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Info
Zeit: 08.09.2018
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Marco Borggrefe
Internet:
http://www.bso.org
http://www.gewandhausorchester.de
http://www.andrisnelsons.com
Gustav Mahlers 3. Sinfonie d-Moll setzen die Programmplaner gerne dann an, wenn es bestimmte Höhepunkte zu markieren gilt – das Werk bedarf eines hohen personellen Aufwandes, bietet aber auch die Möglichkeit, die eigenen Chorensembles (wenn man über solche verfügt) einzubeziehen, es bedarf keines zweiten Werkes neben sich, um ein Konzertprogramm zu füllen, es weist ein gerüttelt Maß an Monumentalität und auch Festlichkeitscharakter auf, es will laut dem Komponisten nichts Geringeres als die Welt darstellen und reflektieren, und es stellt natürlich auch für jedes Spitzenorchester und jeden Dirigenten von Rang eine reizvolle Herausforderung dar. Im „normalen“ Spielzeitbetrieb begegnet man diesem Koloß seltener, und als Tourneestück hat er gar Raritätenwert. Das Boston Symphony Orchestra schultert nun auf seiner aktuellen Europatournee, der dritten unter Leitung von Andris Nelsons, diese Herkulesaufgabe nicht nur, sondern koppelt sie gleich noch mit einer zweiten: Es gibt zwei Tourprogramme, und im zweiten steht neben Bernsteins „Serenade (after Plato’s ‚Symposium‘)“ noch Schostakowitschs 4. Sinfonie auf dem Plan, also ein ähnlich anspruchsvoller Koloß, wenngleich ohne Vokalpart.
In den meisten Tourneestädten gastiert das Orchester an zwei Abenden mit jeweils einem der Programme, in Leipzig allerdings nur an einem Abend, und an selbigem gibt es Mahler. Das ist einerseits erfreulich, andererseits schade, weiß man doch, dass Andris Nelsons nicht nur für Mahler, sondern auch für Schostakowitsch ein ganz spezielles Händchen besitzt. Aber da schon in der letzten Saison mehrfach Schostakowitsch-Sinfonien im Gewandhaus erklangen und dem auch in der aktuellen Saison so sein wird, bleibt zu hoffen, dass die Vierte, die in der aktuellen Saison nicht dabei ist, in einer der nächsten Spielzeiten auch aufs Programm gelangen wird. Mahlers Dritte wiederum hatte anno 2016 letztmalig auf dem Plan gestanden – zwei Grosse Concerte und ein Festkonzert sollten das Grande Finale von Riccardo Chaillys Amtszeit als Gewandhauskapellmeister darstellen, und dass der Mann mit Mahlers Sinfonien allgemein und mit der Dritten speziell eine kongeniale Symbiose einzugehen in der Lage ist, weiß man beispielsweise anhand der Darbietung der Dritten anno 2006 in den Festkonzerten zum 25jährigen Bestehen des aktuellen Gewandhausbaus. Aber 2016 kommt es nicht zu einer Wiederholung dieser Symbiose: Chailly sagt die drei Konzerte krankheitsbedingt kurzfristig ab – Nelsons springt spontan für die beiden Grossen Concerte ein, das Amtsfinalkonzert aber fällt natürlich aus, und der Rezensent, der eigentlich selbiges besuchen wollte, schaut in die Röhre, da er die beiden anderen Konzerte nicht im Kalender unterbringt.
Nach so viel Vorgeschichte nun endlich hinein ins Geschehen dieses Abends: Der Eröffnungssatz „Kräftig. Entschieden“ sprengt selbst für Mahler-Verhältnisse spielzeittechnisch alle Dimensionen, und ihn zu gestalten bildet für jeden Dirigenten eine Herausforderung. Nach dem kurzen Eröffnungsgeschmetter stellt sich hier erstmal musikalische Finsternis ein, Nelsons krümmt seinen Körper fast zum rechten Winkel, beugt sich nach vorne übers Notenpult und zieht den Musikern „seines“ Boston Symphony Orchestra (die sich – andere Länder, andere Sitten – übrigens vorher allesamt auf der Bühne warmspielen und nicht, wie das bei deutschen Orchestern üblich ist, dahinter, so dass es seitens der Instrumentalisten auch keinen gemeinsamen „Einzug“ auf die Bühne gibt, während die Damen des GewandhausChores und der GewandhausKinderchor in üblicher Manier zu Konzertbeginn gemeinsam in den Saal kommen, wo sie auf der Orgelempore Aufstellung nehmen) die nun folgenden Einzeleinsätze förmlich aus den Instrumenten – ein gutes Zeichen, da seinen üblichen Gestaltungswillen hier gleich zu Beginn bekundend, und der bringt die Weltenfinsternis, die Mahler hier vertont hat, gleich kongenial zur Wirkung, auch wenn einzelne Passagen im Blech noch bedenklich wackeln. Das stört die Grundstimmung freilich nicht, und die Betreffenden wissen sich auch rapide zu steigern – mit welcher Leichtigkeit etwa die Trompeter die Forte-Piano-Übergänge an bestimmten Phrasenenden hervorzaubern, das nötigt schon Respekt ab. Konzertmeisterin Tamara Smirnowa steht dem mit ihrem herrlich ätherischen Spiel im „Nebenthema“ freilich nicht nach, und die Trauermarschentwicklung gelingt jederzeit spannend, obwohl oder vielleicht auch weil das Ganze keinen apokalyptischen, sondern einen etwas neutraleren Gestus annimmt. Der Kontrast zum fröhlichen Holzgetümmel und Streichergeflirre gelingt auch so noch wirkungsvoll genug, und wenn die Musiker einen lockeren Marsch fast böhmisch herüberbekommen, treffen sie damit nicht nur bezüglich des Backgrounds des Komponisten ins Schwarze, sondern lassen zudem fragen, ob Böhmen neuerdings an der amerikanischen Ostküste liegt. Robert Sheenas keckes Englischhornspiel fügt sich da prächtig ein, während Nelsons stets das große Ganze im Blick behält und lehrbuchreife Dynamikentwicklungen hervorzaubert, die einen die Länge dieses Satzes völlig vergessen lassen. In die intensive Passage vor dem Ferntrommeleinsatz legt der Dirigent schon ein beträchtliches Maß Wildheit, den anschließenden Hornchoral meißeln seine Leute förmlich im Ganzen aus dem Fels, und über weitere düstere Landschaften und munteres Gewienere erreicht der Satz ein intensives Finale, in dem die neun (!) Hornisten förmlich um ihr Leben blasen und dabei ihre Schalltrichter in die Luft recken.
Die Schlußwirkung ist derart intensiv, dass zwei Menschen spontan losklatschen wollen – aber sie merken schnell, dass da noch was kommt. Eigentlich wünschte sich Mahler zehn Minuten Pause zwischen dem ersten und den Folgesätzen und damit noch fünf mehr als in der Zweiten – Nelsons verkürzt diese Zeit allerdings stark und baut nur etwas an seinem Notenständer herum, bevor er den Einsatz zum „Tempo di Minuetto. Sehr mäßig“ gibt. Mit diesem Satz erreicht Mahlers Weltenschilderung die belebte Sphäre und hier zunächst das Pflanzenreich. Nelsons, sonst durchaus ein Freund extremer Herangehensweisen, verkneift sich eine solche hier und gestaltet den Satz elegant und förmlich „blumig“, die einzige plötzliche Intensivierung quasi nebenbei aus dem Ärmel schüttelnd. Witz ist da, wenn er gebraucht wird, und er hat hier kaum mal einen doppelten Boden. Die winzigen Verschleppungen in Richtung des Schlußtempos muß man mit einem riesig besetzten Orchester erstmal so hinbekommen, wie das an diesem Abend hingezaubert wird, und der Spannungsaufbau im Satzschluß gelingt auch prächtig.
„Comodo. Scherzando. Ohne Hast“ ist der Satz über das Tierreich, der abermals mit Lieblichkeit anhebt, die allerdings hier viel stärker konterkariert wird, und auch der Humorboden ist diesmal trügerisch und verläuft über einem Abgrund. Vielleicht liegt hier in der Entwicklung an diesem Abend doch ein Tick zuviel Hast, und vor allem die absteigende Tuttipassage klingt bei ihrem ersten Auftreten, als wäre ein hungriger Komodowaran hinter den Musikern her, um sich unter ihnen sein Frühstück auszusuchen. Für diesen kleinen Problemfall entschädigt die ausgedehnte Passage, in der der Ferntrompeter über einem Teppich aus den ersten Violinen ruft – die dort aufgebaute Spannung läßt sich mit Worten mal wieder nicht beschreiben und verrät die große Kunstfertigkeit der Beteiligten. Auch allgemein nimmt der Bedrohlichkeitsfaktor im weiteren Verlauf des Satzes zu, so dass die erwähnte Tuttipassage in ihrer Wiederkehr viel besser ins umliegende Geschehen eingepaßt wirkt. Im Satzschluß holzt Nelsons den Wald nach allen Regeln der Forstwirtschaft ab, bleibt vom möglichen Dynamikgipfel allerdings ein gutes Stück entfernt, erntet indes trotzdem nach Satzende ein einsames Bravo von links hinten.
Aber noch ist keineswegs Schluß, denn es kommen ja noch die Gesangsteile. Im vierten Satz „Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp“ hat zunächst Mezzosopranistin Susan Graham ihren Auftritt, und ihre warme, gedeckte Stimme paßt gut sowohl zur Musik per se als auch zu Nelsons‘ Interpretation, der „Sehr langsam“ ernst nimmt, aber keine absolute Dunkelheit inszeniert. Graham leuchtet stimmlich trotzdem oder gerade deswegen prächtig, singt deutlich, ist ebenso deutlich durchhörbar und nur gegen einige Holzpassagen akut gefährdet. Was alle Beteiligten an Tiefe in die „O Mensch“-Reprise legen, das ist Spitzenklasse, die Düsternis nimmt danach zu, und auch wenn die hinteren Gesangspassagen mitunter ein wenig faserig anmuten, so gelingt doch abermals ein enormer Spannungsaufbau am Ende.
Der fünfte Satz macht der Spannung aber schnell ein Ende – „Lustig im Tempo und keck im Ausdruck“ möchte Mahler diesen Engelsgesang haben, der attacca in die Schlußspannung des vierten Satzes den Kinderchor mit „Bim-bam“-Passagen plaziert. An einigen Stellen übertönt das Orchester die Chöre zu stark, wobei das Quasi-Niedermähen am Ende der zweiten Strophe programmgemäß geschieht – meist aber gelingt ein gutes Miteinander, und in den wenigen A-Cappella- bzw. Fast-A-Cappella-Passagen erkennt man die Klasse sowohl des GewandhausKinderchores als auch der Damen des GewandhausChores, die einige exzellente Klangwirkungen hervorzaubern und dort, wo sie choralartig, also im Stile eines Kirchenchores, agieren müssen, ganz besonders überzeugen, obwohl sie ja gar keine solchen sind.
Ähnliche Fähigkeiten braucht das Orchester im sechsten und wieder gesangslosen, „Langsam. Ruhevoll. Empfunden“ überschriebenen Satz, mit dem sich Mahler nach Materie, Pflanzen, Tieren, Menschen und Engeln nun der göttlichen Sphäre widmet, die er in theologischer Dimension allerdings mit „Liebe“ übersetzt, die Welt damit aber trotzdem irgendwie verlassend. Quasi der ganze Satz ist ein riesiger Choral und dementsprechend auch so zu spielen, anhebend mit langer Streicherentwicklung, später durch weitere Instrumente wie die Oboe ergänzt. Kurze Momente der Bedrohung kommen aus den Hörnern, aber sie haben keine Chance gegen den herrschenden Frieden. Diesen über viele Minuten hinweg so zu gestalten, dass der Hörer nicht in Morpheus‘ Arme abgleitet, bedarf eines intensiven Zugriffs, und den hat Nelsons auf seine Musiker, die ihm willig folgen. Und einen Orchestersound zwar raumgreifend, aber nicht raumfüllend zu gestalten, wie es Nelsons und dem Orchester gelingt, bedarf auch eines ganz speziellen Könnens und Einfühlungsvermögens. Nur die große Zentralsteigerung entfaltet noch einmal kurz Bedrohungspotential, aber die Flöte verkündet über dem Flirren der ersten Violinen, dass das nur ein Strohfeuer bleibt, und das Finale besteht wieder aus mannigfachen Choralvariationen, die Nelsons und seine Musiker trotz einiger kleiner Wackler in den Blechbläsern mit großer Klasse und exzellentem Tempomanagement meistern, viel Größe in den Schlußchoral legend – und die harmonischen Bewegungen der beiden Pauker optisch mitzuverfolgen steigert den Genuß hier noch. Dass sich in den Schlußton eine irgendwie seltsame Schwingung mischt – geschenkt: Die abermalige Nicht-Erklimmung des Dynamikgipfels gehört zum Konzept der ganzen Wiedergabe, für die Nelsons übrigens weit mehr als die im Programmheft genannten 90 Minuten braucht, nämlich reichlich 105 Minuten, womit er sich in der Nähe der einzigen im durchgehörten Teil der CD-Kollektion des Rezensenten befindlichen Vergleichsaufnahme plaziert (eine 1985er Einspielung von Lorin Maazel mit den Wiener Philharmonikern). Lauter, wenngleich nicht ganz frenetischer Jubel (für den letzten Kick sind die Orchesteremporen zu dünn besetzt) belohnt die Beteiligten an dieser hervorragenden Aufführung, der Ferntrompeter bekommt verdientermaßen den meisten Einzelapplaus, und (auch eine hierzulande unübliche Sitte) die im Schlußapplaus einzeln hervorgehobenen Musiker setzen sich nicht wieder, sondern bleiben stehen, welchletzteres auch auf das Gros des begeisterten Publikums zutrifft. Klasseleistung!
Roland Ludwig
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