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Zeit: 27.09.2018
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Louise Martinsson
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
Üblicherweise erklingt das jeweilige Programm eines Grossen Concerts im Leipziger Gewandhaus innerhalb einer Woche zweimal, nämlich donnerstags und freitags – in jüngerer Vergangenheit aber ist die Nachfrage so groß geworden, dass für einige Programme noch ein dritter Termin angesetzt wird, entweder sonntags als Matineekonzert oder ganz neu auch am Samstagabend. Im Normalfall bleibt das Programm bei allen Aufführungen identisch – aber es gibt Ausnahmen, und eine solche tritt in der letzten Septemberwoche 2018 auf: Wer das dritte Konzert, das am Sonntag, besucht, hört als erstes Werk nicht Rolf Martinssons Trompetenkonzert „Bridge“, sondern „Nobody knows de trouble I see“ von Bernd Alois Zimmermann, das bereits in der Vorsaison am 1. und 2. März 2018 an gleicher Stelle gespielt worden war (siehe Rezension auf diesen Seiten).
Keine Ahnung, warum es diesen Wechsel gibt – der Solist jedenfalls ist der gleiche: Håkan Hardenberger, auch Widmungsträger des Martinsson-Konzertes, der es 1999 in Göteborg zur Uraufführung gebracht hat. Im Gewandhaus dagegen erklingt es an diesem Abend zum ersten Mal, womit dort überhaupt erstmals ein Werk des 1956 geborenen Martinsson (Foto) auf dem Programm steht. „Bridge“ ist zwar dreiteilig angelegt, aber nicht offiziell in Sätze gegliedert. Einem düster-entrückten Beginn aus Klavier, tiefen Streichern und tiefem Schlagwerk setzt der Solist eine strahlende Einführung entgegen, was in diverse Duelle mit verschiedenen Instrumentengruppen mündet, unterbrochen gelegentlich von Verharrungen und Rückblicken. Das Grundtempo bleibt allerdings auch dann weit unten, wenn obendrüber Hektik und Kampf ausbrechen. Entrückte Passagen der Solotrompete über harfendominierten Teppichen leiten über zur ersten Kadenz, eher grüblerisch, aber nicht düster gestaltet. Düsternis kommt später noch, aber der verdunkelte Schrägbombast, den Hardenberger wieder ohne Dämpfer durchschneidet, bleibt ein Strohfeuer, selbst wenn mal kurz richtiger Lärm entsteht, der freilich im schleppenden Bereich bleibt und nur kurz Speed antäuscht. Tibetanisch anmutendes Gebimmel endet plötzlich vor der zweiten Kadenz, die ebenso plötzlich nach nur kurzer Zeit abbricht und einer Kampfintensivierung Platz macht, in der selbst der Solist streckenweise schweigen muß. Das hin und her wogende Geschehen verlangt ihm allerdings eine enorme Energieleistung ab, die der Schwede freilich ohne mit der Wimper zu zucken liefert: Man hört ihn fast überall exzellent durch – Dirigent Andris Nelsons dosiert den Orchesterbombast also offensichtlich fast durchgängig genau richtig, einzig im etwas eingeklebt wirkenden breiten Triumphteil geht der Solist dann klanglich doch unter. Kurz bevor der Hörer des Kampflärms überdrüssig wird, hängt der Komponist einen schrill-schrägen Schluß an, der dem Trompeter nochmal alles an Restenergie abverlangt und dem Publikum einiges an Applaus entlockt. Martinsson ist selbst im Saal, kommt aber trotz Aufforderung nicht mit auf die Bühne, und Konzertmeister Frank-Michael Erben beendet im zweiten Vorhang die Versammlung auf der Bühne so nachdrücklich, dass keiner mehr auf die Idee kommt, etwa eine Zugabe erklatschen zu wollen.
Gustav Mahlers 5. Sinfonie zählt zum Kernrepertoire des Gewandhausorchesters – beim einzigen Mal, da der Rezensent das Werk im Gewandhaus hörte, spielten allerdings nicht die Hausherren, sondern das Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela unter dem damaligen Shooting Star Gustavo Dudamel, der weiland beispielsweise den ersten Satz mit einer überraschenden Leichtigkeit hatte nehmen lassen, obwohl Mahler dort „Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt“ drübergeschrieben hatte. Elf Jahre ist das jetzt her – und der Rezensent staunt an diesem Abend hier und da die berühmten Bauklötze: Andris Nelsons folgt bisweilen einem ähnlichen Pfad, wie schon die ersten Tutti-Ausbrüche demonstrieren. Und wie man einen Trauermarsch, zumindest am Anfang, trotz Zeitlupentempos derart federnd spielt, das muß dem Gewandhausorchester erstmal jemand nachmachen. Der Dirigent lehnt bisweilen an der rückseitigen Begrenzung des Dirigentenpults, läßt ganz und gar nicht streng musizieren, betont dafür stärker die ironischen Aspekte der kurzen Tempoausbrüche und bekommt immer eine logische Linie ins endlos anmutende Hin und Her. Die späteren Ausbrüche beläßt er weit von etwaigen Dynamikgipfeln entfernt, und die Spannung im Satzschluß über der enorm leisen Großen Trommel läßt sich förmlich mit Händen greifen.
Mahler wollte nach dem ersten Satz eigentlich eine Pause, welche diejenige nach dem ersten Satz der Zweiten (dort wünschte er sich fünf Minuten) noch übersteigen sollte. Diesen Wunsch erfüllt ihm Andris Nelsons nicht, es geht gleich mit dem zweiten Satz weiter, über dem „Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ steht. Aber die Vehemenz bleibt an diesem Abend trotz intensiven Gesäges überschaubar, ohne dass man das freilich als Mangel empfinden würde. Die von den Celli verströmte Ruhe hingegen gerät nicht zu schwelgerisch, und im wieder ausgewalzten Hin und Her stecken deutlich mehr Wendungen als im ersten Satz. Selbst hier wirkt aber noch alles recht luftig, während der Choral eher beiläufig eingestreut anmutet. Wermutstropfen im Satzschluß: Ein einziger Huster bringt die ganze im Pizzikato aufgebaute Spannung zum Einsturz.
Dass auch das Scherzo keine neuen Brutalitätsrekorde aufstellen wird, macht Nelsons schon klar, indem er immer mal wieder entspannt am Gitter lehnt und die linke Hand nach hinten ruhen läßt. Zunächst fällt auf, dass Laibach sich für ihre „Life Is Life“-Coverversion das Hornthema ziemlich genau angehört haben könnten, dann entwickelt sich die erwartete Leichtigkeit erneut, das Tempo bleibt überschaubar („nicht zu schnell“ wollte Mahler auch), und die Tuttischläge kommen mit einiger Rabiatheit, sind aber weit von einem vernichtenden Charakter entfernt. Spieltechnisch klappt hier nicht immer alles wie erhofft: Die Hörner brauchen in diesem Satz etwas Anlaufzeit, Konzertmeister und Solotrompeter finden sich nicht immer. Das beeinträchtigt die Gesamtwirkung aber kaum, und für den Hallo-wach-Effekt vor dem Satzschluß muß Nelsons folgerichtig auch keine Grenzerfahrungen im Orchester inszenieren.
Angehörs der bisherigen Herangehensweise durfte man auf das berühmte Adagietto besonders gespannt sein. Das Ergebnis läßt sich kurz zusammenfassen: Überwiegend gelingt es schööön – seltsamerweise aber kommen hier einige der Streicher-Tutti etwas zu vehement und voluminös von der Bühne geschallt. Absicht im Hinblick auf ironische Brechung? Vielleicht. Jedenfalls hustet hier in die Schlußspannung keiner hinein, und so braucht das attacca anhängende Finale abermals keine Überlautstärke, um den gewünschten Kontrasteffekt herzuzaubern – ein Horn und etliche Kammermusikdialoge genügen auch schon. Interessanterweise verfolgt Nelsons jetzt eine dem ersten Satz reziproke Strategie: Er legt auch unter an der Oberfläche eher zähe Passagen einen flotten Grundbeat (Mahler will ja auch ein Allegro haben). Trotzdem bleibt Zeit, um auch hier mal wieder entspannt die Hand zum Gitter zu führen – Tänze à la Gustavo Dudamel aber bekommt man von dem Letten nicht zu sehen. Die Lavierstrategie durch Mahlers weite Welten gelingt abermals gut, die große Steigerung lehrbuchreif, und im Schluß folgt der Dirigent weiter seiner Strategie: Ein ausgemeißelter Triumphschluß hätte nicht zur eher luftigen Interpretation gepaßt, also gibt’s auch keinen, aber er fällt trotzdem noch triumphal genug aus, dass die ersten Applaudierenden nicht mal das Ende des Schlußtons abwarten können und der verdiente Jubel insgesamt sehr intensiv anmutet.
Roland Ludwig
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