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Zeit: 14.10.2017
Ort: Leipzig, Gewandhaus
Fotograf: Filip Sommer
Internet:
http://www.saechsischer-musikrat.de
Das Engagement des Landesjugendorchesters Sachsen für pazifistische Werke ist nicht neu – der regelmäßige Besucher seiner Konzertprojekte wird sich beispielsweise noch an Mauricio Kagels „Zehn Märsche um den Sieg zu verfehlen“ erinnern. Die Sonderstellung des Klangkörpers macht es außerdem möglich, sich auch Werken zu widmen, die sonst selten bis nie auf den Spielplänen zu finden sind. Das 52. Projekt des Orchesters, überschrieben Tolerantia. Ein musikalisches Plädoyer, verbindet im Herbst 2017 beide Welten.
Zunächst steht „Rothschilds Geige“ von Benjamin Fleischmann auf dem Programm, eine Oper in einem Akt, die an diesem Abend konzertant und nur um einige mimisch-gestische Elemente der Sänger angereichert dargeboten wird, also ohne Kostüme, Schauspiel und Bühnenbild. Grundlage bildet die gleichnamige Erzählung Anton Tschechows, die der 1913 geborene Fleischmann von 1939 bis 1941 in Opernform goß. Allerdings wurde nur der Klavierauszug fertig, dann meldete sich Fleischmann freiwillig für ein Volkswehr-Bataillon zur Verteidigung Leningrads und kam wie fast alle von dessen Mitgliedern ums Leben. Dmitri Schostakowitsch als Lehrer und Förderer Fleischmanns machte sich daran, den Klavierauszug zu instrumentieren, hat allerdings wohl auch noch einige eigene Kompositionsideen eingebracht (das Programmheft behauptet, dies wäre das einzige Mal, dass Schostakowitsch ein fremdes Werk zu Ende geschrieben hat, was freilich nicht ganz stimmt, da er u.a. auch eine aufführbare Fassung von Modest Mussorgskis unvollendeter Oper „Chowanstschina“ schuf und für die Leningrader Aufführung der Oper „Armer Columbus“ von Erwin Dressel eine Zwischenaktmusik und ein Finale geschrieben haben soll).
So verwundert es nicht, dass man bereits nach wenigen Takten der Einleitung Schostakowitsch-Einflüsse in der Musik bemerkt, allerdings in origineller Weise verwoben mit Fleischmanns eigenen Ideen, die sich in Form jiddischer Musikelemente durch das ganze Werk ziehen. Das ist in doppelter Hinsicht logisch, spielt doch das Werk in einer jüdisch geprägten Kleinstadt in Galizien und war Fleischmann selbst jüdischer Herkunft – und es ist im Hinblick auf Schostakowitschs eigenes späteres Schaffen interessant, in dem er sich wiederholt mit jüdischen Thematiken und dem sowjetischen Antijudaismus auseinandersetzte, am markantesten wohl in der 13. Sinfonie „Babi Jar“ (siehe Konzertrezension des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera), die freilich erst knapp 20 Jahre nach Schostakowitschs Bearbeitung von „Rothschilds Geige“ entstand.
Auf der Orgelempore haben die Herren eines aus Leipziger Oratorienchor und Chorus 116 Dresden bestehenden Chores Aufstellung genommen, kommen aber nur in der Eröffnungsnummer der Oper zum Einsatz – den Rest der Wortbeiträge bestreiten die fünf Solisten unten auf der Bühne. Sopranistin Marie Hänsel muß dabei nicht singen, sondern liest die verbindenden Sprechtexte (übrigens in Deutsch, und auch die Sänger singen nicht die russische Originalfassung, sondern eine deutsche Fassung, zu deren Entstehung sich das Programmheft ausschweigt). Tenor Ulrich Cordes in der Titelpartie des Musikers Rothschild hat skurrilerweise kaum mal etwas zu tun – der Hauptprotagonist ist der Sargtischler Bronze, verkörpert von Bassist Andreas Scheibner, und der ist auch der einzige, der sich während fast der ganzen Oper durchgängig Gehör verschaffen kann, so dass man auch die Texte in ihrer Mischung aus Witz und Verzweiflung versteht (etwa wenn er sich bitter beklagt, dass der kranke Stadtpolizist zur Kur nach Sotschi fuhr, allerdings dann dort gestorben ist und begraben wurde, so dass Bronze, dessen Geschäfte sowieso sehr schlecht gehen, wieder keinen Sarg verkaufen konnte). Bei den anderen Sängern (neben Cordes noch sein Stimmfachkollege Tobias Link sowie Altistin Britta Schwarz als todgeweihte Gattin Bronzes) sieht das anders aus: Die Tenöre versteht man fast durchgängig gar nicht, die Altistin kann sich wenigstens hier und da akustisch verständlich machen (und überzeugt auch in einer für ihr Stimmfach recht hohen Lage), und wenn in der vorletzten Szenenmusik das Orchester mal richtig dramatisch vom Leder zieht, dann geht selbst die mikrofonverstärkte Erzählerin, die sonst meist A-cappella-Einsätze hat, völlig unter. Das ist schade, raubt es dem Stück doch einen Teil seines Effektes, wenn man die so schon relativ schwach ausgeprägten Konfliktlinien nicht nachvollziehen kann: „Rothschilds Geige“ ist mehr ein Bronze-Psychogramm, und was da rauszuholen ist, das verdeutlichen Scheibner, Dirigent Milko Kersten und das Orchester vor allem in den hinteren Szenen, wenn sich das Tempo immer mehr anzäht und die Stimmung immer melancholischer wird. Bis dahin hat das anfangs etwas wacklige Orchester auch mehr Souveränität gewonnen, wenngleich auch die witzig-doppelbödige Hochzeitsmusik zuvor schon überzeugen konnte. Eine prima Figur macht auch Konzertmeister Johannes Kürschner, der zum Ende der Handlung Rothschild verkörpert, welchselbiger Bronzes Geige geschenkt bekommen hat und nun statt auf dieser statt auf der Flöte seine melancholischen Weisen in die Welt setzt. Mit diesem Finale wollte sich Schostakowitsch allerdings nicht zufriedengeben und hat noch eine Coda angehängt, eingeleitet abermals mit einem Solo des Konzertmeisters, dann aber in ein Orchestercrescendo mündend, dessen finaler Bombasttriumph im Werkkontext allermindestens merkwürdig wirkt. Der schwer zugänglichen und zudem ein in der Sowjetunion staatlicherseits wenig geliebtes Thema der jüdischen Lebenswelt behandelndes Sujet aufweisenden Oper hat das nicht geholfen – sie wurde in der Sowjetunion zu Schostakowitschs großem Bedauern kaum gespielt und taucht auch heute so gut wie nirgends auf den Spielplänen auf. Umso wertvoller ist die Aufführung des knapp einstündigen Werkes durch das Landesjugendorchester zu schätzen, die trotz diverser Detailprobleme als gelungen einzuschätzen ist.
Der Mann, der das nach der Pause zu hörende Werk komponiert hat, ist deutlich populärer: Karl Jenkins, Jahrgang 1944, machte sich in den Siebzigern mit der Band Soft Machine einen Namen in progressiven Jazz- und Rockhörerkreisen, hatte allerdings eine klassische Ausbildung durchlaufen und schuf in den zurückliegenden Jahrzehnten neben Werbemusik auch diverse teils großangelegte vokalsinfonische Werke, darunter kurz vor der Jahrtausendwende „The Armed Man“ mit dem Untertitel „A Mass For Peace“. Das ist eigentlich den Opfern des Kosovo-Krieges gewidmet, bezieht in seinen 13 Sätzen aber auch diverse andere kriegerische Konflikte oder den Krieg als Ganzes ein. Als musikalisches Leitmotiv dient das frührenaissanceliche französische Lied „L’Homme armé“, das in etlichen der Sätze wiederkehrt. Die sechs Schlagwerker des Orchesters haben bereits zu Beginn einiges an Arbeit zu verrichten, und sie prägen weite Teile des Werkes – an den richtigen Stellen aber läßt Jenkins ihre Kriegsmaschinerie pausieren und bringt gleich im eröffnenden Titelstück das „L’Homme armé“-Motiv auch als A-Cappella-Kanon unter. Marie Hänsel ist diesmal gesanglich aktiv, dafür fehlt Tobias Link, und die vier Gesangssolisten stehen mit dem jetzt in voller Stärke agierenden Chor auf der Orgelempore. Am Rande des Chores aber ist noch jemand, nämlich Abdelhamid Al Sharbaji, ein junger Syrer, der in der Rolle eines Muezzins als zweiten Satz ein recht eindringliches arabisches Friedensgebet a cappella singt. Das Kyrie an dritter Position beginnt recht finster, hellt sich aber schrittweise auf, wenngleich sich etwas Unordnung breitzumachen beginnt, etwa bei den Choreinsätzen oder gegen Satzende in einer gewissen Uneinigkeit mit dem Orchester über das Ritardando. Ein Psalmgebet singen die Chorherren wieder a cappella, nur einmal von einem Schlagzeuger unterbrochen – ein Stilmittel, an dem Jenkins so viel Gefallen findet, dass er es in der Folge noch mehrfach in verschiedenen Formen anwendet.
Das Sanctus atmet eine Dramatik, wie man sie aus diversen Hans-Zimmer-Soundtracks kennt, und wird von den Schlagzeugern geprägt, so dass es als Kriegsvorbereitung brauchbar erscheint, während die anschließende Hymne vor dem Angriff zwar herkömmlichen spätromantischen Bombast auffährt, aber entweder Jenkins oder Kersten eine ironische Brechung vornehmen, indem das Ganze völlig harm- und energielos klingt. Der Krieg bricht dann erst im Zentralsatz aus, vor dem sich die Schlagzeuger ihrer Jacketts entledigen (!), um dann mit ihrem über die ganze Bühnenbreite verteilten Instrumentarium verschiedene Kriegswaffen zu Gehör zu bringen. Nach dem großen Endkampf hallt der Gong ewig lange nach und läßt die Spannung stehen, die erst durch eine Ferntrompete aufgelöst wird und schließlich in neun Glockenschlägen mündet. In der ziemlich düster gefärbten Folge, deren Stimmung bisweilen an das Coverartwork des legendären Winter-Albums Into Darkness erinnert (eine Kriegsfotografie aus einer zerstörten sowjetischen Stadt im Winter 1941/42) und auch das hübsche weibliche Wesen rechts neben dem Rezensenten zum Frösteln bringt, vertont Jenkins kriegsfolgengeschüttelte japanische und indische Lyrik, bisweilen einzelne Orchesterschläge einwebend und im zehnten Satz, dem Agnus Dei, zum Frieden findet, obwohl die Posaunen plangemäß weiter Trübsal blasen. Hier gehören dann auch die Ritardando-Abstimmungsschwierigkeiten der Vergangenheit an.
Das folgende, den Opfern des Ersten Weltkriegs gewidmete Gedicht „Now The Guns Have Stopped“ hat Jenkins als Altsolo über Streicherflächen konzipiert; Britta Schwarz bringt ihre beste Leistung des ganzen Abends, und die Spannung am Ende steht wieder einmal. Die Streicherfelder kommen im Benedictus wieder, diesmal aber um ein Cellosolo von Clara Dietze bereichert, und der kurze Hosanna-Ausbruch ist grundpositiv gestimmt. Der etwas bemüht „Better Is Peace“ betitelte Finalsatz führt dann alle musikalischen Welten außer der Kampf-, der Trauer- und der Zerstörungssphäre zusammen, die „L’Homme armé“-Reprise bekommt einen anderen Text, und der sich schrittweise entwickelnde Schlußbombast klingt mit den Glocken irgendwie very british. Aber das ist noch nicht das Ende: Den Schlußchoral singen sowohl die Orchestermusiker als auch die Choristen und das Gesangssolistenquartett a cappella, damit alle im göttlichen Trost vereinend und mit den Worten „lobt den Herren“ schließend. Alle? Nein, es gibt einen Verlierer: den Muezzin, der völlig unbeteiligt neben den stehenden Choristen sitzt. Was Jenkins mit dem Anfang in Gang zu bringen versucht hatte, nämlich den interreligiösen Dialog vor dem Hintergrund, dass religiös motivierter Krieg gleichermaßen fürchterlich ist, egal in wessen Namen er angezettelt wird, das reißt er mit diesem Schluß, sofern die Leipziger Aufführung der original intendierten Version entsprochen hat, wieder ein. Das ist schade und wirft einen Wermutstropfen in den Becher einer insgesamt trotz mancher Detailprobleme gelungenen Aufführung eines interessanten Werkes, das nach enorm lange stehender Spannung mit reichlich Applaus des achtbar gefüllten Gewandhauses belohnt wird, wobei die Schlagwerker verdienterweise den lautesten Einzeljubel abbekommen.
Roland Ludwig
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