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Zeit: 13.02.2020
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
Wohl kaum ein derzeitiges Review über Konzerte mit Werken von Mieczyslaw Weinberg kommt ohne die Nennung des Namens Dmitri Schostakowitsch aus. Das leuchtet ein, denn schließlich war es Schostakowitsch, der dem aus Warschau über Minsk nach Taschkent geflüchteten Weinberg die Möglichkeit gab, nach Moskau überzusiedeln, wonach sich für mehr als drei Jahrzehnte ein intensiver schöpferischer Austausch entwickelte, wenngleich beide grundsätzlich ihre jeweilige Tonsprache behielten. Trotzdem kommt einem so manche Passage bei Weinberg gelegentlich schostakowitschig vor, was freilich auch andersherum Sinn ergäbe, aber praktisch eben so gekommen ist, weil man Schostakowitschs Werke (oder zumindest diverse markante von ihm) etwas besser kennt als die erst in den letzten Jahren stärker in den Fokus rückenden Werke Weinbergs. Das Gewandhaus beteiligt sich an der Wiederentdeckung in der Saison 2019/20 mit einem Schwerpunktthema, in dessen Rahmen so manche Weinberg-Komposition erstmals in den hiesigen heiligen Hallen erklingt, darunter auch die drei Instrumentalkonzerte. Beim Trompetenkonzert war der Rezensent anwesend (siehe Rezension auf diesen Seiten), den Cellokonzert-Termin bekam er nicht im Kalender unter, aber nun beim Violinkonzert ist er wieder mit von der Partie.
Der Geiger Gidon Kremer zählt zu den wichtigsten Protagonisten der derzeitigen Weinberg-Wiederentdeckung, und er ist auch der Solist im Konzert für Violine und Orchester g-Moll op. 67, das ungewöhnlicherweise viersätzig strukturiert ist: Zwei schnelle Außen- umschließen zwei langsame Innensätze. Im einleitenden Allegro molto überraschen Kremer, Dirigent Daniele Gatti und das Gewandhausorchester gleich, indem sie zwar ein enorm flottes Tempo an den Tag legen, aber allenfalls mal am Mezzoforte kratzen und ansonsten das Lautstärkelevel weit unten belassen – eine eher ungewöhnliche Kombination, noch dazu als Eröffnung eines Solokonzertes. Die spielerische Lockerheit weiß zu beeindrucken, und Kremer führt mit einer markanten Viertonstruktur auf gleichem Tonniveau. Nachdem ein Fagotteinwurf markant das Tempo herausgenommen hat, entwickelt sich ein bezauberndes Seitenthema, und das Glockenspiel bringt später ätherische Töne ein, aber das Ausgangstempo ist nicht weit, und einige Tutti-Gedanken mischen sich in die des Solisten. Das Ganze klingt bisweilen durchaus schostakowitschig, beinhaltet aber auch orientalische Anklänge, die man von Schostakowitsch so kaum kennt. Gatti laviert den Satz durch manche weitere Wendung hin zu einem knackig-kurzen Schluß.
Das Allegretto beginnt mit großen fahlen Streicherflächen, und wie die Kontrabässe an der Hörbarkeitsgrenze den ersten Einsatz des Solisten vorbereiten, das hat schon enorm Klasse. Kremer spielt die lange Kantilene sehr entspannt, und es entwickelt sich hier und da bezaubernde Kammermusik, in der nichtsdestotrotz die gestalterische Kraft des Dirigenten nach wie vor gefragt ist. Ein Miteinander des Solisten mit dem Orchester in traditioneller Manier gibt es in diesem Konzert eher selten, aber Kremer und den Klarinettisten hier zu beobachten, wie die beiden sich suchen und schließlich auch finden, das erfreut den Hörer zweifellos. Der Satz geht schließlich in ein Largo über, wird also in der Hinführung zur Kadenz immer langsamer und teils auch entrückter, und besagte Kadenz kanalisiert die Hochspannung auf einem einsamen hohen Ton, der zuverlässig von einem Huster im Publikum abgewürgt wird.
Im Adagio gibt es gleich nochmal so eine ausgedehnte Kantilene des Solisten, hier über mäandernden Streicherflächen und zumeist etwas angedüstert, jedoch mit Aufhellungen. Die Tempoabsenkung gegenüber dem Largo wirkt anfangs gar nicht so groß, aber auch hier geht es weiter und weiter bergab, und der Satzschluß atmet viel Ruhe samt einer gewissen Entrücktheit, die diesmal nicht von Störgeräuschen torpediert wird.
Das finale Allegro risoluto nimmt Gatti nicht attacca, wie es bei vielen Solokonzerten so Usus ist – der Rezensent hat keine Partitur vorliegen und weiß nicht, was Weinberg vorgeschrieben hat, aber die Pause ist hier eine weise Entscheidung, kann das Publikum doch zwischendurch abhusten, und Kremer stimmt zudem sein Instrument nochmal nach. Dann beginnt der Satz mit einem polternden Stakkato, das in gewisser Weise ironisch wirkt. Die Zackigkeit nimmt bald ab, das Tempo bleibt aber hoch, und Weinberg baut auch einige lockere Offbeats ein, die sich das Orchester gekonnt aus dem Ärmel schüttelt. Das ruhige Seitenmotiv erfährt eine ausführliche Behandlung, und generell bleibt das Dynamikniveau selbst in den diversen Tuttiausbrüchen überschaubar und Kremers Führungsrolle unangetastet, wobei die sparsame Blechbesetzung in klassischer Manier (nur vier Hörner und zwei Trompeten) sicherlich hilfreich ist. Gatti manövriert die Musiker gekonnt durch den Wechsel aus Geplänkel und Ausbrüchen, bekommt auch den Ausdruck der ein Finalmotiv nur antäuschenden Tutti prima hin und formt schließlich einen zauberhaften Schluß der sehnsuchtsvollen Violine Kremers über sanften Pianissimo-Teppichen. Erwartet man hier ein Verklingen im Nichts, wird man aber enttäuscht, denn es hängt noch ein Orchesterakkord hinten dran, und ausgerechnet der geht einsatzseitig an diesem Abend in die Hose. Trotzdem werden Kremer, Gatti und das Orchester ausführlich bejubelt, und der Solist offeriert eine Zugabe, abermals von Weinberg: das fünfte aus dem Zyklus der 24 Präludien op. 100, die original für Cello komponiert wurden und die in einer von Kremer bearbeiteten Violinfassung unlängst auch auf CD erschienen sind (siehe Coverabbildung). Wer jetzt in dieser Wahl plumpe CD-Werbung vermutet, denkt ein wenig am Thema vorbei: Kremers Verdienste um Weinbergs Wiederentdeckung können gar nicht genug gewürdigt werden, und es ist daher nur recht und billig, wenn er eines dieser Stücke wählt. Das besagte Präludium geriert sich eher zurückhaltend, hat spannende Momente und erfordert einigen Spielwitz, beispielsweise im Finale, wenn der Solist die Saiten mit dem Bogen nur antippt. Auch hierfür spendet das Publikum reichlich Applaus.
Dmitri Schostakowitsch gehörte zu den Menschen, die Weinbergs Violinkonzert schon vor dessen Uraufführung zu hören bekamen, und er äußerte sich sehr lobend über das Werk. Die reziproke Konstellation finden wir in der anderen Komposition, die an diesem Abend erklingt: Weinberg spielte 1940 in einer Aufführung von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47 in Minsk mit und war von dem Werk hochgradig begeistert. Drei Jahre zuvor war jenes in Leningrad uraufgeführt worden, rehabilitierte den 1936 von Stalin streng gerügten und seither seines Lebens nicht mehr sicheren Komponisten offiziell wieder, indem die offizielle Deutung „Schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik“ lautete, und entwickelte sich in der Folge zur neben der Siebenten wohl meistgespielten Sinfonie Schostakowitschs. Dass hinter der Fassade des zurückgekehrten verlorenen Sohns eine hochgradig systemkritische Deutung lauerte, empfanden viele Hörer so, konnten dieser Deutung aber offiziell keinen Ausdruck verleihen, was sich erst mit dem Erscheinen von Schostakowitschs durch Solomon Wolkow edierten Memoiren zu ändern begann. Nichtsdestotrotz gilt die Sinfonie auch heute noch als ambivalent zu interpretieren, und man wartet gespannt, was denn Daniele Gatti aus ihr herausholt. Am Ende ist die Überraschung enorm groß, denn wir hören einen dritten Weg: Gatti kommt trotz der Tatsache, dass er auch als Orchesterdirigent reüssiert, gedanklich offenbar stärker von der Oper her und läßt das Werk auch so spielen, als ginge es hier nicht um das Leben des Komponisten und Tausender anderer Sowjetbürger, darunter der halben Intelligenzija, sondern um einen Opernstoff, an dessen Ende klar ist, dass, auch wenn alle tot sind, wir nur einem Schauspiel beigewohnt haben. Anders läßt sich nicht erklären, wieso wir hier gelegentlich sogar ein italienisches Dolce-Vita-Gefühl vorgesetzt bekommen.
Aber der Reihe nach: Im Moderato betont der Dirigent die Kontrastwirkung der schroffen Einleitungsflächen stark, fährt aber bald mit einem Weichzeichner darüber und glättet so manche Kontur. Das Tempo liegt weit unten, Düsternis aber bleibt abwesend, die Oboe spielt richtig schön, und Anflüge von Doppelbödigkeit gibt es erst im durch den Harfeneinsatz markierten Seitengedanken. Der sehr plastisch dirigierende Gatti baut im Pianissimo zwar durchaus gewisse düstere Spannung auf, aber nihilistisch wird hier nichts, trotz gelungener und wenig gestörter ruhiger Passagen mit abgrundtiefen Hörnern zu einem grollenden Klavier – alles bleibt maskenhaft. Die Dramatisierung gestaltet Gatti mit der ganzen Intensität des Südländers, wobei er die markante Schlagzeugpassage aber von selber laufen läßt. Selbst die großen Tutti bleiben freilich von einem Bedrohungsfaktor weit entfernt, der teils wacklige ruhige Satzschluß wirkt gar bisweilen unfreiwillig ironisch, was auch der finalen Spannung ihren Entrückungsfaktor kostet.
Auch im Allegretto wählt Gatti zunächst eine Kontrastbetonungsstrategie: Entweder es schwingt gar nichts, oder das Schwingen wird übertrieben. Damit landet er freilich zwischen allen Stühlen: Der Satz gerät ironisch und doch wieder nicht, wenngleich die Ausformung so mancher Miniatur durchaus gut gelingt. Auch hier kann man sich des Gefühls nicht erwehren, im Theater zu sitzen.
Das Largo baut der Dirigent sehr behutsam auf, trotz weit unten liegenden Tempos entsteht aber erneut keine Düsternis, was freilich hilft, die Hinleitung zum ersten Harfeneinsatz quasi überirdisch schön zu gestalten. Hochspannung entsteht auch später wieder, wenn sich die Oboe über Pianissimo-Streicherflächen ausbreitet, während die Dramatisierung mit einiger Brutalität geschieht und dem Xylophon etliche Grade an Fiesheit gönnt. Allerdings schleichen sich hier deutlich zu viele Spielunfälle ein, die auch der zauberhafte lange Schlußpart mit seinen entrückten Harfen nicht kompensieren kann, und das Gefühl, das Geschehen aus der Distanz zu betrachten, bleibt hier gleichfalls.
Das Allegro non troppo konturiert Gatti abermals sehr deutlich, wobei auffällt, dass er die in letzter Zeit öfter zu beobachtende Tugend, Tutti transparent gestalten zu können, gleichfalls zu pflegen imstande ist. Hier wird das Theatergefühl aber noch stärker: Irgendwie atmet der ganze Satz trotz seiner grundsätzlich dramatischen Anlage eine irritierende Leichtigkeit, die man nicht mal bei einer sowjetisch-orthodoxen Interpretation erwarten würde. Wackler kommen hier leider gehäuft aus dem Horn, während die Trauermarschandeutung in der ersten Andeutung des Schlußthemas wiederum vor Genialität glänzt. Aber die Leichtigkeit ist bald wieder da – so beschwingt hört man das monotone Streichergesäge im Satzschluß sonst wohl nie, und obwohl Gatti meisterhaft auf der Dynamikklaviatur spielt, bleibt das eingangs beschriebene seltsame Gefühl zurück: Der D-Dur-Jubel ist weder fröhlich (offizielle sowjetische Deutung) noch erzwungen (Schostakowitsch-Memoiren-Deutung), sondern ausschließlich theatralisch. Das stört die Anwesenden im nicht ganz vollen Großen Saal freilich nicht: Sie brechen quasi sofort in intensiven Applaus aus, den Gatti nach Absprache mit Konzertmeister Frank-Michael Erben relativ früh bereits nach Vorhang 3 beendet.
Roland Ludwig
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