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Info
Zeit: 20.10.2019
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Annegret Luft
Internet:
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„Poetische Sinfonik“ hat das diesmal noch durch Mitglieder des Singapore National Youth Orchestra verstärkte Landesjugendorchester Sachsen sein 2019er Herbstprogramm überschrieben, was genügend Interpretationsspielraum offenläßt. Robert Schumann jedenfalls war Poet durch und durch, und dass sein Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54 für seine Frau Clara gedacht war und die immer mal lose schlingernden Bande zwischen den beiden fester zu knüpfen trachtete, erscheint mehr als logisch. Das Allegro affettuoso eröffnet mit erstaunlich tristem Tonfall, und Pianist Kilian Scholla agiert in den Tiefen zunächst wenig markant, in den Höhen aber schon. Dirigent Milko Kersten und der Solist arbeiten sehr intensiv miteinander, was vermutlich auch durch die Personalkonstellation bedingt ist – das Konzertprogramm wird zweimal aufgeführt, aber am vorigen Abend in Dresden saß eine andere Pianistin am Klavier, so dass die Probenzeiten vermutlich aufgeteilt werden mußten. Aber zumindest in Leipzig hat das keine negativen Auswirkungen aufs Ergebnis: Die beiden wissen, was sie tun, und wie der Dirigent in diesem Satz den „Zug zum Tor“ eher unterschwellig entwickelt, das besitzt schon Charme, auch wenn das erste Tutti zwar energiereich, aber noch etwas zu undeutlich rüberkommt. Dafür entschädigen teils traumhafte Klarinettenparts in den ruhigen Passagen, und Kersten läßt den Satz insgesamt eher fließen und setzt nur sehr gezielt auf Kontrastwirkungen als Gestaltungsmittel. Scholla legt in die Kadenz eine Art psychotischen Faktor, der schon auf Schumanns späteren Zustand verweist, und er entwickelt einiges an Spannung, auch wenn der Satzschluß eher unprätentiös daherkommt.
Dem Andantino grazioso hat Schumann noch den Terminus Intermezzo vorgeschaltet. Der Versuch, hier Ruhe reinzubekommen, scheitert an diesem Abend allerdings – das Orchester hebt den Verspieltheitsfaktor in die Höhe, und die Aufgabe, nach den Klavierpassagen immer wieder Entspannung zu suggerieren, ist keine leichte und bleibt auf Dauer ungelöst, jedenfalls bis kurz vor Satzende: Wie die Violinen ein ersterbendes Gestreichel inszenieren, das ist nun wieder richtig große Kunst.
Im Allegro vivace nimmt Kersten das Orchesterthema erstaunlich weit zurück – er will offenbar den Pianisten stärker in den Vordergrund stellen. Der nimmt das dankbar an, und der Tempozug wird auch maßgeblich von ihm befeuert. Es entspinnt sich ein gut geordnetes Miteinander, und Kersten legt trotz übersichtlicher Amplitude ein gekonntes Tempomanagement vor und schafft es zudem, die Tutti so transparent zu gestalten, dass der Pianist immer noch hörbar bleibt. Zwar muß das Blech hier und da mal seine Leistungsgrenzen erkennen, vor allem die Hörner, und die Trompete agiert im Satzfinale etwas überscharf, aber das fällt angesichts einer guten Gesamtleistung nicht übermäßig ins Gewicht, und so ertönen Bravorufe gleich nach dem Schlußton, für die sich der Pianist noch mit einer düster-grüblerischen, oft in der Nähe des Stillstandes agierenden Zugabe bedankt: der „Sehr langsam“ überschriebenen Nr. 4 aus den Kreisleriana op. 16 von, natürlich, Robert Schumann.
Danach geschieht Ungewöhnliches, und das gleich in doppeltem Sinne. Zum einen folgt auf ein Solokonzert gleich noch ein zweites, auch wenn dieses offiziell als Konzertsuite firmiert, und zwar – das ist der zweite ungewöhnliche Faktor – in der Besetzung für Ud, Streichorchester und Pauken. Die Ud ist eine orientalische Kurzhalslaute mittlerer Größe, die auf dem rechten Knie des Spielers aufliegt, und dieser, der aus Syrien stammende, aber schon geraume Zeit in Deutschland lebende Thabet Azzawi, sitzt im Gewandhaus direkt vor der Konzertmeisterin, so dass zumindest diese beiden sich im Zusammenspiel sozusagen blind verstehen müssen. „Ein West-östlicher Diwan“ heißt, natürlich in Anspielung auf Goethe, Thorsten Schmidt-Kapfenburgs achtteilige Konzertsuite aus sechs Sätzen und zwei Zwischenspielen, die allerdings nahezu alle direkt ineinander übergehen, so dass man beim Ersthören hier und da über ein paar Zuordnungsschwierigkeiten stolpert. Interessanterweise läßt sich das Skalensystem der Ud nicht in die gängigen europäischen Systeme eingliedern, und somit wird die Herausforderung der Integration zu einer nicht gerade kleinen, die der in Münster ansässige Komponist dadurch löst, dass er Themen der türkischen Musik (freilich nicht nur aus der Türkei, sondern auch mit Sujets von anderen turksprachigen Nationen) hernimmt, auf die die Ud paßt, und das Streichorchester darauf abstimmt, während Tim Niklas Rumpelt an den Pauken von vornherein keine Eingliederungsprobleme hat. Böse Zungen aus unliebsamen politischen Richtungen könnten jetzt daherkommen und diese Herangehensweise als Kapitulation vor der „Umvolkung“ deklarieren – man kann es aber auch positiv sehen: Von anderen kulturell zu lernen hat noch selten geschadet, und das trifft auch auf die westeuropäisch geprägte Musik zu, die im türkischen Tonsystem eine Menge zu entdecken hat, auch wenn sich manches eben schwer oder gar nicht kombinieren läßt. Schmidt-Kapfenburg schafft jedenfalls ein rundum gelungenes Ergebnis – dass er Theaterkapellmeister ist, hört man gleich in der Einleitung, die wie ein klassischer Abenteuerfilm-Soundtrack anhebt, und generell wird man hier und da das Gefühl nicht los, dass diese oder jene Passage auch Hans Zimmer hätte schreiben können. Die Ud klingt für das europäische Ohr zwar etwas, aber nicht zu exotisch, so dass der Gewöhnungseffekt schnell eintritt. Der Komponist schichtet einiges blockweise aneinander und umgeht dabei so manches Problem, die Ud gegen das Streichorchester setzen und zudem hörbar gestalten zu müssen – so laut ist so ein Instrument nun mal nicht, obwohl es sich um eine Laute handelt. Aber wo Kersten vor der Aufgabe steht, ein Miteinander gestalten zu müssen, da schafft er das nach einer gewissen Anlaufzeit auch, alle Beteiligten hörbar zu machen. Fast konventionell anmutende Tanzpassagen stehen einträchtig neben finsterster Kammermusik der Kontrabässe, auch der Pauker wird solistisch gefordert (inclusive Stick-Effekte), und der Ud-Orchester-Oriental-Unisono-Speed im letzten Satz, einem Hochzeitstanz, gehört zu den eindringlichsten und begeisterndsten Momenten in diesem Stück. Die Ud bekommt noch, wie es sich für ein Soloinstrument gehört, eine Kadenz, und nach weiteren flotten Passagen folgt ein etwas plötzliches Ende des Stückes, das sehr viel Beifall erhält, so dass auch Azzawi noch eine Zugabe spielt, eine Eigenkomposition namens „28 Is The New 15“ mit überraschender Schlußwendung.
Nach der Pause geht es zumindest in puncto Programmstrukturierung im Normalmodus weiter, nämlich mit einer Sinfonie – aber einer ungewöhnlichen: Anton Bruckners sogenannte Nullte Sinfonie d-Moll WAB 100. Die Null bezieht sich nicht darauf, dass das Werk etwa zeitlich vor der Ersten komponiert worden wäre – es steht chronologisch vielmehr zwischen der Ersten und der Zweiten, wurde vom Komponisten allerdings zurückgezogen, auf dem Titelblatt als ungültig gekennzeichnet und mit einer Null versehen, was spätere Forschergenerationen prompt als Chronologiehinweis mißverstanden und erst mit genaueren Nachforschungen aufgeklärt werden konnte. Obwohl also der Komponist selbst das dreiviertelstündige Werk nicht in den offiziellen Kanon seiner Sinfonien aufgenommen wissen wollte, wird es gelegentlich aufgeführt wie auch die sogenannte Studiensinfonie, die ihrerseits nun wirklich vor der Ersten entstanden ist.
Das eröffnende Allegro atmet in den schreitenden Teilen viel Eleganz, wie man sie Bruckner bisweilen gar nicht zutraut, aber schnell wird auch ein Problem deutlich, das sich durch den ganzen Satz zieht: Speziell die Trompeten geben viel, und das ist oft zuviel und sorgt bisweilen für zu grelle Klangbilder, auch wenn die Hörner mit einem schönen Choral einiges wieder rausholen können und auch die Streicherteppiche mit einzeln schwebenden Holzpassagen sehr überzeugen. Kersten nimmt die Steigerungskurve eher unprätentiös, läßt unterschwellig aber eine ganze Menge Tempo entwickeln und erreicht das Klangmaximum hier schon in der Hinführung zum Satzschluß, der einen ungewollten schrägen Paukennachklang verkraften muß und das auch tut.
Der langsame Satz ist hier noch kein Adagio wie in den späteren Bruckner-Sinfoniekolossen, sondern „nur“ ein Andante. Kersten bringt viel Ruhe in die Streicherflächen, aber die Holzsoli blasen etwaige Trübsal schnell weg, und trotz geringer Lautstärke verfällt das Orchester doch nicht ins Schleppen, sondern agiert bedarfsweise durchaus drangvoll. Bisweilen wird der Hörer von betörend schönen Klängen gestreichelt, etwa die über den Pizzikato-Celli schwebenden Hörner, die schon zuvor zwar bisweilen wacklige, aber auch butterweiche Passagen abgeliefert hatten. Dass da vor der Coda auch mal Unordnung entsteht, wird durch die Coda selbst mit ihrer zauberhaften Atmosphäre mehr als wettgemacht.
Im Scherzo pflegen die jungen Musiker die bereits mehrfach geübte Tugend, auch in geringer Lautstärke enormes Tempo machen zu können, gleich nochmal, zumal Bruckner hier sogar ein Presto vorschreibt. So entwickelt das Orchester denn auch viel Druck, die Holzbläser huschen unauffällig, aber wirkungsvoll durchs Geschehen, und sogar die Trompeten wirken hier ein wenig besser in den Gesamtklang integriert. Ins ansonsten eher unauffällige Trio schafft es Kersten eine Portion Eleganz zu legen, und die Reprise nimmt er kontraststärker als den ersten Teil. Die Posaunen spielen gekonnt Schweinchen, und es gelingt ein knackig-spitzer Satzschluß.
Den Finalsatz möchte Bruckner als Moderato haben. Zunächst entwickelt sich ein Geplänkel zwischen Lieblichkeit und Zweifeln, bevor die Trompeten planmäßig hervortreten dürfen, indem sie eine Überleitung spielen, die ein klein wenig an „Wir wollen unsern guten Kaiser Wilhelm wiederhaben“ aka Fehrbelliner Reitermarsch erinnert. Das Hauptthema nimmt Kersten recht scharf, das Nebenthema ziemlich lieblich, wobei die Wirkung des letzteren ein wenig durch ein markantes Unisono-Blättergeräusch getrübt wird. An einer lehrbuchreifen Satzgestaltung hindert das die Beteiligten indes nicht, auch die Spielsicherheit angesichts teils halsbrecherischer Geschwindigkeit beeindruckt. Selbst die Trompeten wirken noch eine Stufe besser integriert als im Scherzo, die Rückschaltung zwischen den beiden großen Tutti gestaltet Kersten prima, und auch die Spannung im Schlußton steht kurioserweise so lange, bis wieder ein ungeplanter Nachklang erstorben ist. Dann gibt es abermals einige Bravi sowie viel Applaus vom leider nicht sehr zahlreich erschienenen Publikum im Gewandhaus, und so mancher wird vielleicht noch nachgegrübelt haben, was denn nun Bruckner mit Poesie zu tun habe ...
Roland Ludwig
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