuletzt auf Fürsprache Nikolajewas, die dann die Uraufführung des mindestens ebenso gewaltigen Zyklus spielte. So richtig populär geworden ist er allerdings nicht, und man begegnet ihm im Konzertbetrieb nur selten, was nicht zuletzt strukturelle Gründe hat: Er dauert rein netto ein gutes Stück länger als zwei Stunden – ein Pensum, das sowohl den Pianisten als auch das Publikum vor eine Ausdaueraufgabe stellt, wenn man ihn an einem Abend spielen will. Verteilt man ihn auf zwei Abende, steht man wiederum vor der Frage, was man mit ihm koppeln soll, um seinen Zirkel nicht zu stören.
Igor Levit ist noch jung und dynamisch, hat den Zyklus 2021 für Tonträger aufgenommen und traut sich auch zu, ihn an einem Abend zu spielen (gut, er gehört auch zu den Wahnsinnigen, die Erik Saties „Vexations“ schon mit allen 840 vorgeschriebenen Wiederholungen am Stück gespielt haben). Dass der Große Saal des Gewandhauses an besagtem Samstagabend fast bis zur derzeit erlaubten Kapazitätsgrenze gefüllt ist, spricht dafür, dass auch das Publikum optimistisch ist, was sein Durchhaltevermögen angeht, und die rare Gelegenheit, dieses Werk live zu erleben, nutzen möchte. Levit spielt den Zyklus in originaler Reihenfolge mit einer Pause nach den an zwölfter Position stehenden Präludium und Fuge gis-Moll, was freilich noch nicht die Hälfte der Spielzeit markiert: Falls Schostakowitsch die Werke „der Reihe nach“ geschrieben haben sollte (sie sind dem Quintenzirkel entsprechend angeordnet, jeweils zuerst eins in Dur und dann eins in der parallelen Molltonart), bemerkt man, wie er nach hinten heraus immer sicherer in seinen Mitteln und immer ausladender wird, sich also sozusagen in die Aufgabe „eingefuchst“ hat. Finden sich in der ersten Hälfte noch einige eher knapp gehaltene Miniaturen, so fehlen solche in der zweiten Hälfte fast völlig, und so ist die hintere Hälfte von der Nettospielzeit her deutlich länger als die vordere.
Gestaltungsseitig aber ist Schostakowitsch vom eröffnenden C-Dur-Präludium an voll da, läßt dem Pianisten also keine Aufwärmzeit. Die braucht Levit allerdings auch nicht: Er erweist sich den kolossalen Anforderungen physisch wie psychisch voll gewachsen, wenngleich auch er zwischenzeitlich ein paar Lockerungsübungen einflechten muß, indem er die Arme mal nach hinten dehnt oder mit dem rechten Arm, wenn der gerade nichts zu tun hat, dirigierartige Bewegungen vollführt. Das C-Dur-Werkpaar führt allerdings tatsächlich eher behutsam ins große Ganze ein und fällt nicht mit der Tür ins Haus – beide Teile sind als Moderato gekennzeichnet (einer der wenigen Fälle des Zyklus, wo Präludium und Fuge die gleiche Tempo- bzw. Vortragsbezeichnung tragen), und Levit setzt den suchend-tastenden vorsichtigen Gestus kongenial um, bevor das Geschehen etwas flüssiger wird und die ersten Allegro-Läufe über die Tastatur perlen. Levit weiß die Energie gekonnt zu dosieren, mit Ausnahme einer etwas zu beliebig wirkenden Phase in der Mitte der ersten Hälfte des Zyklus, wo er die große dämpfende Wolldecke ein wenig zu intensiv über dem Geschehen ausrollt. Dafür lauern da ringsherum zahlreiche prächtige Einzelleistungen aller Schattierungen, ob liebliche Romantik ohne doppelten Boden, fast spieluhrartiges Laufwerk oder einige größere Bombastattacken. Wenn dann das gis-Moll-Andante-Präludium fast an eine Bearbeitung von „Macht hoch die Tür“ klingt, das zugehörige Allegro nach einem Hallo-wach-Effekt wildes Gewüte bietet, aber sich bald beruhigt und einen zauberhaft hingetupften Schluß ansetzt, ist man bereits nach Nr. 12 hochzufrieden mit Komponist und Interpret, der dann schon viel Applaus und erste Bravi erntet.
Die Pause kann man dann u.a. nutzen, um über ein weiteres Kuriosum nachzudenken, das sich schon in der ersten Hälfte offenbart und in der zweiten bestätigt: Schostakowitsch war bekanntlich ein Meister der Doppelbödigkeit und zudem ein großer Grübler (letzteres nicht selten erzwungen). Von beidem hört man in diesem Zyklus eher wenig – selbst ein Zirkusmarsch, der in seinem Werk eigentlich immer subtile Funktionen ausübt, kommt hier als „absolute Musik“ daher, was doppelt verwundert, nimmt man noch einmal die eingangs geschilderte schwierige Situation des Komponisten im Jahr 1950 in den Blick. Dass Levit hier etwa irgendwelche Dinge „glattgebügelt“ hätte, braucht man auch nicht erst zu vermuten, denn seine Gestaltungskraft ist auch in den etwas zurückhaltenderen Sätzen ungebrochen, und doppelte Böden hätte es ja auch im Speedtempo geben können. Aber selbst die Adagios atmen hier nicht den Existentialismus vieler langsamer Sätze etwa des Sinfonieschaffens Schostakowitschs – zumindest nimmt Levit sie nicht so. Dass er es könnte, wenn es darauf ankommt, deutet er im es-Moll-Präludium an, wo sich tatsächlich mal so etwas wie ein Abgrund auftut, in den der Komponist den Hörer hier aber nicht zu stürzen gedenkt, zumal die zugehörige Fuge im Allegro non troppo eher fluffig daherkommt. Interessanterweise nutzt Schostakowitsch allerdings überwiegend die linken drei Viertel der Tastatur, in etlichen Sätzen auch feiste Tiefen auffahrend, während das rechte Viertel nahezu komplett unbenutzt bleibt. Das bedeutet nicht, es gäbe keinen leuchtenden Witz in dem Zyklus – das Es-Dur-Präludium oder die auch im zweiten Teil zahlreichen „Kinderszenen“ bilden schlagende Gegenbeweise, etwa wenn im Des-Dur-Teil eine Art Themenmix aus „We Wish You A Merry Christmas“ und „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ erklingt. Und Levit besitzt natürlich auch genügend Können und Gefühl, die nicht seltenen Gestaltungsverweise Schostakowitschs auf Bach, wenn es um den Fugenbau geht, markant herauszustellen, ohne dass es freilich zu plakativ wirkt. Das führt dann nach dem nochmal recht finsteren c-Moll-Präludium zu einer luziden Fuge, der man bei aller Bach-Verehrung aber deutlich anhört, dass seit dem Tod Bachs zwei Jahrhunderte ins Land gezogen sind. Das B-Dur-Präludium an Position 21 sorgt für die letzten Speedläufe des Zyklus und mit seiner Schlußpointe für Heiterkeit im Saal, und über zwei Zwischenstufen wird das d-Moll-Finale erreicht: bombastisches Schreiten mit viel Größe im Andante-Präludium, aber geschickt zurückgeführt, so dass die Moderato-Fuge sich nochmal suchend-tastend entwickeln kann, diesmal aber doppelt fündig wird: mit einem fast sanglichen Thema (davon gibt es nur sehr wenige in diesem Zyklus), mit der Erkundung auch des rechten Tastenviertels, mit viel Energie und einem riesengroßen Schluß, dessen Echo-Pedal die Spannung stehen läßt, bevor lauter Jubel mit zahlreichen Vorhängen und Standing Ovations Levit für eine starke Leistung belohnt. Auf eine Zugabe verzichtet der Pianist aber – erstens wegen der Frage, was man danach denn noch spielen soll, und zweitens, weil er noch ein paar Kräfte fürs nächste gigantische Konzert zwei Tage später aufheben muß.
Roland Ludwig
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