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Info
Zeit: 02.06.2017
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
Die Tatsache, dass der designierte Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons zugleich dem Boston Symphony Orchestra vorsteht, bildet die Grundlage für mancherlei künstlerisches Bonbon, das ohne diese Konstellation wohl nicht hätte ausgewickelt werden können. Einen dieser Leckerbissen bekommt das Publikum in den Großen Concerten der Tage vor Pfingsten vorgesetzt. Michael Gandolfi, ein Bernstein-Schüler, hatte anno 2014 ein Auftragswerk für die Bostoner Sinfoniker geschaffen: „Ascending Light“ für Orgel und Orchester. Ebenjenes Werk erlebte seine Premiere ein Jahr später in Boston, vereint in einem Konzertprogramm mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie, dirigiert von Andris Nelsons und mit Olivier Latry als Orgelsolist. Genau die gleiche Programmkonstellation dürfen nun wiederum zwei Jahre später die Leipziger erleben, wenngleich auf dem Podium nicht das Boston Symphony Orchestra, sondern das Gewandhausorchester sitzt und auch nicht Latry die Orgel spielt, sondern Michael Schönheit, als Gewandhausorganist mit den Möglichkeiten der großen Schuke-Orgel natürlich bestens vertraut.
Nun wirkt eine Formulierung wie „Leckerbissen“ im Kontext einer Deutschen Erstaufführung eines gerade mal drei Jahre alten Werkes zunächst etwas seltsam: Das Gewandhauspublikum ist als eher traditionsorientiert bekannt, und was die Riege der Neutöner in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat, ist überwiegend nicht darauf angelegt, dem Hörer Wohlgefallen zu bereiten. Das stellt sich mit „Ascending Light“ zumindest rein musikalisch anders dar – das Werk dürfte das mit Abstand zugänglichste sein, das in den letzten Jahrzehnten im Gewandhaus seine Deutschland- oder Weltpremiere gefeiert hat, und dieses Urteil kommt trotz der Tatsache zustande, dass es sich um ein Gedenkwerk für die Opfer des Völkermords an den Armeniern 1914/15 handelt, also thematisch durchaus herben Stoff, den in den letzten Jahren wohl kaum ein Komponist so der traditionellen Tonalität verpflichtet umgesetzt hat wie Gandolfi. Der Mann verarbeitet natürlich Elemente aus der armenischen Kirchenmusik (so wie die Armenische Apostolische Kirche eigenständig ist und beispielsweise auch das armenische Alphabet wenige Parallelen zu denen der Nachbarvölker aufweist, so ist auch die musikalische Überlieferung recht individuell, aber interessanterweise auch nicht zu weit von dem entfernt, was man in Mitteleuropa unter Kirchenmusik versteht), er hat sein musikalisches Handwerk gelernt, weiß, wie man eine Fuge aufbaut, hat von Leonard Bernstein offenbar auch mitgeteilt bekommen, dass nachvollziehbare Strukturen für das Verständnis eines Werkes beim breiten Publikum nicht ganz unwichtig sein können, und nutzt das tragische Geschehen nicht zum musikalischen Bürgerschreck. Interessanterweise fällt auch der Traueraspekt gegenüber dem der Hoffnung zurück – der Hoffnung, dass das zarte Pflänzchen der Verständigung 100 Jahre nach den tragischen Geschehnissen vielleicht nicht gleich wieder zertrampelt wird, obwohl auch die Armenier selbst keine Engel sind, was den Umgang mit ihren Feinden darstellt, wie der nach wie vor ungelöste Bergkarabach-Konflikt beweist.
Also hinein ins Geschehen: Das Werk hat zwei Sätze, und zunächst fällt die Anordnung der Musiker auf der Bühne auf: Die Blechbläser sind ebenso in drei Gruppen geteilt wie die Schlagwerker (dafür gibt es in den Vorbemerkungen zur Partitur sogar eine detaillierte Skizze), und Michael Schönheits Spieltisch steht zentral dort, wo sich normalerweise das Dirigentenpult befindet, während Andris Nelsons schräg vor ihm Aufstellung genommen hat, sich bei jeder Blickabstimmung mit Schönheit weit nach rechts hinten drehen muß, wo zudem der Registrant und Notenwender noch zwischen den beiden Hauptakteuren steht. Aber die Verständigung gelingt zumindest am zweiten Abend (das ist der, den der Rezensent miterlebt) problemlos. Der erste Satz hebt mit einer Art bombastischem und glockendurchsetztem Trauermarsch an, der als gliederndes Element noch mehrfach im Werk auftauchen wird und sich über mehrere Minuten eher stoisch bewegt, bis das Englischhorn eine Strukturänderung ankündigt – auch das eine Rolle, die mehrfach wiederkehren wird. So wechseln Bombastparts und Verharrungen in geschickter Weise, in einem durch Streicherflageoletts eingeleiteten Orchestersolo liegt bereits etliches an Spannung, und in der Folge baut Gandolfi gar Mixturen aus Jazzeinflüssen und großen cineastischen Wirkungen ein, zu denen selbst Schönheit auf seiner Orgelbank groovend hin und her rutscht. Nach einigen lehrbuchreifen, aber nicht schematischen Entwicklungen und Steigerungen mündet der „Vis vitalis“ überschriebene Satz in ein bombastisches Finale.
Aus diesem bleibt nur ein einziger Orgelton stehen, der in den zweiten Satz überleitet und lange die Basis bildet, über der sich eine verträumt-schwermütige Melodie entwickelt, die eines der Zungenregister der Orgel spielt, damit wohl eines der nahöstlichen Blasinstrumente symbolisierend. Das Tempo bleibt lange Zeit unten, auch die Steigerungen atmen nichts von Panik oder gar Aggressivität, sondern werden mit Pizzikati der Streicher abgemildert. Erst schrittweise nimmt auch die Volumenintensität wieder zu, abermals Raum für interessante Laut-Leise-Dynamiken bietend, die Gandolfi stets nachvollziehbar arrangiert hat. Auch das Gros der orchesterinternen Feinabstimmung funktioniert prächtig, kaum einmal wackelt etwas (markante Ausnahme: einer der Hornchoräle – klangschön, stimmungsvoll, spannend, nur halt nicht ganz sauber), und Nelsons und Schönheit arbeiten gleichfalls prächtig miteinander. Gerät der Übergang ins Finale vielleicht einen Tick zu unprätentiös, so läßt dieses Finale den Hörer dann wieder staunen: Gandolfi konzipiert eine enorm zielstrebige Variationenfolge über ein armenisches Wiegenlied, und Nelsons samt seiner Instrumentalisten setzen diese dynamisch kongenial um. Am Ende sind die am Rand aufgebauten Blechbläser und Schlagwerker nur noch zur Hälfte besetzt, und das Finalthema entspricht dem Beginn des ersten Satzes, nur noch ergänzt um das Element des Wiegenliedes. Das alles überzeugt das Publikum so sehr, dass der anwesende Komponist nach Verklingen der halben Stunde Musik mit Bravorufen bedacht wird (ein Unikum) und alle Beteiligten verdientermaßen etliche Applausvorhänge einheimsen.
Gustav Mahlers 6. Sinfonie a-Moll, die nach der Pause erklingt, wurde gelegentlich gleichfalls als mit tragischem Inhalt ausgestattet interpretiert, was seinen scheinbaren Widerhall in einigen zumindest in diese Richtung hin deutbaren Äußerungen Mahlers fand, der sich allerdings konsequent weigerte, der Sinfonie irgendeine Art offizielles Programm beizugeben. Nun gibt es aus Zeiten, als Riccardo Chailly noch Gewandhauskapellmeister war, die Formel „Mahler + Chailly = Weltklasse“, hatte der Italiener mit dem Gewandhausorchester doch etliche schier atemberaubende Interpretationen von Mahler-Sinfonien geboten. Insofern liegt die Latte für Andris Nelsons hoch – aber er überquert sie an diesem Abend problemlos, auch wenn die allerletzte Prise Eindringlichkeit, die Chailly dem Finale der Zweiten beim Mahler-Festival 2011 einpflanzte, so dass man als Hörer minutenlang kaum zu atmen wagte, an diesem Abend fehlt, wozu freilich die Sechste auch nicht geeignet ist. Aber dafür gesellt sich zu Nelsons‘ grundsätzlich gekonntem Zugriff auf die Riesenwerke Mahlers samt entsprechender Spannungserzeugung noch ein analytisches Element, das man so bei Chailly nicht gefunden hatte und das sich gerade im langsamen Satz, Andante moderato überschrieben und hier an dritter Stelle gespielt (es herrscht eine gewisse strukturelle Verwirrung über die „richtige“ Positionierung der beiden inneren Sätze), in einer Art kalter Präzision diverser Passagen manifestiert, die ein wenig an Michael Sanderlings Lesart von Schostakowitschs Siebenter erinnert, welche der Rezensent anno 2012 im alten Dresdener Kulturpalast mit der Dresdner Philharmonie erleben durfte und wo man sich als Hörer im ersten Satz nicht wie vom Panzer überrollt vorkam (wie es eine gute Interpretation normalerweise schafft), sondern wie von einer Laserwaffe in Scheiben geschnitten (was interessanterweise ähnlich gut funktionierte). Das ist ein Element, das Chailly wesensfremd war und dessen geschickte Einbeziehung durch Nelsons zu einer abermaligen, kaum für möglich gehaltenen Steigerung der Mahler-Interpretationen durch das Gewandhausorchester führen kann, wofür mit dieser Sechsten der Weg bereitet ist.
Der Rezensent hat hier noch massig Einzelnotizen auf dem Zettel, aber er will dem Leser nicht mit einer Detailbetrachtung den Blick aufs große meisterliche Ganze verstellen, obwohl so manche Passage eine Sondererwähnung verdient hätte, etwa gleich die geschickt unterschwellig positionierte Aggressivität in der Einleitung des ersten Satzes, die extreme Düsternis im Übergang zu dessen Satzschluß, als sich der Dirigent fast in einen Schauspieler verwandelt und einen zu Tode Geängstigten mimt, oder die förmlich aus dem Ärmel geschüttelte Tempohatz zwischen den beiden Hammerschlägen im Finalsatz (der dritte Schlag bleibt auch an diesem Abend ungespielt). Statt dessen noch ein Wort zu den Rahmenbedingungen: Dass das Gewandhaus einen der akustisch besten Konzertsäle überhaupt besitzt, ist bekannt – aber das bezieht sich auf die saalinterne Akustik, denn kurioserweise muß die Saaldämmung für externe Geräusche an diesem Abend kapitulieren: Auf dem Augustusplatz (und nicht mal direkt vor dem Gewandhaus, sondern auf dessen gegenüberliegender Seite, vor dem Opernhaus) ist eine Bühne aufgebaut (keine Ahnung, ob die zum Wave Gotik Treffen gehört oder noch zu einer anderen Veranstaltung), und deren Tontechniker geruht seine Anlage so weit aufzudrehen, dass die Bässe den akustischen Weg bis in den Großen Saal des Gewandhauses finden und dort gerade in den diversen ätherischen Passagen der Mahler-Sinfonie akustischen und stimmungstechnischen Schaden anrichten – nicht durchgängig zwar, aber dort, wo es passiert, umso schmerzlicher, weil Nelsons und seine Musiker diese Passagen mit großer Sensibilität spielen und man eigentlich froh war, dass die Erkältungsquote des Publikums diesmal äußerst niedrig lag und man gerade in diesen entrückten Momenten wenig saalinterne Störungen befürchten mußte. Wenn wieder einmal so eine Veranstaltungskonstellation auftritt, sollte man also die externen Schallgrenzwerte etwas genauer unter die Lupe nehmen. Dem Urteil einer meisterlichen Aufführung kann freilich auch dieser Umstand nur einen unbedeutenden Kratzer versetzen, und die Chance, dass neben die oben genannte Formel nächstens eine zweite treten kann, die „Mahler + Nelsons = Weltklasse“ lautet, ist groß.
Roland Ludwig
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