Artikel
Info
Titel: Die Kathedrale. Religion – Politik – Architektur
Verlag: Patmos (Düsseldorf 2007)
ISBN: 978-3-491-69432-3
Preis: € 14,95
480 Seiten
Internet:
http://www.patmos.de
Kathedralen spielen in der abend- und partiell auch in der morgenländischen Religionsgeschichte eine markante Rolle, und das auf sehr verschiedenen Arealen. In klassischer Anschauungsweise ist eine Kathedrale oder ein Dom eine Bischofskirche, also einem Oberhirten für ein bestimmtes Areal zugeordnet – in jüngerer Zeit hat allerdings vor allem bezüglich des Terminus Dom eine Begriffsaufweichung stattgefunden, indem auch sehr markante Gebäude, die beispielsweise architektonisch Kathedralmerkmale zeigen, mit dem Begriff Dom belegt werden, obwohl sie kirchenrechtlich keine Bischofskirchen sind. Das erleichtert wie erschwert die Betrachtung, muß man doch den Untersuchungsgegenstand genau definieren, kann aber auch bestimmte Entwicklungslinien, die von klassischen Kathedralen in die Breite der Kirchenbauten des jeweiligen Gebietes führten, besser nachzeichnen.
Norbert Ohler widmet sich in seinem schlicht „Die Kathedrale“ betitelten Buch einer Vielzahl von Aspekten rund um einen solchen Zentralfunktion aufweisenden Kirchenbau. Drei markante Themenkomplexe sind im Untertitel des Buches benannt, aber sie bleiben keineswegs die einzigen – allein die oben bereits angerissene Begrifflichkeitsfrage erfordert für eine erschöpfende Betrachtung immerhin sechs Seiten. Interreligiöse Vergleiche mit zentralen Bauten anderer Religionen finden sich ebenso wie eine große Abhandlung der Bedeutung einer Kathedrale als Entwicklungsfaktor der sie umgebenden Siedlung. Der voluminöseste Teil, mit 130 Seiten immerhin mehr als ein Viertel des Buches umfassend, gehört den bautechnischen Aspekten „vom Fundament bis zum Dachstuhl“, aber selbst in diesem Umfang und in Ohlers teilweise sehr knapp formuliertem, stark komprimiertem Stil können viele Bereiche nur angerissen werden, so dass der Interessent zwar eine kompetente Einführung bekommt, aber als nächsten Schritt dann Spezialliteratur wie Dietrich Conrads Standardwerk „Kirchenbau im Mittelalter“ oder Monographien zu Detailaspekten heranziehen muß, mit denen das Literaturverzeichnis reichlich bestückt ist. Das ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern eher ein Trumpf von Ohlers Buch: Der Autor gibt eine große Menge von Denkanstößen, und der Leser entscheidet dann, welchen davon er weiter nachgeht. An Grundrichtungen gibt es dabei zwei – die religiöse und die kunsthistorische. Beide sind in vielen Fällen nicht voneinander zu trennen. Damit das Thema nicht gar zu sehr ausufert, hat sich Ohler allerdings epochenseitig beschränkt: auf Kathedralen, die im Mittelalter (erstmals) errichtet wurden – das finale Großkapitel widmet sich allerdings auch deren Wirkungen in späteren Jahrhunderten bis zur Gegenwart, verbleibt also nicht in einer rein historischen Betrachtungsweise. Eine ähnliche Situation finden wir in der räumlichen Komponente: Ohlers primäres Thema sind die Kathedralen auf dem deutschen Boden, aber die mannigfachen internationalen Einflüsse werden selbstverständlich nicht ausgeblendet, sondern fließen an den passenden Stellen mit ein, naturgemäß besonders stark in den einleitenden Kapiteln über die Grundlagen von Theologie und Bau einer Kathedrale. Der Wissenstransfer im Mittelalter war grundsätzlich grenzenlos angelegt, und Baumeister aus Frankreich, Kunsthandwerker aus Italien und Steinmetzen aus Deutschland schafften es durchaus, auf der Baustelle einer deutschen Kathedrale eine gemeinsame Sprache zu finden – ein schönes Sinnbild für die Kraft der Kooperation schon vor vielen Jahrhunderten, deren Ergebnisse man noch heute vielerorts bewundern kann.
Bleibt die Frage des Lesers eines Musikmagazins, ob sich der Autor denn auch musikalischen Aspekten widmet. Die Antwort lautet: Ja, das tut er – wenngleich in sehr überschaubarem Ausmaß. Das Großkapitel 8 heißt „Bau und Ausstattung der Kathedrale – Bedeutung und Symbolik“, und in dessen Teil II „Reiche Ausstattung“ kommen zwischen Altar, Gestühl, Epitaphien und Uhren auch Orgeln und Glocken vor, letztgenannte definitiv zu den Musikinstrumenten gehörend, wenngleich mit technisch wie tonal beschränkten Möglichkeiten, dafür aber einer im Mittelalter kaum zu überschätzenden Signalfunktion. Die knapp anderthalb Seiten über die Orgel konzentrieren sich auf die Frühzeit dieses Instrumentes und die Möglichkeiten, wie es in den Kirchendienst gelangt sein könnte, wo es in den abendländischen Kathedralen bis heute eine zentrale Funktion besitzt und in einem Fall sogar stilprägend wirkte: Die großen französischen Kathedralorgeln von Aristide Cavaillé-Coll bildeten die Voraussetzung für die Komposition der großen Orgelsinfonien etwa von Charles-Marie Widor – eine Entwicklung, die in keinem anderen europäischen Land, auch nicht in Deutschland mit seiner hohen Dichte an Kathedralen, eine Entsprechung fand.
Darüber hinaus webt der Autor die Musik an jeweils passenden Stellen aber wie selbstverständlich in seine Argumentation ein – so selbstverständlich, wie an heutigen deutschen Kathedralen die Kirchenmusik gepflegt wird. Das Kapitel über die liturgischen Grundlagen beinhaltet auch eine Kurzdarstellung des Aufbaus einer Messe im musikalischen Sinne, wie sie von vielen großen Komponisten der Vergangenheit (und einigen der Gegenwart) in Töne gegossen wurde – aber das ist nicht die einzige Stelle im Buch: Wenn Ohler die Kathedrale als Krönungsort verschiedenster Herrscher beschreibt, kommt selbstredend auch die Musik zu ihrem Recht, seien es die Orgeln, die zur Krönung Karls des Großen 800 in Rom erklungen sein sollen, oder Mozarts Krönungsmesse, die paradoxerweise gar nicht zur Krönung eines weltlichen oder geistlichen Herrschers, sondern in Erinnerung an die bereits 28 Jahre zurückliegende Weihe eines Marienbildnisses in einer Wallfahrtskirche in der Nähe von Salzburg entstanden ist.
Ohler schreibt wie bereits erwähnt äußerst komprimiert und schafft es, enorm viel Wissen auf enorm wenig Raum zu verpacken, was das Lesen durchaus fordernd macht, allerdings auch viel Wissenszuwachs in kurzer Zeit ermöglicht. Ob man mit dem Finger in den Endnoten liest, von denen es insgesamt 940 gibt – da kommt der Wissenschaftler in Ohler durch –, oder ob man das bleiben läßt, muß jeder selber entscheiden; für den Rezensenten hat es sich als praktikabel erwiesen, immer eine Seite (oder ggf. ein Subkapitel) zu lesen und dann jeweils die zugehörigen Endnoten zu studieren: Wenn man bei jeder Endnote nach hinten blättern will, kommt man aus dem Blättern nicht mehr heraus. Das Werk ist grundsätzlich mit wissenschaftlichem Anspruch verfaßt worden, wenngleich es einen populärwissenschaftlichen Zugriff ermöglicht. Erstmals 2002 erschienen, kam 2007 eine laut Impressum „durchgesehene, überarbeitete“ Taschenbuchausgabe heraus – leider scheint aber niemand die Überarbeitungen durchgesehen zu haben: Einzelne Passagen, offenbar die 2007 hinzugefügten, weisen eine erhöhte Fehlerdichte gegenüber dem nahezu fehlerfreien Haupttext auf. Das ist schade, denn so hinterläßt die Überarbeitung einen gewissen Eindruck der Verschlimmbesserung, der so nicht nötig gewesen wäre. Auch die Frage zusätzlicher oder weggefallener Endnoten hätte man ein wenig eleganter lösen können, und beim Durchsehen hätte auf S. 395 der Satz ins Auge fallen können, die Rekonstruktion der Frauenkirche in Dresden sei noch nicht abgeschlossen – das traf 2002 noch zu, aber bereits im Herbst 2005 und damit definitiv vor 2007 fand die Wiederweihe der bis auf geringe Restarbeiten fertigen „neuen“ Frauenkirche statt, in deren erstem Bläsergottesdienst im November 2005 der Rezensent weiland selbst mitgespielt hat, zusammen mit 1600 Instrumentenkollegen aus ganz Sachsen. Interessanterweise findet sich die Unfertigkeitsbehauptung auf S. 406 im Kapitel „Finanzprobleme“ gleich noch einmal, hier im Verbund mit den Stadionbaukosten für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die als 2002er Prognose angegeben werden, 2007 aber durchaus schon als reale Größe bekannt waren. Zum Glück trüben diese eher strukturellen Bemerkungen und kleinen Ungenauigkeiten den inhaltlichen Hauptaspekt kaum und lassen Ohlers Buch nach wie vor als prinzipiell gelungene kunst- wie religionshistorische Abhandlung dastehen, deren Lektüre als Einstieg ins Thema aber nur dann zu empfehlen ist, wenn man mit dem beschriebenen sehr kompakt-komprimierten Schreibstil des Autors umzugehen weiß.
Gleich etliche Male kommt die Kathedrale Notre-Dame de Paris im Buch vor, die in ihrer herausgehobenen Position selbstverständlich als passendes Beispiel für vielerlei Aspekte rund um die Kathedrale per se gelten kann. Was Ohler 2002 wie 2007 selbstredend nicht ahnen konnte, ist die Brandkatastrophe, die jenes Bauwerk im April 2019, kurz vor der Vollendung dieser Rezension, heimsuchte – ein Kapitel über den Wiederaufbau einer zerstörten Kathedrale gibt es im Buch aber auch, das sich mit den Geschehnissen in Canterbury nach dem Brand von 1174, der Teile der dortigen Kathedrale schwer in Mitleidenschaft zog, beschäftigt. Gleich an mehreren Stellen des Buches aber findet sich paradoxerweise ein Hinweis auf Debatten, ob man das Geld für den Bau bzw. den Wiederaufbau einer Kathedrale nicht lieber für einen sozialen Zweck hätte ausgeben sollen: eine Argumentation, die sich durch all die vielen Jahrhunderte zieht und im April 2019 in Frankreich prompt wieder aufflammte, als übereifrige Kolumnisten diverse französische Milliardärsfamilien schalten, sie hätten zwar sofort riesige Summen für den Wiederaufbau von Notre-Dame de Paris versprochen, würden sich aber zurückhalten, wenn es z.B. um den Wiederaufbau von Syrien geht – eine Schelte, die trotz eines wahren Kerns (Unglücke in der Nähe berühren den Menschen im Regelfall tiefer als solche in der Ferne) am eigentlichen Problem vorbeigeht und begrüßenswertes philanthropisches Engagement in ein völlig unangebrachtes zweifelhaftes Licht rückt. Somit bekommt das Buch vor diesem Hintergrund noch einen ganz ungeahnten Wert, indem es auch hier die übers Ziel hinausschießenden Beteiligten an der Debatte (zu denen selbst der französische Präsident Emmanuel Macron zählt, der den Wiederaufbau als Machtsicherungsmittel für sich begreift und eine Wiederaufbaufrist von fünf Jahren setzt, obwohl selbst die optimistischsten Experten von mindestens zehn Jahren ausgehen – historische Parallelen zu dieser Erscheinung finden sich im Buch gleichfalls mehrfach) auf den Teppich zurückholen könnte, wenn diese das denn zuließen. So liefert die Lektüre des Buches aktuell noch zusätzliche Denkanstöße, wenngleich man auf die ebenjene verursacht habende Katastrophe natürlich liebend gerne verzichtet hätte.
Roland Ludwig
Zurück zur Artikelübersicht |