····· Wolvespirit verkaufen Bullshit ····· Rock of Ages - Zusatzshows in 2025 ····· Ally Venable veröffentlicht Video zur neuen Single „Do you cry“ ····· Das zweite Album von Wizrd kommt zum Nikolaus ····· 40 Jahre Helloween - Das muss gefeiert werden ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Artikel

Formalisten unter sich: Prokofjew und Schostakowitsch mit dem Gewandhausorchester

Info

Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 23.01.2020

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Pawel Antonow

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Sonderlich nahe standen sie sich nicht: Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch – nicht persönlich und auch nicht künstlerisch. Aber sie hatten in der Sowjetunion, in die der eine (beinahe) freiwillig zurückgekehrt war, während der andere sie nie über längere Zeit verlassen hatte, durchaus mit analogen Problemen zu kämpfen, waren beide vom 1948er Formalisten-Edikt an vorderster Front betroffen, wurzelten zumindest teilweise in den gleichen Traditionen und schufen einen ganzen Haufen hörenswerter Werke. Ebensolche in einem Konzertprogramm zu koppeln erscheint also durchaus logisch, und selbiges passiert an diesem und dem Folgeabend beim Gewandhausorchester, wenngleich in anderer als der geplanten personellen Konstellation: Dirigent Juri Temirkanow fällt aus – für ihn springt allerdings ein ganz großer Kenner des beschriebenen Werkekanons ein, nämlich Michail Jurowski, so dass das Programm nicht verändert werden muß.

Sergej Prokofjew schrieb seine Klavierkonzerte per se als eigene Vortragsstücke, so auch das 2. g-Moll op. 16, anno 1913 mit einem mittleren Skandal in Pawlowsk uraufgeführt – die dortigen Kurgäste wollten erholsame leichte Musik hören und bekamen einen heftigen fordernden Brocken vorgesetzt. Dem Werk widerfuhr allerdings das Schicksal, im Zuge der Oktoberrevolution quasi komplett vernichtet zu werden – lediglich ein für zwei Klaviere gesetzter Auszug blieb erhalten und diente Prokofjew 1923 als Basis zur Erstellung einer etwas veränderten, aber nicht minder anspruchsvollen Zweitfassung, in der das Werk bis heute gespielt wird, da auch nach aktuellem Forschungsstand noch kein weiteres nutzbares Material der Erstfassung aufgetaucht ist. Der Klaviersolopart gilt als irre schwer, so dass nur eine übersichtliche Schar Weltklassepianisten das Werk im Repertoire hat, und mit Denis Matsuev (Foto) ist einer derselben für die aktuellen Konzerte im Gewandhaus zu Gast.
Dass uns eine Weltklasseaufführung erwarten wird, läßt schon die Andantino-Einleitung des ersten Satzes erhoffen, die ziemlich entrückt daherkommt. Das Klavier ist in diesem Konzert nicht als primus inter pares konzipiert, sondern mit einem eindeutigen Führungsauftrag, und es dauert nicht lange, bis das klar wird, unterstützt durch den Umstand, dass ein klanglich enorm „harter“ Flügel auf der Bühne steht, den Matsuev zumeist mit viel Energie traktieren darf, wodurch sich die Durchschlagskraft des Klavierparts potenziert, ohne freilich das ganze Orchester „niederzuprügeln“. Aber die Balance ist schon klar verteilt. Jurowski gestaltet einen behutsamen, aber mit einer Portion Grundwitz ausgestatteten Übergang in den Allegretto-Hauptteil des ersten Satzes, und dann wird das beschriebene Szenario noch deutlicher. Aber beide Teile gehen durchaus aufeinander ein: Matsuev gibt bisweilen mächtige Grooves vor, die das Orchester repetiert. Trotzdem aber dreht es sich hier primär um Kampf und Sieg: Was da in und nach der Kadenz passiert, ist völlig unklar. Zunächst führt der Pianist die Kadenz aus scheinbarer Harmlosigkeit in völlige Brutalität, diese Kombination nimmt der nächste Orchesterpart abermals auf, und den Ausklang der brutalen Spannung versuchen die Streicher zu markieren, die aber in praktischer Unhörbarkeit versinken – erst einer massiven Blech-Attacke bleibt es vorbehalten, die Klavierklangwand zu durchdringen. Nach einem kurzen Tutti-Aufbegehren endet der Satz hübsch zurückhaltend, dem Hörer Gelegenheit zum Durchatmen gebend – freilich nicht lange: Jurowski hält alle Satzpausen sehr kurz, und so geht es nach kurzer Zeit im Scherzo mit ähnlichem Hochleistungssport weiter, aber ein wenig lockerer im Grundgestus. Hier liegt das Grundtempo ziemlich hoch, und Prokofjew beläßt den Satz sehr knapp: Kaum hat man sich in ihn hineingehört, ist er auch schon wieder vorüber, und man schafft es nur kurz, mal darüber nachzusinnen, dass es Matsuev irgendwie gebacken bekommt, die geforderte enorme Energieleistung auch noch mit zumindest ein paar gestalterischen Feinheiten zu würzen und nicht einfach nur durchzubrettern.
Man könnte geneigt sein, das eben Gehörte als Intermezzo zu titulieren – tatsächlich aber heißt der dritte Satz so, temposeitig ein Allegro moderato. Hier entspinnt sich nun der Soundtrack zu einem Monumentalfilm, in dem ein großes, schweres Monster angetapst kommt – den schweren, schreitenden Groove gibt in diesem Fall das Orchester vor, ehe er vom Pianisten aufgenommen wird. Zwischenzeitlich schalten alle mal auf totale Kriechgeschwindigkeit herunter (im Heavy Metal würde man vom Doom sprechen), andererseits aber werden auch lockere Zirkusanklänge gefordert, und diese mit dem auch dort durchgehenden schweren Groove zu kombinieren erfordert meisterliches Musikverständnis, woran es an diesem Abend dankenswerterweise nicht mangelt. Im großen Tutti tritt einer der äußerst seltenen Fälle an diesem Abend auf, wo der Klaviersolist klanglich mal gegen das Orchester den kürzeren zieht, und der Satzschluß besteht aus einem hübschen kleinen Witz.
Abermals gönnt Jurowski dem Publikum kaum Zeit zum Abhusten und gibt den Einsatz zum Finale, das sich der Komponist als Allegro tempestuoso wünscht. Interessanterweise weht der Orchestersturm an diesem Abend zwar mit enormer Geschwindigkeit, aber auch mit großer Lockerheit, in den gelegentlichen Aufbrausungen freilich alles vernichtend, auch die Klavierlinien. Das zweite Klavierthema, wieder recht jenseitig, setzt einen der wenigen ruhigen Kontrapunkte dieses Konzertes, und cineastische Breitwandpassagen mittleren Tempos verraten Prokofjews Fähigkeiten zu bildhaftem Komponieren, die ihm später noch sehr zupaß kommen sollten. Die nächste Beschleunigung läßt aber nicht lange auf sich warten, Matsuev hat kaum noch Zeit, sich mal den Schweiß von der Stirn zu wischen, und eine schräge Fanfare kündigt die Kadenz an, deren Grundgestalt an die aus dem ersten Satz erinnert, hier allerdings mit nicht ganz so immenser Spannung und Brutalität – oder hat man sich im Verlaufe des Hörens schon so an diese gewöhnt, dass man diesen Eindruck gewinnt? Egal: Wie der Komponist in der Folge das Orchester wieder schwer grooven läßt, den Pianisten aber im doppelten Tempo drüberjagt, dafür braucht man als ausführender Musiker ein gutes gestalterisches Händchen, und daran mangelt es an diesem Abend nicht. Eine förmlich einschläfernde Passage leitet zu einem wilden Orchesterausbruch, und diese Wildheit bleibt dann bis zum Satzschluß erhalten, den Pianisten nochmal zu einer Höchstleistung fordernd, die Matsuev auch liefert. Die ersten Bravorufe erklingen fast noch in den Schlußton hinein, und frenetischer Applaus erklingt. Wer als Pianist nach einer solchen spielerischen Tortur allerdings noch zu Zugaben fähig ist, der muß ein ganz Großer sein – und Matsuev ist ein ganz, ganz Großer, denn er spielt zwei (!) Zugaben: „Musikalnaja Tabakerka“ („Die Spieldose“) op. 32 von Anatoli Ljadow, ein niedliches Werk, das die Tradition der Flötenuhrstücke etwa von Mozart oder Haydn in die Spätromantik hinüberrettet, und Edvard Griegs Peer-Gynt-Hit „In der Halle des Bergkönigs“, aus einem zurückhaltenden Tempo in ein barbarisches Schlußgewirbel changierend, dass man als Hörer gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Phantastisch!

Prokofjew starb am 5. März 1953 und damit kurioserweise am gleichen Tag wie sein Förderer und Peiniger gleichermaßen, Jossif Wissarionowitsch Stalin, der auch ein besonderes Augenmerk auf das Schaffen von Dmitri Schostakowitsch hatte und versuchte, diesen in für seine Zwecke „nützliche“ Bahnen zu lenken, was bei dem eigensinnigen Komponisten freilich nur bedingt gelang. Mehrfach hing daher dessen Leben an einem seidenen Faden, aber er rächte sich gekonnt, indem er kurz nach Stalins Tod seine 10. Sinfonie e-Moll op. 93 schrieb und darin mit der Stalin-Ära und dem Diktator persönlich abrechnete. Auch der 1945 geborene Michail Jurowski hat diese Ära als Kind noch selbst erlebt, später eng mit Schostakowitsch zusammengearbeitet und genau diese Sinfonie anno 1971 als Aufnahmestück für einen Dirigenten-Meisterkurs geleitet, wonach er sich mit Schostakowitsch, der die Aufführung im Radio mitverfolgt hatte, über bestimmte Gestaltungselemente austauschte. Wir haben hier also den seltenen Fall, dass ein Künstler noch aus einer direkten Quelle schöpfen konnte, und was sich daraus für Möglichkeiten ergeben, wird schon dem Programmheftleser schnell klar – die Konzerteinführung soll, so sagen Dabeigewesene, ein noch eindruckvolleres Zeugnis gewesen sein.
Also hinein ins musikalische Geschehen! Der einleitende Moderato-Satz hebt mit düsteren Streicherflächen an, die an diesem Abend kammermusikalische Qualitäten besitzen – Dutzende Geigen klingen hier genau wie eine einzige. Das Klarinettenthema kommt wieder mal praktisch aus dem Jenseits, und Jurowski, der gesundheitlich bedingt im Sitzen dirigiert, braucht nur sparsame Gesten, um das Gewünschte aus dem Orchester herauszukitzeln. So entspinnt sich eine gediegene Wiedergabe, die es sich nicht zum Ziel stellt, irgendwelche emotionalen Extreme auszuloten: Jurowski reizt etwa die Nähe zum musikalischen Stillstand bei weitem nicht aus, aber das muß er auch nicht, und das Kontrafagott klingt trotzdem abgründig genug, während das sonstige Holzgewirr abermals eher aus dem Jenseits zu kommen scheint. Eine Tugend, auf deren Kultivierung Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons besonderen Wert legt, wird auch von Jurowski gepflegt: die Kunst, selbst im Tutti noch klare Durchhörbarkeit zu gewährleisten und trotzdem viel Energie zu transportieren. Wenn’s sein muß, springt der Dirigent da auch mal kurz von seinem Stuhl auf und intensiviert die Gestik etwas. Der klangliche Klirrfaktor bleibt in den Tuttipassagen, wo er hingehört, aber auch so hoch genug. Dass das Ende dieses Satzes unter der zunehmenden Hustaktivität des Publikums leidet, ist Pech, und auch auf der Bühne breitet sich ein bißchen Nervosität in Gestalt wackelnder Einsätze aus, was freilich die Klangschönheit der Gestaltung nicht mindert, und die Pizzikati im Satzschluß kommen wieder recht jenseitig rüber.
Überraschung dann im zweiten Satz: Das Scherzo wird allgemein als musikalisches Porträt Stalins kolportiert, aber der Komponist hat sich außer ganz spät in seinen inoffiziellen Memoiren nicht konkret dazu geäußert. Jurowski sagt, dass das allerdings schon zuvor jeder so empfunden habe, also wird es wohl auch so gemeint gewesen sein. Die Überraschung ist nun, dass an diesem Abend der Diktator gar nicht so grobschlächtig daherkommt, was freilich mit der Realität übereinstimmt: Stalin war zumindest in einigen Kunstgattungen durchaus Kenner und Feingeist, was ihn indes nicht hinderte, auch oder gerade in diesen Arealen Unliebsame reihenweise beseitigen zu lassen. Wir hören an diesem Abend also ein durchaus differenziertes Porträt, durchaus schnell und auch scharf gespielt, aber beides in Maßen, auch die Blechbläserpower dosiert einsetzend und erstaunlich unironisch, wenn man mal vom trillernden Holz absieht, das Stalins Speichellecker, die Schostakowitsch in seinen Memoiren als totale Kleingeister gebrandmarkt hat, symbolisieren soll. Aber ansonsten herrscht hier, man traut es sich kaum zu schreiben, zumindest gelegentlich so etwas wie Kurzweil.
Mit der ist’s im folgenden Allegretto freilich schnell vorbei: Die schreitende Eleganz hält nicht lange an, wird unterbrochen und durch abermals ironische Holzbläser konterkariert, die im Tonfall seltsamerweise ein wenig an „Peter und der Wolf“ erinnern, und das stammt bekanntlich vom anderen Komponisten dieses Abends. Das Hornmotiv schafft es die ganze Zeit nicht ans Ausdruckslimit, bleibt aber nicht weit von diesem entfernt, und ringsum breitet sich angedüsterte Verschrobenheit aus. Was etwa die Kombination aus Pizzikatostreichern, Englischhorn und im pp angeschlagenem großem Gong leistet, das ist ganz großes Kino. Die zirkusartigen Passagen läßt Jurowski nahezu undirigiert laufen, das anschließende wilde Gesäge leitet er aber wieder stehend. In den düsteren Passagen rings um Frank-Michael Erbens soloviolinistische Einwürfe kurz vor Ende des Satzes gelingt einiges an Spannung, aber Extreme ausgelotet werden auch hier nicht.
In der Andante-Einleitung des Finales wird zunächst gekonnt Lieblichkeit zelebriert (offensichtlich ist der Diktator gestorben), und trotz Minimalgeschwindigkeit gelingen die Holzsoli äußerst lebendig. Der Übergang in den Allegro-Hauptteil gelingt trotz leichter Wackler wie aus dem Ärmel geschüttelt, und die mehrminütige Steigerung hin zum ersten D-Es-C-H-Motiv bildet ein Lehrstück aus der alten sowjetischen Dirigentenschule. Der abermalige Zirkuseinwurf aus dem Fagott mutet sehr abgründig an, der Pauker wird in der Hinleitung zum Satzschluß zur Windmühle – aber der Schluß selbst bleibt dann irgendwie hinter den Erwartungen zurück: Dass auch er keine Extreme ausloten würde, war klar, aber so richtig mitreißen kann er gleichfalls nicht, und so bleibt auch der Applaus den letzten Enthusiasmus schuldig, so fleißig Jurowski als Charmeur der alten Schule auch Küßchen in die Runde wirft. Das bildet freilich nur einen kleinen Wermutstropfen im reich gefüllten Becher eines über weite Strecken enorm starken Konzertabends.

Roland Ludwig


Zurück zur Artikelübersicht