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Info
Zeit: 05.05.2018
Ort: Leipzig, Stadtbad
Fotograf: Holger Schneider (Dreieck Marketing)
Internet:
http://www.a-cappella-festival.de
http://www.vocalsix.com
Man sollte glauben, nach 18 Jahrgängen hätten die Programmdenker des Leipziger A-Cappella-Festivals die Bandlandschaft so weit abgegrast, dass zumindest von den altgedienten Bands jede schon mindestens einmal in der Messestadt gastiert hat (für einige wie die King’s Singers ist Leipzig ja mittlerweile sowieso quasi zum zweiten Wohnsitz geworden, und zehn Programmslots pro Jahrgang wollen erstmal gefüllt sein). Aber weit gefehlt: Die Szene ist, was der Außenstehende vielleicht nicht unbedingt vermuten würde, so groß, dass auch im 19. Festivaljahrgang noch ein „Neuling“ im Programm auftaucht, obwohl jener schon seit 1988 auf den Bühnen dieser Welt zu Hause ist, ergo justament auf sein 30jähriges Bestehen zurückblicken kann.
Die Rede ist von den Südschweden Vocal Six. Die sechs Herren gastieren an diesem warmen Frühlingsabend im Stadtbad, worunter man kein Freibad, sondern quasi einen Vorläufer der heute gängigen Schwimmhallen zu verstehen hat, der beispielsweise in Jena zu einem Veranstaltungstempel umgenutzt worden ist (dort heißt die Einrichtung Volksbad), und Analoges ist auch mit dem bautechnisch ähnlichen Gebäude in Leipzig passiert, wo beispielsweise in den letzten fünfeinhalb Wochen des Jahres 2018 eine Dinnershow namens „Passion“ laufen wird. Der Rezensent betritt die Räumlichkeit an diesem Abend zum ersten Mal (es gehört zum Konzept des Festivals, neben Stammspielstätten wie dem Gewandhaus oder der Evangelisch-Reformierten Kirche gelegentlich auch ungewöhnliche Locations auszuwählen) und ist bezüglich der Soundverhältnisse skeptisch – aber Vocal Six haben ihren eigenen Tontechniker dabei, und der hat die Anlage gut auf den Raum abgestimmt: Hall ist nicht gerade wenig vorhanden, wird aber so behandelt, dass er den Gesang selbst nicht verunklärt, hier und da auch als Stilmittel dient, und nur an den jeweiligen Songenden fasert das Echo dieselben bisweilen etwas aus, was aber nicht weiter stört.
Vocal Six bezeichnen sich selbst augenzwinkernd als „Schwedens älteste Boyband“, wobei noch zwei der Gründungsmitglieder von 1988 an Bord sind, der eine oder andere der zwischenzeitlichen Neuzugänge allerdings tatsächlich auch in eine jüngere Boyband passen würde. Die Schweden hinterlassen freilich optisch erstmal einen seriösen Eindruck, stehen allesamt in Hemd und dunklem Jackett auf der Bühne, drei zudem mit Schlips – im Gegensatz zu den Schweizern Bliss, die am Folgetag beim Festival singen und schon auf den schrägen Bandfotos klarmachen, dass das Humorpotential ihrer Show ziemlich hoch liegen dürfte, verschleiern Vocal Six ihre diesbezüglichen Absichten also zunächst. Aber schon die Wahl der Pausenmusik (eine Combo, die im Original schwer erträgliche Werke wie „Rhythm Is A Dancer“ in einen anhörbaren Stil irgendwo zwischen Singer/Songwriter und Loungemusik umwandelt) läßt durchklingen, dass die Helsingborger keineswegs einen „normalen“ A-Cappella-Pop-Set bieten werden – und das tun sie auch nicht. Der Opener „A Little Bit Of Help“ gerät zum flotten Shuffle, wird auch gleich mit einem Mitsingteil fürs Publikum ausgestattet, den dieses dankbar nutzt, und schon an zweiter Setposition schütten Vocal Six das große Humorfüllhorn zum ersten Mal richtig aus: Auf die Idee, Abbas „Dancing Queen“ als Madrigal im frühbarocken Stil a la Heinrich Schütz, ergänzt durch einige typische barocke Tanzschritte, darzubieten, muß man erstmal kommen – und so gekonnt darbieten wie die sechs Herren muß man es dann auch noch. Spätestens hier haben die Schweden endgültig gewonnen, und auch wenn im weiteren Verlaufe des Sets solche aberwitzigen Einfälle nur noch selten auftauchen, ist auch das „Normalprogramm“ hochgradig hörens- wie sehenswert und läßt hier und da durchaus noch weitere Lachstürme aufkommen, etwa wenn die Herren den Jazzstandard „All Of Me“ im A-Cappella-Oldtime-Jazz-Stil darbieten und dazu Luftbanjo spielen, bevor sie das Arrangement in einen bigbandartigen Stil verwandeln. Das Ganze kommt, wie das beim A-Cappella-Festival logischerweise Standard ist, komplett ohne die Hilfe irgendwelcher Instrumente aus, wobei aber gleich mehrere Mitglieder gelegentlich die Rolle eines Beatboxers übernehmen. Und wenn man einen Menschen wie den Bassisten Peder Tennek in der Band hat, dessen sichtbarer Resonanzraum schon erahnen läßt, in welche Tiefen er seine Stimme absinken lassen kann, dann nutzt man die sich daraus ergebenden Möglichkeiten natürlich auch.
Das Publikum seinerseits macht sich einen Spaß daraus, die lustigen Schweden auflaufen zu lassen: Song 7, „Heroes“, stammt von Måns Zelmerlöw (welchselbiger einstmals Schüler von zwei Bandmitgliedern war) und war der Gewinnersong des Eurovision Song Contest 2015 – auf Nachfrage erinnert sich im Publikum aber keiner daran. Das hindert Frauenschwarm Tommy Wallström nicht daran, im zweiten Set in „Reed Petite“ eine Flirtpartnerin im Auditorium zu suchen, nachdem beim Mitsingeinüben von der Bühne das Verdikt gekommen war, das hätte das Publikum in Dresden, wo Vocal Six zwei Jahre zuvor gastiert hatten, besser hingebracht, was die Leipziger selbstredend nicht auf sich sitzen lassen. Die Stimmung ist also teils übermütig, was gelegentlichen Ernst nicht ausschließt und keine Kompensation für eventuelle musikalische Schwächen darstellen soll: Die Schweden präsentieren sich als erstklassig eingespielte, pardon, eingesungene Einheit aus sechs hochkarätigen Sängern – und dass der arrangementöse Witz gleichfalls sprüht, ist ja bereits erwähnt worden. Set 1 beispielsweise wird mit a-has „Take On Me“ abgeschlossen – und zwar im Stil einer Oper, sogar mit bunten Schals als Symbolisierung der Kostüme. Und obwohl das Gros des Sets Coverversionen sind, so beweisen Vocal Six mit „Second To None“, einem hübschen Liebeslied im klassischen A-Cappella-Pop-Stil aus der Feder von Tenor Robert Green, dass sie auch auf dem Feld der Eigenkompositionen gute Arbeit abliefern können. Neben Pop-, Jazz- und Rocksongs verarbeiten sie als Vorlagen aber auch schwedische Volksweisen, von denen an diesem Abend „Vila vid denna källa“ erklingt, ein von Carl Michael Bellman (1740–1795, Schweden-Musik-Fans noch aus ganz anderen Genres bekannt, nämlich als Originalverfasser von „Epistle No. 81“, dem Closer des dritten Candlemass-Albums Ancient Dreams, oder auch von den LPs mit deutschen Übertragungen seiner Werke, die Manfred Krug oder Hannes Wader eingesungen haben) geschriebenes Lied über einen Bootsausflug in den Schären Stockholms, wo aber zugleich irgendwo eine Jagd stattzufinden scheint, denn zwischendurch erklingt ein Waldhorn-Choral, den die Schweden in gewohnt gekonnter Weise vokal imitieren. Danach steigt das Stimmungsbarometer immer weiter an: Medleys von Michael Jackson (mit „Black Or White“ als strukturgebendes Element) und den Bee Gees (wo drei der vier Bandtenöre in „Stayin‘ Alive“ locker Countertenorgefilde erreichen) rahmen Queens „Somebody To Love“ ein, wo die Find Me-Fuge geschickt auf sechs Einsätze ausgedehnt wird.
Das Publikum fordert natürlich Zugaben ein, zwei derselben gibt es, und als die Anwesenden immer noch keine Ruhe geben, packen Vocal Six noch eine dritte, ungeplante aus. Im Programmheft stehen insgesamt 39 Nummern, die die Schweden für ihre aktuellen 30-Jahre-Jubiläumskonzerte eingeprobt haben, also ist reichlich Auswahl da. Leider kommt das dort verzeichnete Hardrock-Medley nicht zum Zuge, aber statt dessen gibt es mit „Min stamfar“ noch eine weitere Volksweise, und zwar im Gegensatz zum Rest des Sets ohne Mikrofone. Auch das funktioniert bestens und entläßt das gutgelaunte Publikum in die noch junge Nacht hinaus. In den Gesprächen beim Hinausgehen taucht vor allem der Satz „Der Baß war klasse“ auffällig oft auf ...
Setlist Vocal Six:
A Little Bit Of Help
Dancing Queen
Tom-Jones-Medley
Good Vibrations
All Of Me
Stonehenge
Heroes
Take On Me
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Let’s Groove/September
Second To None
Can’t Take My Eyes Off Of You
Reet Petite
Vila vid denna källa
Michael-Jackson-Medley
Somebody To Love
Bee-Gees-Medley
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I Gotta Feeling
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Can’t Stop The Feeling
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Min stamfar
Roland Ludwig
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