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Zeit: 23.08.2019
Ort: Leipzig, Anker
Internet:
http://www.joescompany.de
http://www.anker-leipzig.de
Joe F. Winter besitzt in der Leipziger Musikszene einen guten Ruf und hat in einem Punkt maßgeblich zu ihrer Entwicklung beigetragen: 1993 bis 2005 spielte er eine der beiden Gitarren bei Factory Of Art, den seinerzeitigen Platzhirschen des progressiven Power Metals, und obwohl es ihnen nicht gelang, in ihrem eigenen Subgenre schulenbildend zu wirken, so ist ihr Einfluß auf eine jüngere Metallergeneration, die sich bald nicht mehr damit begnügte, einfach den Vorbildern nachzueifern, sondern eigene, also progressive Wege zu gehen, nicht zu unterschätzen. Kühlschrankfüllend agierten Factory Of Art allerdings zu keiner Zeit, und so gründete Joe anno 1994 eine „Brotband“ für den Lebensunterhalt, nämlich Joe’s Company, die sich fortan als Coverband kreuz und quer durchs rockverwandte Spektrum einen Namen machten. 2012 allerdings stand der Bandkopf und mit ihm die Band vor dem Aus – eine Krebserkrankung forderte ihm enorm viel Kraft ab, aber mit der ihm eigenen Energie konnte er den Krebs niederringen und stand alsbald wieder auf der Bühne. Alles schien gut zu gehen, bis 2019 der Krebs abermals an die Tür klopfte, diesmal mit noch unangenehmeren pekuniären Folgen als damals: Aufgrund einer unglücklichen rechtlichen Konstellation bekommt Joe kein Krankengeld, große Reserven kann man als freiberuflicher Musiker im nicht eben leeren Coverbandmarkt aber auch nicht anlegen, und Sozialhilfe gäbe es erst, wenn alles Vermögen über einem bestimmten Wert zu Geld gemacht ist, worunter in diesem Fall widersinnigerweise die Arbeitsmittel des Musikers, also Bandbus, Soundanlage, Gitarren, Verstärker etc. fallen würden, also all die Dinge, die Joe nach seiner Genesung braucht, um eben nicht weiter von Sozialhilfe abhängig zu sein, sondern wieder selbst seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
In solch einer vertrackten Situation ist ein Netzwerk ungemein wichtig, und das von Joe erwies sich als tragfähig: Seine Lebensgefährtin (und Bandmanagerin) Romy stellte mit Hilfe des Teams vom Leipziger Kulturzentrum Anker ein Benefizkonzert auf die Beine, das eigentlich den Jubiläumsgig zum 25-jährigen Bestehen von Joe’s Company hätte bilden sollen, nunmehr also sozusagen umfunktioniert wurde und an einem warmen Augustabend stattfand, zwei Tage nachdem Joe in der Leipziger Universitätsklinik unterm Messer gelegen hatte, wo man ihm ein Stück künstlichen Unterkiefer einsetzte und diverse Venen rekonstruierte. Eine große Anzahl von Freunden folgte dem Ruf zum Konzert, und auch der Rezensent hielt es für seine Pflicht, anwesend zu sein: Er kennt Joe zwar nicht persönlich und hat auch Joe’s Company noch nie auf der Bühne erlebt – aber Factory Of Art waren die Band, die er in den Neunzigern am häufigsten live erlebt hat, und da waren denkwürdige Gigs darunter, etwa der anno 1995 als Support für das Package Gamma Ray/Morgana Lefay in ebenjenem alten Vorstadtgasthof namens Anker, der übrigens auch einen langen Leidensweg hinter sich hat und jetzt nach vieljähriger mehrstufiger Sanierung wieder seiner Hauptbestimmung als Konzertsaal „nachgehen“ kann.
Kollege Steffen Georgi von der Leipziger Volkszeitung meinte, dass bei einem solchen Benefizkonzert der Musikkritiker eigentlich besser schweigen solle. Damit hat er einerseits natürlich recht, denn der Zweck siegt hier klar über die Mittel – andererseits aber muß selbstverständlich die Qualität der Mittel bewertbar bleiben, denn sie determinieren, in welchem Maße der Zweck erreicht werden kann. Ein angesichts hochqualitativer musikalischer Darbietungen enthusiasmierter Besucher wird schließlich eher geneigt sein, noch einen Extraschein in die Spendenbüchse zu werfen, als einer, der vor grottenschlechten Acts die Flucht ergreift. Der Rezensent versucht im folgenden einen goldenen Mittelweg zu finden und tut zunächst kund, dass die Auswahl der acht bühnenaktiven Formationen an diesem langen Abend keinem Zufall unterlag, sondern alle in irgendeiner Weise mehr oder weniger direkt was mit Joe zu tun haben. Zur Verfügung stehen allen ungefähr 30 Minuten Spielzeit.
Carbon haben soeben zu spielen begonnen, als der Rezensent wenige Minuten nach 20 Uhr im Anker eintrifft. Das Quintett bietet eine Art indieangehauchter Rockmusik, deren Zielrichtung man ab Song 2 ausmachen kann, denn ab da ist im allgemein recht klaren Soundgewand auch das Keyboard zu hören, das nicht selten einen gewissen Seventies- oder gar Sixties-Touch beisteuert, während andere Einflüsse der jungen Leipziger deutlich jüngeren Datums zu sein scheinen und sich der Sänger in etwas angerauhter, aber dennoch klar melodiefähiger Manier artikuliert. In einigen Songs spielt er auch noch zweite Gitarre und sorgt für einen stärkeren Rockfaktor. Carbon sind immer dann schon ziemlich weit, wenn sie entweder geradlinig flott rocken, was sie z.B. im Opener tun, oder wenn sie für ihre Verhältnisse richtig komplex vom Leder ziehen, was im Setcloser geschieht. Kleine spieltechnische Unsicherheiten sollte man nicht überbewerten – die vier Herren plus Dame am Baß haben Potential, und das sehen auch die Anwesenden so, die schon fleißig Applaus spenden.
Beauty Brigade teilen sich den Proberaum mit Joe’s Company, machen stilistisch aber etwas völlig anderes, was Moderator Elia mit „Acoustic Folk Pop Rock“ ankündigt. Die beiden Frontleute singen und spielen jeweils Ukulele, dazu kommen ein Bassist, der kurioserweise Ex-Toxic-Smile-Tieftöner Robert Brenner optisch etwas ähnelt, und eine Schlagzeugerin, die für ein Tom-Petty-Cover den Schemel auch mal verläßt und nach vorne kommt, um zu singen. Das Ganze – mal Eigenbau, mal Coverversionen – geht in die Ecke Mumford & Sons und besitzt die ersten Songs lang eher wenig Dynamik, was sich erst ändert, als der aus Publikumssicht linke Ukulelist dieses Instrument gegen ein Banjo eintauscht, das man nach einigen Anstrengungen des Soundmenschen dann auch tatsächlich hören kann. Da steckt irgendwie gleich viel mehr Witz in der Musik, selbst wenn auch da noch eher wenig rockt und der Baß akustisch ein gutes Stück zu weit im Hintergrund steht. Aber die Laune im Auditorium befindet sich vor allem in diesem Finalteil berechtigterweise ziemlich weit oben.
Richard Istel hat eine „Das Supertalent“- und „Voice Kids“-Karriere hinter sich – mittlerweile ist der Bub 20 geworden, kennt Joe schon seit den ersten Schritten seiner Laufbahn und arbeitet gelegentlich bei Aufnahmen mit ihm zusammen. Er singt seine fünf Songs dieses Abends live zu Konservenplayback, und eine gute Stimme besitzt er tatsächlich, nur wirkt diese nicht immer optimal auf die Vorgaben der Eigenkompositionen zugeschnitten. Das klappt bei einem Lana-del-Rey-Cover besser, nachdem Richard stimmlich in dieses hineingefunden und sich förmlich freigesungen hat – da bekommt man eine Ahnung, was in ihm steckt, wohingegen die Eigenkompositionen in der vorliegenden Form mit sehr gewöhnungsbedürftigen Drumsounds für MDR-Sputnik-Hörer der aktuellen Generation geeignet sind, und nur für diese.
Jacob’s Fall kündigt Elia auch wieder mit einem mehrteiligen Stilmix an, aber zu hören ist Gothic Rock der mehr oder weniger klassischen Form, also die traditionelle Mission-Schule, nur gelegentlich mit symphonischen Andeutungen angereichert, die in diesem Fall vom Band kommen, da das Quartett zwei Gitarristen, aber keinen Keyboarder in der Livemannschaft hat. Die Brücke der Eislebener zu Joe bildet in diesem Fall der Drummer, der sich mal bei Factory Of Art beworben hatte, als diese einen neuen Schlagwerker brauchten. Bei Jacob’s Fall gelingt es ihm an diesem Abend nicht durchgängig, mit seinem Bassisten zu einem Groove zu finden, aber wenn es gelingt, dann ist die Basis für einen guten Song gelegt, denn kompositorische Ideen hat die Band einige, wenngleich sie das Rad nicht neu erfindet. Der Sänger artikuliert sich in eher moderater Tiefe, und mit dem Setcloser packt das Quartett gar noch eine richtig große schleppende Gothic-Metal-Hymne aus.
Danach wird’s emotional. Zunächst versteigert Elia vier Konzertplakate, die zu Preisen von 32 bis 100 Euro weggehen, und dann kommt ER: Kein Uneingeweihter hätte damit gerechnet, dass Joe wirklich anwesend sein würde, zwei Tage nach einer schweren OP und trotz Elias früherer Ansage, Joe sei dem planmäßigen Heilungsverlauf schon wieder vier Tage voraus. Aber der Patient hat es damit in einen Zustand geschafft, dass ihm Bernd Lethaus, sein Professor aus der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie, guten Gewissens erlauben konnte, beim Konzert dabeizusein – wohlwissend, dass der emotionale Faktor eines solchen Events den Heilungsverlauf noch einmal beflügeln kann und damit das gewisse Risiko, das mit der Anstrengung und der Anwesenheit vieler Menschen, die ihm am liebsten alle um den Hals fallen wollen würden, einhergeht, nicht nur kompensiert, sondern überkompensiert werden kann. Joe kommt also mit Anker-Chefin Heike Engel und dem Oberbürgermeister von Schkeuditz auf die Bühne, und letzterer überreicht zum einen eine Spende von 500 Euro und verspricht zum anderen, dass nach Joes Genesung ein großes Konzert im legendären Gasthof „Sonne“ in der Flughafenstadt angesetzt wird. Zuvor freilich hatte man bei Elias Ankündigung, Joe habe „schon die ganze Zeit von oben zugesehen“, einen Moment geschluckt, liegt doch ein Doppelsinn in den Worten, der sich hier zum Glück in den Fakt auflöst, dass der Geehrte oben auf der Empore des Ankers, abgeschirmt vom großen Trubel, das Geschehen verfolgt und nicht etwa von einer Wolke zusammen mit Criss Oliva, Rory Gallagher und Malcolm Young. Wenn man freilich verfolgt, mit welcher Geschwindigkeit sich Joe mit den Krücken vorwärtsbewegt, sobald er einmal „in Tritt“ ist, dann wird klar, dass das mit den vier Tagen Vorsprung beim Heilungsverlauf keineswegs Flunkerei war.
Bei seiner eigenen Joe’s Company wird Joe derzeit durch einen Sänger/Gitarristen namens Laszlo vertreten, dem klar ist, dass er zum einen „nur“ den Vertreter des „Chefs“ darstellt, zum anderen aber gerade deshalb eine besonders gute Leistung abliefern muß, um im Gesamtkontext bestehen zu können. Anfangs behandelt der Soundmensch sein Mikrofon ein wenig zu stiefmütterlich, aber das ist bald behoben, und obwohl man ihm seine Aufregung etwas anmerkt, zieht er sich doch achtbar aus der Affäre, obwohl seine Aufgabe auch abgesehen vom Vertretungsaspekt alles andere als einfach ist, muß er doch mit einem großen Spektrum an Originalsängern „zurechtkommen“ und beispielsweise in den Setopenern von Dave Gahan („Personal Jesus“) auf Chris Isaak („Wicked Game“) umschalten. Da hilft’s natürlich, wenn man das Publikum kurzerhand selber singen lassen kann, und die enthusiasmierten Anwesenden entledigen sich dieser Aufgabe in „Johnny B. Goode“ mit großer Freude. Aber letztere wird noch größer, denn Joe läßt es sich nicht nehmen, wenigstens ein paar Minuten mitzuspielen – Singen geht zwei Tage nach einer schweren Kiefer-OP logischerweise nicht, aber die Gitarrenkünste beherrscht der Geehrte wie eh und je: Ein kollektiv abgefeiertes „Highway To Hell“, gesungen von den beiden alten Factory-Of-Art-Kämpen Petri und Gunter, schallt durch den Saal, aber die eigentliche Sensation bildet das Instrumentalstück danach, von bluesigen Anklängen in klassisches Metalgitarrenheldentum umschaltend und unter Beweis stellend, was dieses Energiebündel noch so vor hat, wenn es denn erstmal wieder richtig gesund ist.
Ein paar ehemalige Factory-Of-Art-Musiker verschiedener Generationen haben sich zu einer Coverband namens Factory Under Cover zusammengetan, und es ist klar, dass auch diese auf einem derartigen Konzert vertreten sein müssen. Zur immensen Freude des Rezensenten steigen sie nicht mit einem beliebigen Song ein – sie entstauben „Never Dying Hero“, den Opener des Factory-Of-Art-Debüts Grasp!!, den der Rezensent in diesem Jahrtausend live noch nicht gehört hat. Nachdem Riot bzw. Riot V ihn am Abend zuvor schon wieder in einen Zwanzigjährigen zurückverwandelt haben, schaffen Factory Under Cover das an diesem Abend auch: Trotz nicht ganz optimalen Soundverhältnissen gelingt ihnen auch mit nur einem Gitarristen (wir erinnern uns, dass Factory Of Art mit deren zwei arbeiteten) eine erstklassige Interpretation dieses auch im Original schon sehr starken Songs. Danach kann eigentlich keine emotionale Steigerung mehr für den Rezensenten drin sein – und kurioserweise fällt nach diesem Song erstmal das komplette Mischpult aus, was für eine längere Zwangspause sorgt. Irgendwann funktioniert dann alles wieder, und Factory Under Cover legen noch „Asche“, „Shot Down In Flames“, „Shadow On The Wall“, „Shout“ und „Nutbush City Limits“ nach, mit dieser Auswahl klarmachend, dass Sänger Petri immer noch enorm wandlungsfähig agieren können muß, um dem Spektrum von Rammstein über AC/DC, Mike Oldfield und Tears For Fears bis zu Tina Turner (!) gerecht zu werden. Die drei hinteren Nummern haben dabei arrangementseitig eine gewisse Metallisierung erfahren – dass das prinzipiell funktionieren kann, weiß man z.B. bei „Shout“ ja von Atrocitys Werk 80, und auch Factory Under Cover entledigen sich dieser Aufgabe mit großem Ideenreichtum. Da der Sound nach der Zwangspause auch schön klar ausfällt, erntet das Quintett viel verdienten Jubel, wenngleich er naturgemäß nicht ganz so enthusiastisch ausfällt wie der für Joe’s Company mit Joe. Aber das hat auch keiner ernsthaft erwartet.
Mittlerweile neigt sich die Geisterstunde dem Ende entgegen, und noch immer warten zwei Formationen auf ihren Auftritt. Der Rezensent hat anstrengende Tage hinter sich und wird langsam müde – da er auch noch etliche Kilometer nach Hause zu fahren hat, entschließt er sich schweren Herzens, seine Anwesenheit an dieser Stelle zu beenden. Um Tom Twist ist’s ihm dabei nicht weiter gram – nicht weil sie etwa nicht in sein „Beuteschema“ fallen würden und sie ihm daher egal wären, sondern weil sich problemlos eine andere Möglichkeit finden lassen wird, sie mal live zu begutachten. Auf a pArt of Voices, einen Ableger des Factory-Of-Art-Ablegers The Art Of Voices mit den Altmigliedern Gunter, Flecke und Wolf, aber verzichtet er nur extrem ungern, da diese ein Spezialprogramm vorbereitet haben, das, so zumindest die Planung vorab, eine einmalige Sache bleiben und somit nur in dieser Nacht erklingen soll. Aber als er geraume Zeit später todmüde in sein Bett fällt, weiß er, dass seine Entscheidung trotzdem richtig war. Auch so bleibt die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Abend für einen außergewöhnlichen Menschen, dem eine vollständige und diesmal dauerhafte Genesung von Herzen zu wünschen ist. Sollte jemand, der den Gig nicht miterleben konnte, noch eine Spende hinzugeben wollen, setze er sich am besten mit Joes Lebensgefährtin (und Managerin der Company) Romy unter org.joescompany.romy@web.de in Verbindung.
Roland Ludwig
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