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Info
Zeit: 05.04.2018
Ort: Jena, F-Haus
Internet:
http://www.nuclearblast.de
Als Prototyp oder auch Running Gag bezüglich eines langwierigen Projektes galt im Rock- bzw. Metalbereich lange Zeit Guns’N Roses‘ Chinese Democracy-Album, wenngleich es den komischen Faktor im wesentlichen durch seinen dauernden Wechsel aus Ankündigungen und Verschiebungen gewann. Mittlerweile ist jenes Werk aber tatsächlich erschienen, im Gegensatz zum noch länger in der Pipeline angestauten Orchesteralbum von Blind Guardian. Ebenfalls das Licht der Welt erblickt hat ein anderes Langzeitprojekt: Beloved Antichrist von Therion, wahlweise als Metaloper oder auch Metalmusical konnotiert und neun Jahre nach dem letzten regulären Bandalbum Sitra Ahra (oder sechs nach dem etwas abseitigen Release von Les Fleurs Du Mal) nun in konservierter Form erhältlich, nachdem Ausschnitte bereits auf den Touren vergangener Jahre erklungen waren. Komplettaufführungen des dreistündigen Werks sind im Gespräch, auf der aktuellen Tour aber wird „nur“ ein Querschnitt geboten und mit einem regulären Tourset verknüpft.
Der Rezensent verspätet sich gegenüber der regulären Anstoßzeit um eine knappe Viertelstunde, und als er das F-Haus betritt, spielen die ihm bisher unbekannten Null Positiv gerade ihren, wie sich herausstellt, ersten Song. Der heißt „Götter“ und bietet eine eindringliche Mischung aus Epic und Black Doom, so dass der Rezensent das Quartett gedanklich erstmal in diese Ecke einsortiert. Ein Fehler, wie sich im weiteren Verlauf des Gigs herausstellt: Keine Ahnung, warum die Spreewaldbewohner ausgerechnet diesen für ihr Schaffen eher untypischen und dazu gerade für ein mit ihnen noch nicht vertrautes Publikum ziemlich schwer verdaulichen Brocken als Opener gewählt haben – ab „Unvergessen“ schalten sie nämlich in numetallische Klangwelten um, garnieren diese mit etwas Metalcore inclusive Orchester- und anderen Samples (die vom Band kommen) und behalten als blackmetallisches Stilelement lediglich den extrem fiesen Kreischgesang von Fronterin Elli bei, wobei selbige allerdings durchaus auch melodisch singen kann und das bisweilen auch tut. Wenn eine zweite Stimme im anderen Stil vom Band hinzukommt, verwirrt das beim Hören bisweilen etwas, aber daran gewöhnt man sich relativ schnell. Das Tempo bleibt allerdings weiter überwiegend in unteren bis mittleren Bereichen, und das ist auch gut so: Der barbarisch laute Sound wird bei Erhöhung der Drumschlagzahl akustisch schnell noch schwerer durchdringbar, als er das sowieso schon ist. In „Labyrinth“ zeigen Null Positiv, dass sie durchaus über geraume Zeit einen simplen Vierviertelbeat durchspielen können, wenn sie das denn wollen, aber über weite Strecken des schätzungsweise 35minütigen Gigs wollen sie das nicht. Nummern wie „Amok“ verraten durchaus einiges an Potential, die Show allerdings lebt eindeutig von der Sängerin, bei der man hin- und hergerissen ist, ob man dieser ausgesprochen attraktiven wie (musikalisch wie textlich) aggressiven Person nachts allein im Dunkeln begegnen wollen würde. Der lärmunempfindlichere Teil des Publikums spendet jedenfalls einiges an Applaus.
Beim Einspielen des aktuellen dritten Albums von Imperial Age, The Legacy Of Atlantis, halfen gleich drei Musiker aus der aktuellen Therion-Besetzung mit, nämlich Bassist Nalle, Gitarrist Christian und Sänger Thomas – so liegt es nicht weiter fern, woher die Idee gekommen sein könnte, die Band auch als Support auf die aktuelle Tour mitzunehmen. Das freut den mitteleuropäischen Metaller, so er grenzüberschreitend denken kann, natürlich erst einmal, gibt es doch nicht allzuviele Gelegenheiten, russische Metalbands außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen auf der Bühne live zu erleben. Im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute singen Imperial Age allerdings nicht in ihrer Heimatsprache, sondern in Englisch, und Bandkopf/Sänger Aor (das ist ein Pseudo-Anagramm für Aleksander Osipow, seinen bürgerlichen Namen, hat also nichts mit dem Genre AOR zu tun) spricht sogar ein paar Worte Deutsch, wie seinen Ansagen zu entnehmen ist. Abmischungstechnisch stellt das Sextett eine noch größere Herausforderung dar als Null Positiv, und der diesmal für den Sound Verantwortliche (bei jeder Band steht ein anderer Mensch am Pult) hat auch mit einigen Problemen zu kämpfen, dreht den allgemeinen Pegel aber ein Stück herunter und bekommt prompt etwas mehr Differenzierung in die zahlreichen abzumischenden Komponenten. Die Keyboards und Soundeffekte kommen auch hier vom Band, und neben die klassische Rockbandbesetzung, in diesem Fall wie auch schon bei Null Positiv mit nur einer Gitarre, treten gleich drei relativ gleichberechtigte Leadstimmen, wobei Aors Tenor (mit leichter Bariton-Tendenz) zwar etwas stärker herausgehoben erscheint, seine beiden weiblichen Sidekicks mit einem breiten Spektrum von Normallage bis klassischer Sopran aber nicht weniger wichtig sind. Für die kurzen heftigen Gesangseinlagen zeichnen der Basser und der Gitarrist verantwortlich, aber die haben keine eigenen Mikrofone, sondern bekommen an den betreffenden Stellen jeweils eins von ihren Kollegen respektive Kolleginnen vorgehalten. Kurioserweise bringen Imperial Age es fertig, den Set mit gleich vier im nahezu gleichen Grundbeat gehaltenen Stücken zu beginnen, einem behäbig-breiten und nicht sonderlich heftigen Stampfen, und so neigt man dazu, sie anhand dessen (und der Stimme Aors) erstmal in den Epic-Metal-Sektor einzusortieren, bevor sie dann ab der Setmitte doch noch mehr Tempovielfalt hauptsächlich nach oben, in einem Fall mit einer Halbballade aber auch nach unten einbringen, wobei die erhöhte Schlagzahl aber auch hier zu einem verwascheneren Klanggewand führt, in dem erstaunlicherweise von der Rhythmusgitarre so gut wie gar nichts mehr zu hören ist. In der Gesamtbetrachtung stört das allerdings weniger, als man vielleicht befürchtet hätte: Kompromißlose Härtner sind die herrenseitig in eine Art historische Kostüme gehüllten Moskowiter sowieso nicht, der Fokus liegt klar auf Breite und Epikfaktor, und diese Komponenten nehmen genügend große Werte an, dass auch das Publikum sich ziemlich begeistert zeigt und nach dem vielleicht dreiviertelstündigen Gig mit dem Sangestrio noch zahllose Selfies schießt.
Therion hatten im Dezember 2013 an gleicher Stelle ein merkwürdiges Konzert erlebt: Sie spielten zunächst ihren 1998er Klassiker Vovin, bis heute ihr bestverkauftes Album, komplett durch, aber das Publikum reagierte mehr oder weniger vollständig lethargisch auf diese Wiedergabe. Danach testeten sie einige Stücke von der damals bereits im Entstehen befindlichen Metaloper an, die weiland logischerweise noch niemand kennen konnte – und der Stimmungspegel im Publikum stieg plötzlich an und verharrte während des restlichen Sets, der sich im wesentlichen aus Material von Secret Of The Runes und Theli rekrutierte, auf relativ hohem Niveau. Somit blieb gespannt abzuwarten, wie die Reaktionen diesmal ausfallen würden.
Das Septett startet mit „Theme Of Antichrist“, also einem der grundlegenden Stücke der neuen Metaloper – diese ist aber, wie man in der Nachbetrachtung feststellt, überraschenderweise gar nicht so ausladend in der Setlist vertreten, stellt allerdings einige markante Stücke, die zudem im Gegensatz zum Gros der anderen Stücke zumeist angesagt werden. Zumindest die „Antichrist“-Mantras im besagten Opener (der in der Konservenfassung skurrilerweise das Finale bildet) geraten auch relativ einprägsam, bevor die Handlung rückblickend aber schnell relativ verwinkelt wird – schließlich basiert das dreistündige Werk auf der Kurzen Geschichte des Antichrist aus der Feder des russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjow und stellt trotz aller natürlich absichtsvoll eingebauten Bezüge zum jetztzeitigen Geschehen in seiner Basis eine relativ komplexe historische Denkschrift vom Ende des 19. Jahrhunderts dar, die für die breite Masse als Lektüre ähnlich ungeeignet sein dürfte wie die Werke etwa eines Friedrich Nietzsche. Aber schwer verständliche Texte ist man von Therion ja bereits gewöhnt, und eine Konzentration allein auf die bekanntermaßen überwiegend hochqualitative Musik bietet eine brauchbare Alternativstrategie.
Der Terminus „Septett“ assoziiert, dass Therion nicht alle 29 Gastrollen der Oper 1:1 besetzen. Im Vergleich zu 2013 ist Lori Lewis nicht mehr mit von der Partie (sie wirkt nur noch an Studioaufnahmen der Band mit, geht aber nicht mehr auf Tour), ihre Sopranrolle übernimmt Chiara Malvestiti mit bisweilen arg viel Vibrato. Daneben agieren wie gewohnt Thomas Vikström und seine Tochter Linnea für die weiteren Leadgesangsrollen, während Gitarrist Christian Vidal und Bassist Nalle Pahlsson gelegentlich für harsche Einschübe sorgen. Mit Null-Positiv-Elli holen sich Therion für „Din“ noch weitere vokale Unterstützung auf die Bühne. Ob der Drummer auch mitsingt, hat der Rezensent vergessen zu beobachten – der einzige, der sich sichtbar konsequent von Gesangsmikrofonen fernhält, ist aber Ur-Sänger Christofer Johnsson selbst. Den erkennt der Uneingeweihte auch optisch wieder eine Weile nicht, während demjenigen, der die Promofotos des Chansonalbums Les Fleurs Du Mal kennt, die schräge Mode mit Zylinder, Sonnenbrille, Glitzeranzug und Weste noch geläufig sein dürfte. Die distanzierte Wirkung dieses Aufzugs hält nur einige Songs an, dann entledigt sich der Bandkopf zunächst des Zylinders und des Anzugs und sieht jetzt aus wie Klaus Lage, was über längere Zeit so bleibt, bis er auch die Brille noch ablegt und nunmehr wie schon 2013 an einen Jungstudenten erinnert. Seine gesundheitlichen Probleme aus dem Jahr 2017, die damals zu einigen Einschränkungen in der Konzerttätigkeit geführt hatten, ist der Mittvierziger offensichtlich wieder losgeworden – die Tour läuft schon ein knappes Vierteljahr, der Jena-Gig ist einer der letzten einer langen Reise, und trotzdem wirken alle Beteiligten inclusive des Chefs noch frisch und munter. Auch die Spielfreude stimmt – und der dritte Soundmensch des Abends zaubert ein für die Vielzahl abzumischender Instrumente und Mikrofone in dem durchaus akustisch problematischen Raum ein achtbares Klanggewand. Zudem präsentiert sich das Publikum diesmal von Beginn an in deutlich ausgelassenerer Stimmung als 2013, und so kann der nur etwas über halbvolle Saal doch einiges an positiver Energie in Richtung der Bühne zurückschicken. Jubel kommt auf, als Thomas Material vom Secret Of The Runes-Album ankündigt, und selbst die beiden Vovin-Songs finden diesmal deutlich enthusiastischere Aufnahme als beim letzten Mal. „The Rise Of Sodom And Gomorrah“, der zweite derselben, eröffnet den Zugabenteil, und damit ist klar, dass Theli diesmal weder „Invocation Of Naamah“ noch das von gewissen Personen wie dem Rezensenten immer wieder erhoffte „The Siren Of The Woods“ stellt, sondern neben dem im Hauptset untergebrachten „Cults Of The Shadow“ „nur“ noch das traditionelle Finale „To Mega Therion“, bei dem die Reihe hinter dem Rezensenten fröhlich zu hüpfen (!) beginnt, nachdem eine entsprechende Handlungsanweisung von der Bühne gekommen war, was man von Therion auch nicht unbedingt gewöhnt ist. Aber die Laune ist insgesamt prima, was zu sehr anhörenswerten 110 Minuten Musik führt – und nun bleibt gespannt abzuwarten, ob Johnsson es tatsächlich schafft, seine Oper auch irgendwo als Ganzes auf die Bühne zu bringen.
Setlist Therion:
Theme Of Antichrist
The Blood Of Kingu
Din
Bring Her Home
Night Reborn
Nifelheim
Ginnungagap
Typhon
Temple Of New Jerusalem
An Arrow From The Sun
Wine Of Aluqah
Lemuria
Cults Of The Shadow
The Khlysti Evangelist
My Voyage Carries On
The Invincible
Der Mitternachtslöwe
Son Of The Staves Of Time
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The Rise Of Sodom And Gomorrah
To Mega Therion
Roland Ludwig
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