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Zeit: 11.02.2022
Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal
Fotograf: Kati Hilmer
Internet:
http://www.theater-chemnitz.de
Vier musikalische Grenzgänger des 20. und 21. Jahrhunderts hat die Dramaturgiefraktion der Robert-Schumann-Philharmonie im 5. Sinfoniekonzert versammelt, und mit so einer Wahl kann man durchaus zwischen allen Stühlen landen. In Chemnitz passiert das Gegenteil: Der Große Saal der Stadthalle darf im aktuellen Hygienekonzept nur zu einem reichlichen Drittel gefüllt werden, aber die Nachfrage ist zumindest so hoch, dass sie nicht mit den zwei üblichen Abenden gedeckt werden kann, und so wird noch ein dritter hinzugefügt, den dann auch der Rezensent erlebt.
Der Grenzgänger des 21. Jahrhunderts eröffnet den Abend: Wynton Marsalis genießt als Jazztrompeter große Popularität, wildert aber auch im „klassischen“ Sektor und hat es bisher auf drei Sinfonien gebracht, deren dritte, die „Swing Symphony“, der Rezensent anno 2013 mit dem MDR-Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi im Gewandhaus erlebte. Ebendort kam anno 2016 auch das Violin Concerto in D zur deutschen Erstaufführung, allerdings mit dem Gewandhausorchester, das einer der sechs Auftraggeber für dieses Werk war, welches dann 2015 in London aus der Taufe gehoben wurde, als Solistin jeweils mit der Widmungsträgerin, der Halb-Schottin Nicola Benedetti, deren musikalische Herkunft der Komponist im Werk auch einfließen lassen hat. In Chemnitz hören wir nun die hauseigene Konzertmeisterin Heidrun Sandmann als Solistin, die den eröffnenden Rhapsody-Satz ganz bedächtig aus dem Nichts holt und in Tateinheit mit Dirigent Jakob Brenner und wechselnden Mitstreitern aus dem Orchester zunächst ein Feld lieblicher Entrücktheit bestellt, auf dem nur hier und da ein größervolumiges Unkraut gedeiht. Die ersten groovigeren Parts verdichten sich später zu lockerem, eher zurückgenommenem Midtempo-Jazz, der der Solistin nach wie vor die Leitungsrolle überläßt, auch in den wahrscheinlich witzig gemeinten Dialogen zwischen ihr und dem Orchester, das sich u.a. mit Trillerpfeifen „zur Wehr setzt“ und bis zur Kadenz mit sinistren Schostakowitsch-Übersetzungen gegenhält. So geht es durch den Orchesterjazzkosmos, mal lieblich, mal mit breiten düsteren Landschaften, mal mit einem „Inferno light“, mal mit sehnsuchtsvoll in die Ferne blickender Solistin – und die Sehnsucht wird erfüllt, als eine schottische Abordnung akustisch vorbeischaut. Grave Diggers „Rebellion (The Clans Are Marching)“ als Grundbeat, aber mit etwas Swing und einer groovenden Solistin, so kann man sich das vorstellen, und mit dieser interessanten Konstellation klingt der erste Satz aus.
Als Rondo Burlesque ist der zweite Satz determiniert, und man beginnt zu ahnen, dass Marsalis das übliche viersätzige Sinfonieschema ins Solokonzert übertragen haben könnte. Dann wäre das hier das Scherzo, mit Groovewechseln auf kleinem Raum, wobei die Solistin mal gegen den Groove anzuspielen hat und sich mal mit ihm treiben lassen darf. Spielwitz blitzt überall durch, das Tempo liegt gelegentlich recht hoch, aber der große mächtige Groovepart fällt doch am meisten auf, dem ein knapper Schluß hin zur Kadenz folgt. Die bestreitet die Solistin erst allein, dann im Dialog mit einem der Schlagzeuger, und schlußendlich entwickelt sich wieder nordwesteuropäischer Folk, der, wenn Sandmann pizzicato agiert, Anklänge an Led Zeppelins „The Battle Of Evermore“ ins Hirn zaubert.
Der dritte Satz namens Blues hängt attacca an und stellt sozusagen das Adagio dar. Ein paar typische Bluesharmonien schauen in der Tat gelegentlich um die Ecke, und die Solistin agiert leidend über angedüsterten Flächen, wohingegen sich erst allmählich ein ausgeprägter Slowgroove u.a. mit einem Kontrabaß und diversen Holzbläsern herausschält. Gemäß dem Programmheft soll der Satz das Werden und Vergehen einer Zweierbeziehung darstellen, und irgendwann entwickelt sich die Solistin planmäßig tatsächlich zur Xanthippe, wobei die Katastrophe auch hier eher mäßig dramatisch bleibt und man sich in der finalen Einsamkeit programmgemäß langweilt, bis der ruhige Ausklang den Blick vielleicht schon wieder in eine hoffnungsvolle Zukunft lenkt.
Davor gilt es aber noch den vierten Satz namens Hootenanny zu überstehen. Schon in der Swing Symphony warf der Finalsatz nach stimmigem vorherigem Geschehen plötzlich unangenehme Fragen auf, und das gleiche Syndrom zeigt Marsalis auch hier. Die Orchestermusiker stampfen, klatschen und schnipsen, aber der Groove wird dauernd gestört, und auch der Solistin wird keine Führungsrolle zugewiesen – zumindest keine erfolgreiche: Sie spielt Dinge, aber das Orchester antwortet ganz anders. So wird man das Gefühl nicht los, hier einer Parodie beizuwohnen, und die schottischen Marschstiefel schauen auch nochmal vorbei, ohne aber irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Das große Tutti versandet, und der Schluß, als der Orchesterklang langsam erstirbt und die Solistin spielend, aber ebenfalls leiser werdend, die Bühne verläßt und erst aufhört, als sie jenseits der Bühnentür angekommen ist, sorgt für Heiterkeit im Publikum und für losbrechenden Applaus gleich nach dem letzten Geigenton, obwohl der Dirigent noch die Arme oben hat. Der Jubel fällt recht enthusiastisch aus, erstirbt nach dem zweiten Vorhang aber urplötzlich, obwohl das Orchester sich nochmal gesetzt hat. Ist uns da eine Zugabe entgangen?
Die drei Komponisten der zweiten Konzerthälfte wurden alle innerhalb eines Zeitraums von einem Jahrzehnt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geboren, und keiner von ihnen ist älter als 60 geworden. Der Reigen beginnt mit der Ouvertüre zum Musical „Girl Crazy“ von George Gershwin, und da ist wesentlich mehr Linie drin als im ganzen vierten Marsalis-Satz, wobei natürlich die althergebrachten Funktionen der Ouvertüre eines Bühnenwerks auch hier zum Tragen kommen, aber das Stück ebenso bedenkenlos als autarke Konzertmusik funktioniert. Die Robert-Schumann-Philharmonie hat also zunächst flotte Klanglandschaften beträchtlicher Größe aufzurichten, die in klassische Midtempogrooves mit markanten Blechbläsereinsätzen münden, zu denen selbst der Dirigent mal das Tanzbein schwingen läßt. Selbst die große Verharrung atmet noch einen Vorwärtsdrang, bevor Gershwin zum Schluß nochmal die Speedkeule schwingt, aber zugleich einen Megagroove verlangt, den ihm das Orchester an diesem Abend auch liefert. Fein!
Franz Waxman reüssierte als Filmkomponist schon in Deutschland, u.a. mit der Orchestrierung für „Der blaue Engel“, bevor er insgesamt 144 Hollywood-Filme mit Musik versah, darunter „Sunset Boulevard“ von Billy Wilder. Aus letzterer entstand eine fünfteilige, aber durchgespielte Suite um die Erlebnisse der tragischen weiblichen Hauptfigur Norma Desmond, einem ehemaligen Stummfilmstar, der sich in Traumwelten flüchtet und dort letztlich einen Mord begeht. In diesem Fall hilft wahrscheinlich die Kenntnis des Films maßgeblich bei der Einordnung der Musik, die ohne selbige auch anhand der Satztitel eher schwierig zu erschließen ist und als autarkes Konzertstück nur bedingt funktioniert. Der strukturelle Abstieg korrespondiert aber auch mit dem Schicksal der Hauptfigur – das große eröffnende Pathos verschwindet bald und macht einem unkoordinierten Mix aus orientierungs- und harmlosem Speed sowie diversen anderen Psychosen Platz. Richtig starke, auch autark funktionierende Momente gelingen im verzweifelt-entrückten Charakterstück, das auch den Dramatikfaktor nach oben schraubt und in Abgründe blicken läßt, bevor ein knapper Bombastschluß das kurze Werk beendet und für eher verwirrten Applaus sorgt.
Erich Wolfgang Korngold hätte eine große Karriere als „klassischer“ Komponist vor sich haben können, wenn nicht die Nationalsozialisten dieser einen Riegel vorgeschoben hätten und er als Jude gleichfalls auswandern mußte, in Hollywood zum profilierten Filmkomponisten wurde, was freilich der Rezeption seines „ernsten“ Frühwerks nicht günstig war. Das stört beim Lauschen seiner Filmmusik natürlich nicht – wir hören an diesem Abend die Symphonic Suite aus dem 1938er Film „The Adventures Of Robin Hood“ von Michael Curtiz, einen Dreisätzer, der kurioserweise dem klassischen Schema des Solokonzerts folgt, also demjenigen, das es bei Marsalis nicht zu hören gab. Freilich hilft auch hier die Kenntnis des Films bei der Einordnung der Musik – zwar ist die Story in Grundzügen sicher jedem geläufig, aber die konkrete Ausprägung verlangt dann doch nach Differenzierung, die es bei Korngold und damit wahrscheinlich auch im Film nicht in diesem Maße gibt. Einem Fanfarenthema, als stünde Richard Löwenherz vor einem, folgt im ersten Satz „Robin Hood and his merry men“ ein tatsächlich zumindest phasenweise fröhlich-witziges Geschehen, das komplett ausblendet, dass wir es hier mit Armen und Gesetzlosen zu tun haben. Das Tempo bleibt oft eher mäßig, aber Brenner bekommt trotzdem den Auftrag, Vorwärtsdrang hervorzurufen, und diesen Auftrag erfüllt er mit gleicher Meisterschaft wie alle anderen, die an diesem Abend auf ihn warteten oder noch warten. Man ertappt sich jedenfalls nicht selten beim Mitwippen auf dem Sitz, stört sich nicht am romantisierenden Bild, und einige brechen nach dem kurz-knackigen Schluß spontan in Applaus aus, weil die Suite im Gegensatz zu der Waxmans nicht attacca durchgeht.
Die „Love Scene“ muß naturgemäß sehr pastoral klingen und tut das auch, jedoch hält Brenner die Gefühle noch soweit unter Kontrolle, dass man auch als gerade nicht frisch Verliebter das noch ertragen kann. Einige Gänsehautmomente gibt es trotzdem bzw. gerade deshalb, aber Brenner läßt die ersten Violinen und den Saxer bedarfsweise auch mehr Tempo machen, packt die große Geste aus und zaubert einen hübschen Schluß unters Blätterdach des Sherwood Forest.
„The Fight, Victory and Epilogue“ heißt der Finalsatz, und auch der relativiert das Geschehen zumindest eine gewisse Zeit. Wildes Getümmel mit gelegentlichen Nahkampfszenen tobt, gelegentlich mit Feuer aus unerwarteten Richtungen, bevor eine staatstragende Siegesdarstellung folgt und man sich fragt, ob denn im Kampf gar niemand gefallen ist, ähnlich wie beim A-Team, wo trotz wildester Kämpfe auch nie jemand ernstlich zu Schaden kommt. Curtiz und Korngold müssen diese Frage geahnt haben, denn plötzlich kommt es doch zur Trauer um die Gefallenen (oder einem anders determinierten Innehalten), bevor noch ein kurzer staatstragender Schluß anhängt, diesmal ganz groß mit Glocken und allem Drum und Dran – Korngold versteht sein Handwerk natürlich aus dem sprichwörtlichen Effeff. Das verfehlt seine Wirkung auch an diesem Abend in Chemnitz nicht – der Jubel ist groß und auch verdient.
Roland Ludwig
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