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Artikel

Die Ikonen des Gothic Metal: David E. Gehlke beleuchtet in No Celebration die Bandgeschichte von Paradise Lost

Info

Autor: David E. Gehlke

Titel: No Celebration – Die offizielle Biografie von Paradise Lost

Verlag: Index Verlag

ISBN: 978-3-936878-36-3

Preis: € 24,95

348 Seiten

Internet:
de.index-verlag.spkr.media

Anno 1991, mit Beginn der 10. Klasse, wechselte der Damals-Noch-Nicht-Rezensent aufs Gymnasium (man erinnere sich, dass die Erweiterte Oberschule zumindest in der Spätphase der DDR nur die Klassenstufen 11 und 12 umfaßte und ein Gymnasium nach heutigem Vorbild ab Klasse 5 erst nach der Wende eingerichtet wurde), und es stellte sich heraus, dass er dort in den drei Klassen seiner Altersstufe der einzige war, der sich für traditionellen Metal begeisterte: Es gab einige weitere Metaller, allerdings lagen deren Interessen überwiegend im extremeren Bereich. Einige von ihnen hörten indes auch düster-doomigere Bands, und da der Noch-Nicht-Rezensent über Black Sabbath, Candlemass und Winter gleichfalls Gefallen an solcher Art Klangerzeugung gefunden hatte, ergaben sich dann doch einige Berührungspunkte, und so lernte der Noch-Nicht-Rezensent etliche interessante Bands kennen, etwa Tiamat, Torchure, Anathema oder eben auch Paradise Lost. Von letztgenannten war der Viertling Icon die erste Scheibe, die er zu Ohren bekam, und auf selbiger hatte die Band ihren Sound zu einer Art düsterer Version von Metallica weiterentwickelt, was dem Noch-Nicht-Rezensenten durchaus gut reinlief, auch wenn er festhielt, dass die scheibeninterne Dynamik vielleicht noch ein wenig vielfältiger hätte gestaltet werden können, anstatt nur immer einen schleppenden und einen nicht so schleppenden Song abzuwechseln. Diesem Wunsch kamen Paradise Lost dann mit dem Folgewerk Draconian Times nach, subtrahierten aber gleichzeitig wieder einen Deut metallische Härte, was sie auf One Second dann fortführten. Letztgenanntes Werk bildete für lange Zeit das letzte, das aus den hiesigen Boxen schallte – die Beschreibungen zu Host lasen sich für den Geschmack des Mittlerweile-Rezensenten, dessen Neigung zu elektronischer Klangerzeugung schon damals wenig ausgeprägt war, zu uninteressant, und auch in der Folgezeit verirrten sich eher zufällig mal dann und wann Paradise-Lost-Scheiben in den hiesigen Bestand, einige liegen auch bis heute noch auf dem großen Stapel der Ungehörten, und so kennt der Rezensent von den mittlerweile sechzehn regulären Studiowerken bisher nicht mal die Hälfte und muß sich bezüglich der Einschätzungen zu vielen daher auf externe Quellen verlassen. Eine Überraschung erlebte er allerdings 2007, als er mit einem ehemaligen Mitabiturienten in dessen Auto auf ein Konzert fuhr und sich wunderte, dass Amorphis wieder deutlich in Richtung ihrer Wurzeln gegangen wären – das, was da aus dem Autoradio kam, war allerdings gar keine Amorphis-Platte, sondern Paradise Losts In Requiem, freilich auch ein Werk, mit dem die Band wieder einen großen Schritt in Richtung des Stils machte, aus dem sie einstmals gekommen war.
Als sich Paradise Lost anno 1988 gründeten, tobte im Metal noch die Härter-und-schneller-Welle – doomigen Sounds widmeten sich nur einige Spezialisten. Für die Revitalisierung des Black-Sabbath-Sounds hatten in den frühen Achtzigern drei Bands drei verschiedene stilistische Spuren gelegt: Pentagram als konsequent zu den Siebzigern rückwärtsgewandt, Saint Vitus mit einem gewissen Punk-Einschlag und Candlemass in Richtung des Epic Doom. Kombinationen aus langsamem Tempo und härteren Sounds dagegen kamen erst in der zweiten Hälfte der Achtziger auf, wofür Celtic Frost, Dream Death oder auch Autopsy Anstöße gaben. Unter solchem Einfluß formierten sich im nordenglischen Halifax dann auch Paradise Lost, wobei die Tatsache, dass sie überwiegend langsame Tempi wählten, auf einem puren Zufall beruhte: Drummer Matthew Archer war Diabetiker und besaß schlicht und einfach nicht die nötige Kondition für minutenlanges Hochgeschwindigkeitsgeschepper. So machte die Band aus der Not eine Tugend, und was die staunende Welt alsbald auf diversen Demos und dem 1990er Debütalbum Lost Paradise zu hören bekam, war die Erfindung des Doom Deaths, parallel zu den bereits erwähnten Winter, die ihren Sound allerdings auf purem Nihilismus gründeten und mit partiellem Hardcore-Background garnierten, während es sich bei Paradise Lost um Dunkelromantiker handelte, die sich der Schönheit der wenn auch mollgefärbten Melodie nur allzugerne hingaben, auf den Folgealben schrittweise immer stärker und schon auf dem Zweitling Gothic so stark, dass die dankbare Menschheit den Winter-Sound weiter als Doom Death bezeichnete (und ihn musikgeschichtlich als Vorläufer des Funeral Doom Metals betrachtete), den Paradise-Lost-Sound aber Gothic Metal taufte, der alsbald große Popularität gewann, zunächst in der unmittelbaren Umgebung der Bandheimat (My Dying Bride kamen gar aus der gleichen Region, der Anathema-Vorläufer Pagan Angel war im nicht weit entfernten Liverpool beheimatet), schnell aber auch in der ganzen Welt und in den verschiedensten Ausprägungen, wobei die Originatoren es schafften, über ein Jahrzehnt hinweg der „Konkurrenz“ immer eine Nasenlänge voraus zu bleiben und bis zu ihrem siebenten Album immer neue Entwicklungen anzustoßen, auch wenn sie sich damit immer weiter von ihren Wurzeln entfernten, was dann in Host, einer weitgehenden Elektro-Platte, mündete, bevor die Band eine Kehrtwendung vollzog, quasi in ihren eigenen Spuren rückwärts ging (mit dem einen oder anderen Sidestep) und mit Medusa, Album Nummer 15, wieder im historischen Doom Death ankam, den sie einst miterfunden hatte. Interessant an dieser mittlerweile 30 Jahre umspannenden Laufbahn sind dabei zwei Dinge: Zum einen spielen 2020 vier der fünf Gründer von 1988 immer noch mit, und alle vier waren durchgehend Mitglieder der Band, keiner hatte diese zwischenzeitlich verlassen – ein äußerst seltenes Phänomen in der heutigen schnellebigen Zeit und doppelt selten angesichts der stilistischen Bocksprünge, die Paradise Lost zwischenzeitlich vollzogen. Einzig die Drummerposition wurde mehrfach neu besetzt:


Der bereits erwähnte Matthew Archer räumte nach Icon seinen Platz, weil er an spielerische Grenzen stieß, und nach ihm kamen Lee Morris, Jeff Singer, Adrian Erlandsson und Waltteri Väyrynen, welchletzterer halb so alt ist wie die anderen Mitglieder, aber trotzdem gut zu ihnen zu passen scheint. Zum anderen hielten sich die Musiker von Paradise Lost lange Zeit weitestgehend exklusiv zu ihrer Band, keiner startete irgendwelche Seitenprojekte – das änderte sich erst im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, als Gitarrist/Alleinkomponist Greg Mackintosh das Projekt Vallenfyre gründete, um den Verlust seines Vaters zu verarbeiten, und dieses Projekt gab ihm genauso die Freude am Death Metal zurück wie Sänger Nick Holmes seine einige Jahre später eingegangene Nebenverpflichtung als Sänger von Bloodbath, so dass beide Nebenbands (Vallenfyre sind mittlerweile aufgelöst und durch ein neues Projekt namens Strigoi ersetzt) indirekt auch auf die Hauptband rückwirkten.

All das arbeitet der amerikanische Musikjournalist David E. Gehlke (der seinerzeit mit One Second zum Fanlager der Band stieß) in der offiziellen Bandbiographie No Celebration, die zunächst im englischen Original erschien und nun auch in der deutschen Übersetzung von Andreas Schiffmann vorliegt, quasi minutiös auf. Der offenbar detailversessene, aber sich trotzdem nicht in Unwichtigem verlaufende Autor führte im Wochentakt Telefoninterviews nicht nur mit den Bandmitgliedern, sondern auch mit zahlreichen Personen ihres Umfeldes – Labelmitarbeiter, Produzenten, Weggefährten aus anderen Bands undundund. Für die Aufarbeitung bekam er offensichtlich Unterstützung von Albert Mudrian, der im Impressum unter „Redaktion“ genannt ist. Einer kurzen Einleitung aus Gehlkes Feder und einem Vorwort von Karl Willets, langjähriger Bolt-Thrower-Sänger und ebenso langjähriger Weggefährte Paradise Losts, folgen die eigentlichen Hauptkapitel, die chronologisch sortiert und – das bietet sich bei einer relativ geradlinigen Karriere ja förmlich an – nach den Studioalben gegliedert sind, mit wenigen „Übergriffen“ an den jeweiligen Enden, wo das strukturell nutzbringend erschien. Nahezu alle Kapitel, die im Inhaltsverzeichnis kurioserweise übrigens nicht mit ihren eigentlichen, hinten dann auch als Kolumnentitel verwendeten Titeln, sondern nur mit den zugehörigen Alben angegeben wurden, sind zudem so gut wie gleich lang und umfassen jeweils 18 bis 22 Seiten – entscheidend kürzer ist nur Kapitel 14, das sich nicht mit einem Studioalbum, sondern mit den erwähnten Seitenprojekten Mackintoshs, allen voran Vallenfyre (über die Väyrynen in diesen Dunstkreis fand – kurioserweise war seine Mutter schon in den 1990ern Paradise-Lost-Anhängerin), beschäftigt, während Bloodbath im Rahmen der anderen Kapitel abgehandelt werden. Damit wären wir summiert bei 16 Kapiteln (die Behandlung der Studioalben endet naturgemäß mit dem in der Werkchronologie an Position 15 stehenden Medusa, da das brandneue Werk Obsidian erst nach dem Buch erschien), es sind real aber 17 – das allererste befaßt sich mit den Ursprüngen und der Demophase der Band. Alle Cover der regulären Alben sowie der Demos werden abgebildet, hinzu kommt weiteres Bildmaterial verschiedenster Art – sowohl bekanntes wie die offiziellen Promofotos zu den Alben als auch Raritäten wie die Eintrittskarte zu Paradise Losts allererstem Gig am 23.6.1988, interessanterweise mit zwei Thrashbands, nämlich Re-Animator und als Headliner Acid Reign. Klarer Fall: Stilkollegen, mit denen man hätte spielen können, waren praktisch nicht greifbar ... Das Buch endet mit dem Gig zum 30jährigen Bandjubiläum anno 2018 – ein Kuriosum sondergleichen: Andere Bands hätten eine riesige Jubiläumsshow organisiert, Paradise Lost hingegen entschieden sich, zum ersten Mal in ihrer Karriere überhaupt in ihrer Quasi-Heimatstadt Halifax zu spielen, in einem winzigen Club mit 150 Personen Fassungsvermögen. Auf so eine Idee muß man auch erstmal kommen.
Gehlkes Aufarbeitung des Materials mutet durchaus nachvollziehbar an, und er hat hier und da auch durchaus Widersprüche zwischen einzelnen Statements belassen. Da es sich um eine offizielle Biographie handelt, ist selbstredend nicht mit investigativer Kritik zu rechnen, aber derer bedarf es in diesem Kontext auch nicht, und allein wie die Band und die Außenstehenden die strukturell schwierige Phase ab Host sehen, wirft ein Licht auf die Ehrlichkeit, mit der hier grundsätzlich zu Werke gegangen wird (die auf S. 169 zu lesende Einschätzung, Mackintosh habe das stilistisch völlig abseitige Host geschrieben, um die Band von innen heraus zu zerstören, weil er mit der Erwartungshaltung von außen nicht mehr klargekommen sei, wäre in wohl jeder anderen offiziellen Bandbiographie nie und nimmer offen geäußert worden). Die Übersetzung Schiffmanns läßt sich einerseits gut lesen und ist andererseits tiefgründig genug, um das Interesse nicht gleich nach drei Seiten wieder ermüden zu lassen – nur die Fehlerdichte in Orthographie, Formatierung etc. liegt summiert etwas zu hoch. Größtes Problem: Das Lektorat hat es nicht geschafft, sich beim Nachnamen des Bassisten der Band auf eine Schreibweise zu einigen ... In der Gesamtschau liegt dennoch ein hochgradig lesenswertes Werk mit interessanten Einblicken in das Denken und Schaffen einer stilprägenden Metalband vor, das zugleich einen angenehmen Nebeneffekt besitzt: Man bekommt Lust, mal wieder das eine oder andere Werk Paradise Losts zu hören, und so hatte auch der Rezensent justament an dem Tag, an dem er den Feinschliff dieser Rezension abschloß, nach langer Zeit mal wieder Icon und Draconian Times im Player.

Roland Ludwig


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