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Artikel

Die Erweiterung der Kunstformen: Das Gewandhausorchester spielt nicht nur sinfonische Werke von Haydn, Bernstein, Prokofjew und Schostakowitsch

Info

Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 21.09.2018

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Felix Broede

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

In den ersten anderthalb Jahrhunderten der Konzertreihe des Gewandhausorchesters war es Usus, dass der Sinfonik nur ein Teil des Programms gehörte – dazu traten andere Musikgenres, etwa die Kammermusik, Opernausschnitte oder Kunstlieder. Das begann sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts schrittweise zu ändern, als zum einen die Sinfonien immer länger wurden und zum anderen auch das instrumentale Solokonzert immer größere Dimensionen anzunehmen begann. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts steigerte dieser Prozeß seine Dynamik noch, so dass im 20. Jahrhundert fast reine Orchesterkonzerte dominierten, ergänzt allenfalls durch Gesang bei chorsinfonischen Werken. Dabei blieb es im Prinzip bis heute, und das Auftauchen anderer Musikgenres oder gar anderer Kunstformen in den Konzertprogrammen ist zur Seltenheit geworden. An diesem Septemberabend aber passiert gleich beides: Neben zwei Sinfonien treten ein Kammermusikwerk als Vertreter eines anderen Musikgenres sowie eine Ballettmusik, die nicht rein konzertant, sondern auch von drei Ballett-Tänzern dargeboten wird.

Die beiden Sinfonien rahmen das Programm, und deren erste ist Joseph Haydns Sinfonie G-Dur Hob. I:88, ein Werk mit kurioser Veröffentlichungsgeschichte, da ein geschäftstüchtiger und gerissener Geiger aus Haydns Orchester das Werk gleich an mehrere Verlage parallel verkaufte und zumindest einem von diesen weitere angebliche Haydn-Sinfonien unterjubelte, die aber gar nicht von Haydn stammten. Der Popularität des Werkes hat das keinen Abbruch getan, auch im Gewandhaus erklang es diverse Male – allerdings zumeist in den früheren Gewandhausbauten. Der riesige Raum des aktuellen Dritten Gewandhauses erscheint für klein besetzte Sinfonien der Wiener Klassik oder noch früherer Perioden nicht automatisch geeignet, aber das Ohr des Hörers gewöhnt sich schnell an die Lage, zumal Dirigent Omer Meir Wellber dem noch etwas indifferent anmutenden Adagio-Auftakt des einleitenden Allegro-Satzes einen deutlich raumfüllenderen Hauptteil anfügt und für die überschaubare Orchestergröße im beschriebenen riesigen Raum auch ein erstaunlich weites Dynamikspektrum realisieren kann. Das Grundtempo des Hauptteils nimmt der Israeli allerdings ziemlich flott und an der Grenze zur Überhastung, was freilich den Eindruck der Frische befördern hilft, zumal es an der Spielsicherheit des Orchesters, zu dessen Kernrepertoire Haydn heutzutage längst nicht mehr zählt, so gut wie nichts zu deuteln gibt und die wenigen Verharrungen ihre Kontrastwirkung voll ausüben können.
Im Largo findet die Quasi-Solostimme des Cellos zunächst keine Bindung zum Klangrest, aber das Problem bleibt in diesem Satz singulär. Meir Wellber wählt ein gemächlich schreitendes Tempo, verfällt aber nicht ins Schleppen und hält auch den Kontrast zum hier ungewöhnlichen Pauken-und-Trompeten-Einsatz eher gemäßigt, nimmt ihn erst in der Wiederholung etwas krasser. Die Grundlieblichkeit des Satzes tasten solche Momente freilich nicht an, und eine Portion Witz ahnt man auch hier.
Das Menuett lagert an diesem Abend an der Grenze zur Überakzentuierung, was aber der Raumsituation geschuldet sein mag, die ein breiteres Spiel rhythmisch ins Nirwana führen würde. Trotzdem will sich in diesem Satz des öfteren kein Gefühl des gemeinsamen Musizierens einstellen, agiert die Pauke seltsam autonom und knarzt das Fagott im Trio zwar enorm klangschön, aber auch wie ein Fremdkörper im solide vor sich hin schreitenden Rest.
Zum Finale beginnt der Dirigent auf seinem Podest zu tänzeln, schraubt das Tempo enorm hoch und läßt die abermals etwas fremdkörperhaft wirkenden Trompeten und Pauken gegen die vom Rest des Orchesters beigesteuerte Leichtigkeit unterliegen. Das hat freilich seinen Preis: Im „Endspurt“, wie das Programmheft treffend schreibt, steigert sich das Tempo nochmals, und das ergibt an diesem Abend ein Level, das im 18. und 19. Jahrhundert die Zuhörer und möglicherweise auch die Musiker reihenweise hätte zusammenbrechen lassen. Freilich sind wir im 21. Jahrhundert anderes gewohnt, und so entspinnt sich gleich nach dem Schlußton auch intensiver Beifall, der aber ähnlich schnell vorüberzieht wie der Schlußteil des Finalsatzes.

Leonard Bernstein hätte anno 2018 seinen 100. Geburtstag gefeiert, und so stehen Werke von ihm aktuell recht häufig auf den Orchesterspielplänen. Das an diesem Abend gespielte stellt sogar eine Gewandhaus-Premiere dar: Facsimile – Choreographic Essay for Orchestra heißt es und stellt die Konzertfassung des Balletts Facsimile dar, die aber im Gewandhaus nicht etwa konzertant gespielt wird: Patricia Klages, Tom Bergmann und Nicola Miritello vom Ballett der Musikalischen Komödie Leipzig tanzen dazu nach einer Choreographie von MuKo-Ballettchef Mirko Mahr. Die Bühne ist folglich nach vorn vergrößert worden, zumal sich auch die Anzahl der Instrumentalisten mal eben verdoppelt. In der eher kammermusikalisch geprägten Einleitung ist allerdings noch kein Tänzer da, Patricia Klages bewegt sich erst langsam nach vorn, akustisch gestützt durch die Flöte. Handlung des Balletts ist eine klassische Dreiecksgeschichte, in der die Frau zum Schluß allerdings beide Männer verliert und so einsam zurückbleibt, wie sie anfangs auf die Bühne gekommen ist. Die schrittweise Dramatisierung beginnt mit dem Erscheinen von Tom Bergmann, was einen wendungsreichen Szenemix aus Krise und Harmonie zur Folge hat, einige wildere Ausbrüche ebenso inclusive wie klavierdominierte Passagen, die eine solche strukturelle Bedeutung annehmen, dass Pianistin Hazel Beh im Programm gesondert genannt wird. Erstaunlicherweise gibt es nach dem Hinzukommen von Nicola Miritello kaum große Konfliktszenen zwischen den beiden Männern – offensichtlich sorgt die Frau schon alleine für die katastrophale Entwicklung, so dass beide Männer schließlich verschwinden, und zwar im Gegensatz zum Originalballett hier gleichzeitig, so dass die in ein rotes Minikleid gehüllte Patricia ohne Umschweife mit ihrer Schlußelegie beginnen kann. Vor allem sie weiß mit ihrem offenbar ausschließlich aus Gummi bestehenden Körper einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, was freilich die Leistung ihrer beiden Partner, die programmgemäß in Alltagskleidung tanzen, nicht schmälern soll, welche folgerichtig aus dem Publikum auch mit einigen Bravi honoriert wird, obwohl sich zumindest der Ballettlaie an einigen Stellen doch über die Abstimmung zwischen Musik und Choreographie gewundert hat.

Nach der Pause folgt eine weitere Gewandhauspremiere: Zwar hat Rudolf Barschai anno 1991 die Kammerorchesterfassung von Sergej Prokofjews Ouvertüre über hebräische Themen op. 34 hier schon einmal zum Erklingen gebracht, die Kammermusikfassung aber wird nun zum ersten Mal gespielt. Hinterher weiß man auch, warum Kammermusik im Großen Saal nicht per se eine gute Idee ist: Die Schwierigkeiten im Raumfülleffekt potenzieren sich gegenüber der kleinen Orchesterbesetzung noch, und wenn zudem auch das Zusammenspiel nicht richtig funktioniert, wie das an diesem Abend passiert, dann nützt das interessanteste Stück nichts. Zwar bekommt das bühnenaktive Sextett zumindest einen gekonnten Klezmer-Touch in die Musik, aber das Gefühl, dass die Musiker miteinander und nicht nur gleichzeitig spielen, bleibt völlig auf der Strecke. Die Klarinette übertönt, wenn sie zum Einsatz kommt, alle anderen, das diesmal vom Dirigenten bediente Klavier findet keinerlei Bindung zu den Saiteninstrumenten, auch nicht zum Cello, mit dem es eigentlich eine feist groovende „Rhythmusgruppe“ bilden soll, und so bleibt leider ein hochgradig seltsamer Eindruck zurück, der dem nicht uninteressanten eklektizistischen Grundansatz Prokofjews nicht gerecht wird.

Zum Glück reißt die zweite Sinfonie des Programms die Kastanien noch aus dem Feuer: Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 10, geschrieben 1926 als Diplomarbeit am Leningrader Konservatorium, trat damals schnell einen Siegeszug rund um die Welt an, und auch die erste Aufführung im Gewandhaus ließ nur drei Jahre auf sich warten. Zwar begegnet man dem Werk heutzutage nicht mehr allzuoft, aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, zumal man mit ihm ganz andere Gestaltungsmöglichkeiten hat als mit Schostakowitschs späteren Riesensinfonien – es sprüht unbekümmerter Witz aus fast allen Momenten, und sie dauert auch nur eine halbe Stunde. Besagter Witz braucht im „Allegretto – Allegro non troppo“ überschriebenen Eröffnungssatz keineswegs bis zum Allegroteil, um sich erstmals Bahn zu brechen, der Dirigent tänzelt wieder auf seinem Pult und schafft es, eine ideale Linie durch die zunächst eher kleinteilige Struktur zu legen, bevor er im Allegro-Teil einen eleganten Groove findet, den man in der Prokofjew-Ouvertüre so vermißte. Das Talent für schräge Massenbildungen bewies der gerade 18jährige Komponist schon hier, der etwa doppelt so alte und trotzdem noch unter die jungen Shooting Stars zu zählende Dirigent und das Gewandhausorchester treten ihrerseits den Beweis an, den teilweise episodischen Charakter trotzdem zu einem klanglichen Ganzen formen zu können. Und die Episoden selbst machen Laune, egal ob da eine Niedermähung ins Nichts führt oder die Flöte eine grundsätzliche Lieblichkeit ins Geschehen einbringt.
Im Allegro an zweiter Satzposition inszenieren Komponist und Dirigent eine flotte Jagd, von Trommelschwung und einigen Klavierläufen befeuert – der Witz verlangt allerdings dann den Übergang in einen sanften Trauermarsch sowie dessen schrittweise Weiterentwicklung. Auch der scheinbare Bombastschluß, dem dann doch noch einiges Geplänkel folgt, läßt den Hörer mit einem breiten Grinsen zurück, das die letzte Trauermarschandeutung durchaus nicht wegwischen kann.
Der Lento-Satz gestaltet sich zunächst als zur Abwechslung mal weitgehend unironische und liebliche Streicherwiese mit Solocello und Holzunterstützung, aber die ersten Störungen lassen nicht lange auf sich warten. Die Weiterentwicklung nimmt der Dirigent scheinbar linear, aber auch das bleibt Episode, und vor allem der Gong sorgt für Schrägheit. Die vom Orchester gezeichnete Klanglandschaft wandelt sich zu Weite, aber Kargheit, Trübsal und Bedrohung nehmen zu, und in den scheinbar friedlichen Schluß, der selbst ein Trompetensolo als Ruheelement bringt, deuten nur die Schlagwerker an, dass das nicht so bleiben wird.
Schon der Lento-Einstieg ins attacca anhängende Finale läßt ahnen, dass da etwas nicht stimmt, und Dirigent und Orchester bringen dieses unbehagliche Gefühl genauso gekonnt zum Ausdruck wie den wild herausfahrenden Charakter des Allegro-molto-Hauptteils. In die von Konzertmeister Andreas Buschatz gekonnt interpretierten Ruhepole mischt das Glockenspiel einen sinistren Charakter ein, aber bald jagt wieder alles hin und her, ein Pseudoschluß mündet in ein Paukensolo und mäht dann noch die Wiese aus dem 3. Satz ab, bevor der Dirigent ganz nach klassischer Anschauung den Dynamikgipfel in den knackigen Schlußlärm legt. Der anfänglich leicht verwirrt wirkende Applaus wird bald deutlich intensiver, und etliche Bravi belohnen einen sehr starken Finalbeitrag eines nicht durchgängig überzeugenden Konzertes.

Roland Ludwig


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