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Artikel

Julian Barnes versucht mit einen Roman über Schostakowitsch Lücken zu schliessen

Info

Autor: Julian Barnes

Titel: Der Lärm der Zeit

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

ISBN: 978-3-462-04888-9

Preis: € 20

245 Seiten

Als eines der größten Verbrechen der Stalin-Zeit hatte Dmitri Schostakowitsch den Fakt bezeichnet, dass diese Zeit den Sowjetbürgern ihr Gedächtnis geraubt hat, und zwar sowohl das mentale als auch vor allem dessen physische Stützen: Nicht nur, aber gerade in der Zeit der sogenannten Großen Säuberung in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre war es äußerst gefährlich, z.B. Bilder zu besitzen, auf denen eine Gruppe von Menschen abgebildet war – fiel einer der Abgebildeten der Säuberung zum Opfer, stieg automatisch auch die Gefahr für alle anderen Abgebildeten sowie für den Besitzer des Bildes selbst. So vernichtete eine ganze Generation von Sowjetbürgern ihre eigenen familiären Archive, ihren Schriftwechsel und die Zeugnisse ihrer Vergangenheit, um diesbezüglich wenigstens ein bißchen weniger angreifbar zu sein, wenn der Wind aus einer ungünstigen Richtung zu wehen begann. Schostakowitsch hatte selbst massiv unter dieser Entwicklung zu leiden, und noch heute ist nicht mit restloser Sicherheit zu erklären, warum Stalin den massiv gemaßregelten Komponisten, der sich selbst 1937 praktisch sicher war, dass seine Lebensspanne nur noch eine kurze sein würde, letztlich doch am Leben ließ – vermutlich spielten etliche Faktoren zusammen, und Solomon Wolkow liefert in seinem lesenswerten Buch „Stalin und Schostakowitsch“ eine ausführliche Analyse dieses Phänomens, ohne aber finale Klarheit schaffen zu können.
Die Vernichtung von mannigfachen Zeugnissen aus einer ganzen Kulturperiode (der Zweite Weltkrieg tat ja noch sein Übriges dazu) macht es dem Historiker äußerst schwer, die Biographie von Dmitri Schostakowitsch anhand von Quellenmaterial zu zeichnen, obwohl die Lage bei diesem immens vernetzten und populären Mann sicherlich noch besser ist als bei Kulturschaffenden der zweiten oder dritten Reihe. So führte dieser Mangel an Quellenmaterial in Verbindung mit der vielen westlichen Historikern völlig unbekannten Tatsache, wie in der Sowjetunion offizielle Statements oft zustandekamen (nicht nur wurden Schostakowitschs offizielle Reden im Regelfall von anderen Personen geschrieben und mit dem Komponisten weder inhaltlich noch sprachlich abgestimmt, sondern es erschienen z.B. in den Zeitungen auch diverse Verlautbarungen unter seinem Namen, mit deren Zustandekommen er nicht das Geringste zu tun hatte), zu einem verzerrten Bild des Musikers im Westen – man nahm das, was er sagte bzw. unterzeichnet hatte, für bare Münze, ohne weiter nachzuforschen. Von daher waren die von Wolkow herausgegebenen Memoiren Schostakowitschs, für die ihm dieser im Vertrauen auf eine posthume Veröffentlichung im Westen umfangreiche Erinnerungen geliefert hatte, eine mittelschwere Sensation, und nachdem die sowjetische Seite naturgemäß ihre Echtheit bestritten hatte, hat sich seit 1990 die Erkenntnis durchgesetzt, dass zumindest das Gros der Schilderungen tatsächlich Authentizität für sich beanspruchen kann. Jüngere Biographien wie die von Elizabeth Wilson konnten somit von einer veränderten Sachlage ausgehen und zudem einige doch erhalten gebliebene und in postsowjetischer Zeit herausgegebene Quellen wie die Briefe Schostakowitschs an den Dichter und Theaterkritiker Isaak Glikman heranziehen, was ein völlig anderes Bild als das des linientreuen Staatskomponisten zu zeichnen half – und plötzlich ergaben sich beim Hören der Werke Schostakowitschs ganz neue Deutungsaspekte, die man, wenn man nicht in einer Diktatur gelebt hatte, wo man gelernt hatte, „zwischen den Noten zu hören“, bisher so nicht wahrgenommen hatte.
Trotzdem bleiben in der Biographie Schostakowitschs immense Lücken, gerade was seine Gedanken- und Gefühlswelt angeht, die man zwar anhand der Werke und diverser Quellen ansatzweise, aber eben nicht sonderlich tiefgründig nachvollziehen kann. Das ist das Feld, wo anstelle des Musikhistorikers der Romanautor ins Spiel kommt und versuchen kann, diese Lücken zu schließen. Julian Barnes macht in „Der Lärm der Zeit“ genau das zu seinem Anliegen, und obwohl man einen Moment lang ins Zweifeln geraten könnte, ob ein 1946 geborener Brite dazu in der Lage wäre, sich in einen Sowjetbürger vom Schlage Schostakowitschs, der quasi von einem Problem zum nächsten stolperte, hineinzuversetzen, so kann man nach der Lektüre der 245 Seiten dem Autor doch einen durchaus gelungenen Versuch attestieren, zumindest nach Dafürhalten des Rezensenten, der noch knapp anderthalb Jahrzehnte Eigenkenntnis des real existierenden DDR-Sozialismus ins Feld führen kann, was natürlich nicht mit den Zeiten der Sowjetunion der zweiten Hälfte der 1930er zu vergleichen war, aber durchaus einiges mit den späteren Sowjetzeiten gemein hatte. Um jeden Winkel der russischen Seele auszuleuchten, muß man zwar vermutlich selber Russe sein, aber Barnes nähert sich dieser Aufgabe zumindest gekonnt an und hinterläßt den Eindruck, dass er sein Sujet wenigstens grundlegend verstanden hat. Klar, auch ein Russe hat Sex und konsumiert Genußmittel, auch er hängt am Leben und versucht beruflich irgendwie vorwärtszukommen – die spannende Frage ist immer die Einbettung ins große Ganze, und die gelingt dem Autor durchaus nachvollziehbar. Er gliedert das Buch in drei große Komplexe, die er mit drei Verkehrsmitteln verknüpft, von deren Situationen aus er dann jeweils das Geschehen in den beiden möglichen zeitlichen Richtungen betrachtet. Der Zug (auf der Linie Moskau-Kuibyschew – in letztere Stadt war Schostakowitsch während des Zweiten Weltkrieges aus Leningrad evakuiert worden) beinhaltet im zugehörigen Kapitel die dramatischsten Geschehnisse, also die nach dem Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“, nach dem das Leben des Komponisten am seidenen Faden hing, beschränkt sich aber nicht auf diese Periode, sondern geht in der Tat bis vor seine Geburt zurück, wobei allerdings diverse Zeitebenen verschränkt werden und man sich idealerweise schon ganz gut in der Biographie Schostakowitschs auskennen sollte, um hier den roten Faden behalten zu können. Komplex 2 ist das Flugzeug, das Schostakowitsch 1949 zu seinem ersten USA-Besuch (und wieder zurück) brachte – hierzu gehören hauptsächlich die späten Stalin-Jahre. Komplex 3 schließlich ist um ein Auto gewoben, das den Vorsitzenden des Komponistenverbandes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (ein Amt, um das sich Schostakowitsch gerne gedrückt hätte) hierhin und dorthin brachte. Im Gegensatz zu Sergej Prokofjew brachte es Schostakowitsch fertig, nicht am gleichen Tag zu sterben wie ein Staatsführer, so dass seinem Ableben die angemessene Würdigung zuteilwurde. Anekdote am Rande: Unter den zahlreichen Kränzen war auch einer des KGB, der dem Komponisten zuvor das Leben so manches Mal sauer gemacht hatte.
Diese Anekdote gibt es hier im Buch nicht zu lesen, wohl aber zahlreiche andere – und darin liegt ein Grundproblem für den Leser: Es genügt nicht, „Der Lärm der Zeit“ zu lesen. Man muß auch die beiden Hauptquellen Barnes’, nämlich die erwähnten von Wolkow herausgegebenen Memoiren und die Biographie Wilsons, studieren, um festzustellen, ob die Anekdoten wahr sind (also in einem der beiden Bücher aufscheinen) oder der Phantasie des Autors entspringen und nur dramaturgische Mittel sind. In den meisten Fällen wird wohl ersteres zutreffen, aber zweiteres wäre nicht per se auszuschließen, zumal der Rezensent die Memoiren besitzt (und daher beim Lesen so manches Deja-vu erlebte), die Wilson-Biographie aber nicht. Manche Anekdoten wiederum kursieren in unterschiedlichen Fassungen, womit wir wieder am Ausgangspunkt der Abhandlung angekommen sind: Die Quellenlage ist dürftig bis widersprüchlich. Das tut der Lesefreude keinen Abbruch – und eine anfängliche Eigenart des Buches, nämlich der Umstand, dass es sehr zerrissen wirkt, indem nach zwei, drei Sätzen schon ein Absatz mit Leerzeile kommt, stellt sich bald als storyimmanent heraus, weil es in diesen Passagen um die extreme Druckphase auf den Komponisten anno 1937 geht, als er zu zerbrechen drohte und quasi jede Nacht mit seiner Verhaftung rechnete. In anderen Teilen des Buches geht es deutlich flüssiger zu, die Absätze sind länger, und ein Gedanke wird auch mal fortgesponnen und zu Ende gedacht. Barnes schreibt flüssig und doch nicht banal – zumindest gewinnt man diesen Eindruck anhand der Übersetzung Gertraude Kruegers, die schon andere Bücher des Autors übersetzt hat, also mit seinem Stil vertraut ist (und u.a. auch schon Monty-Python-Sketche übersetzt hat, also auch mit britischem Humor klarkommt, was in diesem Buch einen kleinen Widerhall findet, wenn es in der Nachbetrachtung um Tichon Chrennikow geht, der quasi eine moderne Version von Joseph Fouché darstellt). So entspinnt sich ein lesenswertes Kaleidoskop von Schostakowitschs Leben, das als Ergänzung zu einer regulären Biographie gut brauchbar ist.

Roland Ludwig


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