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Zeit: 09.05.2018
Ort: Leipzig, Evangelisch-Reformierte Kirche
Fotograf: Holger Schneider (Dreieck Marketing)
Internet:
http://www.a-cappella-festival.de
Zu den traditionellen Spielstätten beim A-Cappella-Festival Leipzig zählt die Evangelisch-Reformierte Kirche, wo eine „Weltmusik“-Reihe etabliert wurde, in der jedes Jahr eine andere, zumeist recht außergewöhnliche Gesangskultur vorgestellt wird. Das ist auch 2018 nicht anders – wohl aber der Termin: Üblicherweise findet dieses Konzert am Donnerstag der zweiten Festivalwoche statt, diesmal aber schon am Mittwoch, da der Donnerstag der Himmelfahrtstag ist und die Kirche dann offenbar anderweitig belegt ist. Dem Publikumszuspruch tut die Abweichung von der Regel keinen Abbruch: Das Gotteshaus ist wie fast jedes Jahr exzellent gefüllt.
Zu Gast ist diesmal das Ensemble Ndima, eine Formation von Aka-Pygmäen aus dem kongolesischen Regenwald. Diese pflegen einen sehr eigentümlichen polyphonen Gesangsstil, welcher anno 2003 zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde, und ebenjenes Jahr ist auch das Gründungsjahr des Ensembles: Der kongolesische Ethnologe Sorel Eta hatte in den Mittneunzigern begonnen, die Kultur der Aka und somit auch ihren Gesang zu erforschen, baute zu vielen Aka eine vertraute Beziehung auf (obwohl er selbst nicht diesem Volk angehört, sondern den zu den Bantu-Völkern zählenden Ngangoulou, die Aka aber aufgrund der Tatsache, dass sie gerade mit den Bantu häufig im Streit liegen, eher unzugänglich oder zumindest vorsichtig sind) und entschloß sich schließlich zur Gründung einer relativ festen Formation, die fortan sowohl CD-Aufnahmen als auch Konzertreisen zu bestreiten begann. Bis auf den amerikanischen Kontinent haben es Ndima noch nicht geschafft, aber in Asien und in verschiedenen europäischen Ländern waren sie schon, auch Deutschland ist kein komplettes Neuland mehr für sie – es dürfte nicht überraschen, dass sie schon mal beim Tanz- und Folkfest Rudolstadt gastiert haben. Trotzdem sind Ndima-Auftritte natürlich rare Gelegenheiten, ein hochgradig originelles Repertoire quasi vor der Haustür kennenzulernen, ohne erst in den kongolesischen Regenwald reisen zu müssen, und so macht sich eine gespannte Stimmung breit.
Die aktuelle Tourbesetzung Ndimas wäre theoretisch zu siebt, aber eine der Sängerinnen ist erkrankt, und somit steht nur ein Sextett im Altarraum der Kirche. Dabei fällt eine klare Arbeitsteilung auf: Den Löwenanteil des Gesangs bestreiten die drei weiblichen Mitglieder in wechselnden Konstellationen von Solo bis Trio, nur für einige wenige Nummern gesellen sich auch die beiden männlichen Aka-Mitglieder hinzu, die ansonsten gemeinsam mit dem sechsten Mann, Sorel Eta selbst, für die gelegentlichen Einwürfe traditioneller Aka-Instrumente verantwortlich zeichnen.
Von den beiden Frauen singen zwei mit Kopf- und eine mit Bruststimme, und man wird schrittweise in die eigentümliche Welt der Aka-Musik eingeführt. Schon im Opener „Ba Passi Ba Baaka“, einem Wiegenlied aus Duett zweier Frauenstimmen, bemerkt das Ohr allerdings etwas Interessantes: Wer die Krimanchuli-Jodler georgischer Gesangsensembles, etwa des Ankhiskhati-Chores, der 2010 in ebenjener festivalinternen Reihe gastiert hatte (siehe Review auf www.crossover-netzwerk.de), noch im Ohr hat, stellt erstaunliche Parallelen fest, obwohl diese zweifellos Parallelentwicklungen und keine Übernahmen sind. Die Kinnlade klappt während des ersten Sets allerdings immer weiter herunter: Schrittweise erweitern sich die Gesangsformationen bis zum Quintett, alle jeweils aktiven Sänger singen eine melodisch wie rhythmisch völlig eigenständige Stimme – und alles paßt so exakt zusammen, als hätte hier einer der alten flämischen Komponisten oder aber der die polyphonen Geflechte so liebende Gustav Mahler höchstselbst mühevoll bis zum letzten Detail an den Strukturen gefeilt. Diese Naturtalente aus dem Regenwald schütteln solcherart Musik mal eben aus dem Ärmel und ermöglichen sowohl einen strukturell-analytischen als auch einen emotionalen Zugang. Ersterer erfährt beispielsweise noch dadurch eine zusätzliche Förderung, indem im zweiten Set das den Inzest verurteilende Lied „Mobila“ gleich doppelt geboten wird, einmal als Setopener mit Sologesang von Angelique Manongo, einer der „Mütter“ des Aka-Gesanges, und einmal an vierter Position, zunächst ebenfalls als Angelique-Solo, sich dann aber schrittweise bis zur fünfstimmigen Polyphonie aufschwingend.
Das Resultat ist ebenso seltsam wie faszinierend, und auch wenn der Rezensent bekennen muss, dass er Probleme hätte, sich diese Musik stunden- und tagelang anzuhören, so hat die netto vielleicht zweistündige Konzertdauer genau die richtige Länge, um das Klangerlebnis im hochgradig positiven Sektor anzusiedeln.
Zudem sorgen die Instrumentalparts für Abwechslung. Da wäre zunächst Michel Kossi, der zwei Stücke auf einer Mbela spielt, einem sogenannten Mundbogen, also einem u-förmigen Holz, zwischen dessen freie Enden ein Gummi gespannt ist, der hauptsächlich mit einem Bogen gestrichen wird, wodurch sich ein polyrhythmisches und obertonreiches Geflecht ergibt, das zudem einige psychedelische Anklänge aufweist. Ferner kommen in einigen Stücken noch drei Trommeln unterschiedlicher Größe zum Einsatz, bedient von den drei männlichen Bandmitgliedern, also auch Sorel Eta. Besagte Nummern entfalten logischerweise einen speziellen Drive und werden bisweilen durch Tanzeinlagen der weiblichen Bandmitglieder ergänzt. So entsteht ein hochinteressantes Programm, zu dem das Festivalprogrammheft noch einiges an Hintergrundinformationen bietet (etwa die Inhalte der einzelnen Lieder für alle der Sprache der Aka nicht mächtigen Zuhörer) und Sorel in einigen Ansagen noch weitere Aspekte erklärt – allerdings in französischer Sprache, und niemand vom Organisationsteam hat daran gedacht, dass ein Übersetzer hilfreich wäre. Zum Glück sitzt eine sprachkundige Ethnologin vom hiesigen Max-Planck-Institut im Publikum und übernimmt diese Aufgabe spontan und so kompetent, als ob das seit je so geplant gewesen wäre. Damit verdient sie sich einen Spezialapplaus, und auch Eta und seine Aka werden vom Publikum angemessen gefeiert und kommen ohne zwei Zugaben, darunter das stark tanzdominierte „Lidzanga“, nicht davon.
Setlist Ndima:
Ba Passi Ba Baaka
Houya
Kosse
Akaya
Motengue Na Boudi
Diyengue
Nganda Manionga
Mayimo
Emayi
--
Mobila
Engambe Akua N’eliba
Boune Bomba Me
Mobila
Balomon Adoua Londouka
Mbela
Bokole Kouala
Bobe
--
Houya
Lidzanga
Roland Ludwig
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