····· Wolvespirit verkaufen Bullshit ····· Rock of Ages - Zusatzshows in 2025 ····· Ally Venable veröffentlicht Video zur neuen Single „Do you cry“ ····· Das zweite Album von Wizrd kommt zum Nikolaus ····· 40 Jahre Helloween - Das muss gefeiert werden ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Artikel

Ackermanns Freude: Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten in der Leipziger Hochschule für Musik und Theater

Info

Künstler: Sinfonieorchester und Chor der Hochschule für Musik und Theater Leipzig

Zeit: 20.01.2018

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Was die musikalischen Jubiläen des Jahres 2018 in Leipzig angeht, so liegt ein Fokus sicherlich auf dem 275jährigen Bestehen des Gewandhausorchesters, aber dieser sollte natürlich nicht den Blick auf anderes verstellen, zumal dann nicht, wenn es eine sehr enge Verbindung mit dem Gewandhausorchester gibt. In den frühen 1840er Jahren schaffte es nämlich der damalige Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy, die relevanten Entscheidungsträger davon zu überzeugen, die durch testamentarische Verfügung eines wohlhabenden Kaufmanns für einen kulturellen Zweck bestimmten Mittel zur Einrichtung einer Orchesterschule zu nutzen. Was daraus entstand und 1843 seine Pforten öffnete, ist im Rückblick das erste Konservatorium auf deutschem Boden, und auch wenn dessen institutionelle Bindung an das Orchester in den 175 Jahren der bisherigen Existenz schrittweise gelockert wurde, so gibt es noch heute eine fruchtbare Zusammenarbeit, und man findet einerseits in den Dozentenlisten immer noch den einen oder anderen Gewandhausmusiker, während umgekehrt auch der eine oder andere Absolvent der Hochschule den Weg ins Orchester einschlägt, beispielsweise über den Weg der sogenannten Orchesterakademie, die der ursprünglichen Mendelssohnschen Intention unter heutigen Bedingungen wohl am nächsten kommt, während sich das Aufgaben- und Ausbildungsspektrum der Hochschule in den 175 Jahren logischerweise maßgeblich erweitert hat.
Der gesamte Veranstaltungsjahrgang 2018 dient natürlich auch mit der Zelebrierung dieses Jubiläums, und neben explizit auf selbiges zugeschnittenen Veranstaltungen wird selbstredend auch das „Normalprogramm“ weitergeführt, also beispielsweise die Konzertreihe des Hochschulsinfonieorchesters. Dieses holt sich für chorsinfonische Werke Verstärkung durch den Hochschulchor und tut ebendies auch im ersten Konzertprogramm des Jahres 2018 am dritten Januarwochenende: Das Oratorium Die Jahreszeiten von Joseph Haydn kommt insgesamt dreimal auf die Bühne des Großen Saals – eine Reaktion auf die notorisch ausverkauften Konzerte des Orchesters, die bisher normalerweise nur je zweimal gespielt wurden. Aber selbst diese Kapazitätserweiterung auf 150% reicht nur mit Ach und Krach: Alle drei Aufführungen können abermals den „Ausverkauft“-Status vermelden.

Der Rezensent ist beim zweiten der drei Konzerte anwesend und erlebt dort Dirigierprofessor Matthias Foremny am Pult, der auch das erste geleitet hatte, für das dritte aber an Chorleiter Tobias Löbner übergibt. Bei den drei Gesangssolisten sind an den drei Abenden gar drei verschiedene Besetzungen aktiv. Haydn hatte nach dem großen Erfolg des Oratoriumsvorgängers Die Schöpfung ein weiteres Großprojekt dieses Genres in Angriff genommen, allerdings mit einem für das späte 18. Jahrhundert äußerst untypischen Thema, nämlich dem Lauf der Jahreszeiten (das ist noch nicht weiter ungewöhnlich) und deren Auswirkungen auf die Arbeit der Landbevölkerung (das hingegen war in der Kunst weiland nur selten thematisiert worden, von pastoralen Schilderungen, die eine gewisse Dauerkonjunktur hatten, mal abgesehen). Die Entfremdung zwischen Stadt- und Landbevölkerung hatte längst eingesetzt, worauf die Nummer „Ihr Schönen aus der Stadt, kommt her“ aus dem Herbstteil überdeutlich verweist, und dass sich das Stadtpublikum von heute, das Kühe für lila hält und Fleisch, Gemüse und andere Waren des täglichen Bedarfs gedanklich im Supermarkt und nicht im Schlachthof, im Stall oder auf dem Feld verortet, noch weiter von der Realität da draußen entfernt hat, wird an diesem Abend in der Sitzumgebung des Rezensenten mehr als einmal deutlich, wenn die Schilderung ganz normaler landwirtschaftlicher Vorgänge unterdrücktes Gelächter hervorruft. Ironie der Geschichte: Am gleichen Tag demonstrieren in Berlin zum Auftakt der Grünen Woche etliche zehntausend Menschen für Veränderungen in der Landwirtschaft, wobei das konkrete Forderungsspektrum von „Verbesserung“ über „Verschlimmbesserung“ bis hin zu „Utopie“ reicht.
Zurück zum Geschehen im Großen Saal der Hochschule: Der eine dreistellige Kopfzahl aufweisende Hochschulchor wird hinter dem übersichtlich besetzten Orchester positioniert, und obwohl sich die Gelehrten schon geraume Zeit streiten, ob man das so herum machen sollte oder doch lieber anders, so ist an diesem Abend die Kräfteverteilung so, dass der Chor nie in Gefahr gerät, vom Orchester ins klangliche Abseits gestellt zu werden. Und bestünde sie doch, so gibt es ja da noch den Dirigenten: Matthias Foremny, auch ein erfahrener Operndirigent, weiß um die Fallstricke der Chor-Orchester-Balance, und er umgeht sie erfolgreich, wobei Tobias Löbner bei der Choreinstudierung schon prima Vorarbeit geleistet hat. Foremny kann somit auf ein breites Spektrum der Chordynamik zurückgreifen und tut dies bereits in der ersten Chornummer „Komm, holder Lenz“. Die Chorsoprane wirken ganz oben noch ein wenig angestrengt, aber das bessert sich im Verlaufe der netto über zwei Stunden Spielzeit deutlich, und an der Exaktheit gibt es nahezu nichts auszusetzen – fast alle harten Auslaute stehen wie Einsen, und Fugenkanons gelingen so transparent, als hätte man da nur 10 Sänger stehen und nicht 100. Dass der Chor dem Chef willig folgt, zeigt eindrucksvoll der Chor der Jugend in Nr. 5b, wo Foremny mal kurz eine Art Krönungspomp mit deklamatorischem Ton haben möchte und diesen genauso geliefert bekommt wie die flüssigeren, aber von einigen Schlagworthervorhebungen geprägten Passagen im weiteren Verlaufe dieser Nummer.
Der exzellenten Chorleistung will das Orchester nicht nachstehen, und Haydn bietet ihm dazu auch beste Möglichkeiten: Wie schon in Die Schöpfung, so hat er auch in Die Jahreszeiten so mancherlei naturalistische Klangeffekte komponiert, manche extrem ostentativ, manche auch etwas versteckt, und Foremny bereitet es einen offensichtlich diebischen Spaß, alle aus den Musikern heraus zu kitzeln. Da ist beispielsweise die Aria „Schon eilet froh der Ackermann“, wo zwischendurch neben der Freude auch die Monotonie der Landarbeit kurz anklingt, und die gestische Arbeit Foremnys in Richtung der Tiefstreicher, die ebenjene Monotonie anklingen lassen sollen, ist so ungewöhnlich wie deutlich. An Deutlichkeit läßt seine Leitung aber generell nichts zu wünschen übrig – für ein in jedem Projekt etwas anders besetztes Ensemble ist das auch eine prima Strategie und im Ausbildungskontext sowieso. So gewinnt der Hörer über das Dirigat noch einen zusätzlichen plastischen Eindruck vom Geschehen, der das Gesamtbild wirkungsvoll ergänzt. Foremny schont die Studenten übrigens nicht: Er wählt durchaus flotte Grundtempi, wie bereits in der Ouvertüre deutlich wird, und die Instrumentalisten bekommen aber auch die geforderte Lockerheit hin, die man nur mit einer grundsätzlichen Spielsicherheit umsetzen kann. Das gelingt nicht über die ganze Spielzeit hinweg, aber doch über weite Strecken, und auch die drei Mädels der Continuogruppe leisten dort, wo sie als solche gebraucht werden, eine grundsolide Arbeit. Dass Foremny in der Gewitterszene am Ende des Sommers die Dynamikspitzen nicht ausreizt, überrascht auf den ersten Blick, erscheint dann aber logisch: Von den akustischen Katastrophennachbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Klassiker Haydn hier noch weit entfernt, und die Paukerin leistet trotzdem prima Arbeit, egal ob das Gewitter fern am Horizont grollt oder sich gerade direkt über dem Hörer entlädt. Und wenn zuvor die brennende Sonne geschildert wird, hört man aus den Violinen ein exzellentes Flimmergeräusch. Das größte Kuriosum des Abends erzeugen allerdings die im Jägerchor 15b auf ein Quartett erweiterten Hornisten, die den akustischen Eindruck erwecken, sie hätten das erst in der nächsten Chornummer 16b anstehende weinselige Besäufnis schon vorgezogen. In selbiger bringen zwei Choristen übrigens noch Triangel und Schellenkranz zum Einsatz und machen damit so viel Krach, dass vom restlichen Orchester nur noch erstaunlich wenig übrigbleibt, wobei dieser Wahnsinn hier aber durchaus Methode hat.
Die Sopranrolle von Hanne übernimmt Natalija Cantrak, die sich redlich Mühe gibt, den Text verständlich zu halten, aber an Grenzen stößt, und in den Höhen derart forcieren muss, dass man bei jedem anstehenden Sprung nach oben schon präventiv erschrickt. Das ist schade, weil sie mit ihrer leicht gedeckten Stimme vor allem in den ruhigen Passagen zu überzeugen weiß, etwa in der Cavatine Nr. 17 zum Winteranbruch. Auch Bariton Arvid Fagerfjäll als Simon hört man noch ein wenig zu stark an, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist, wobei er aber in puncto Textverständlichkeit deutlich besser abschneidet. In der oben erwähnten Ackermann-Arie läuft er Gefahr, dass das Orchester ihn in den Höhenlagen zu sehr zudeckt, aber Foremny bemerkt das und nimmt das Orchester in der Folge an kritischen Stellen ein wenig weiter zurück, wie er überhaupt ein glückliches Händchen für die akustische Durchhörbarkeit der Gesangssolisten beweist (und die können tatsächlich so viel geben, dass man sie selbst dann, wenn der komplette Chor parallel agiert, noch heraushört). Nach unten hin hat Fagerfjäll trotz seines jungen Alters schon einiges an Power zu bieten, wie er etwa in Nr. 21b „Erblicke hier, betörter Mensch“ unter Beweis stellt. Haupttrumpf dieses Abends ist aber trotzdem Tenor Christopher Renz, bei dem man gefühlt jeden Buchstaben in jedem Wort versteht und der sich mit einer derartigen Leistung nachdrücklich für Evangelistenposten in großen Bach-Werken empfiehlt: deklamatorisch enorm stark, aber parallel auch melodisch gestaltungskräftig und mit einer richtig schönen Stimme. In den Duett- bzw. Trionummern brauchen die Solisten ein wenig, bis sie sich finden, aber dann entsteht auch dort so mancher prima gelungene Effekt, was den generell positiven bis sehr positiven Eindruck von dieser Aufführung abrundet. Foremny erweckt am Ende den Eindruck, als müsse er gleich unters Sauerstoffzelt (zwei Stunden Dirigat in seiner Bewegungsintensität sind allerdings auch Hochleistungssport), aber er und seine Hundertschaften auf der Bühne werden mit sofort ausbrechendem und anhaltendem Applaus revitalisiert.

Roland Ludwig


Zurück zur Artikelübersicht