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Artikel

Kopflos ins Verderben: Charles Gounods Oper Der Rebell des Königs (Cinq-Mars) als Ausgrabung in Leipzig

Info

Künstler: Charles Gounod

Zeit: 20.05.2017

Ort: Leipzig, Oper

Fotograf: Tom Schulze

Internet:
http://www.oper-leipzig.de

Fragt man den Opernfreund nach Charles Gounod, wird der Angesprochene nicken und sich an die Behandlung des Faust-Stoffes durch den Franzosen erinnern: Margarethe, so der Titel, gehört noch heute zum gängigen mitteleuropäischen Opernkanon. Um zu wissen, dass es sich hierbei keineswegs um eine Eintagsfliege handelte (und Gounod auch außerhalb der Opernwelt deutlich mehr geschaffen hat als nur die Bearbeitung des Bachschen Airs, das seither als „Ave Maria“ auf jeder zweiten Hochzeit oder Beerdigung erklingt), dafür braucht man allerdings schon gewisse Spezialistenkenntnisse und einen intensiven Blick in die französische Musikwelt des 19. Jahrhunderts, wo sich weiland eine Art Nationalmusikbewegung entwickelte, an deren Spitze Gounod mit seinem vielfältigen Werk stand: Die Anzahl der Opern ist zweistellig, dazu kommen zwei Sinfonien, etliche Oratorien, zahlreiche Kunstlieder und noch mancherlei mehr.

Eine dieser Opern hat das französische Musikförderzentrum Palazzetto Bru Zane unlängst wieder ausgegraben und neu herausgegeben: Der Rebell des Königs (Cinq-Mars), uraufgeführt 1877, ein Jahr später letztmalig gespielt und seither in den Archiven verblieben, bis Ulf Schirmer 2015 eine konzertante Aufführung mit dem Münchener Rundfunkorchester wagte und mit glänzenden Kritiken belohnt wurde. Davon wiederum hörte der Regisseur Anthony Pilavachi, der seinerseits 1988 eher zufällig einen Klavierauszug dieser Oper in einem französischen Antiquariat erworben hatte und eben 2015 an der Leipziger Oper, wo Schirmer Intendant war und ist, The Canterville Ghost/Pagliacci inszenierte. Er kam mit Schirmer ins Gespräch über diese Opernrarität – und prompt war die Idee geboren, nach fast 150 Jahren Der Rebell des Königs (Cinq-Mars) wieder zu inszenieren. Gesagt, getan – zwei Jahre später steht das Werk nun tatsächlich auf dem Spielplan, und, das sei vorweggenommen, es wäre ihm zu wünschen, dass es den Erfolg von 1877, als die ersten sechzehn Vorstellungen allesamt ausverkauft waren, wiederholen könnte. Die Premiere jedenfalls ist ausverkauft und die Qualität überwiegend auf exorbitantem Niveau.


Der Rebell des Königs (Cinq-Mars) fällt durch seine Sujetkonstruktion etwas aus dem Rahmen. Opern über historische Figuren waren und sind nichts Neues, betten diese Figuren aber häufig in ein fiktives Handlungsgeschehen mit erfundenen Mitakteuren ein. Das ist hier anders, denn nicht nur der Titelheld hat wirklich gelebt, sondern das andere Bühnenpersonal gleichfalls, und die Handlung lehnt sich zumindest weitgehend an das reale Geschehen des 17. Jahrhunderts an, als der Titelheld, ein junger französischer Adliger, zur rechten Hand von König Louis XIII. (genau, der Vater des Sonnenkönigs) aufsteigt, sich allerdings nicht der Hofräson unterwirft und mit Premierminister Kardinal Richelieu aneinandergerät. Letzterer betreibt daraufhin Cinq-Mars‘ Sturz, wobei er sich zunutze machen kann, dass der Titelheld an seiner Geliebten, der Prinzessin Marie, festhält und sich weigert, dieser zu entsagen, damit sie aus dynastischen Gründen den polnischen König heiraten kann. Cinq-Mars plant daher, Richelieu zu stürzen, aber dessen durch den Kapuzinerpater Joseph angeführtes Spitzelsystem deckt die Verschwörung auf, und so verlieren sowohl Cinq-Mars als auch sein Mitwisser und Freund De Thou ihre Köpfe, was Marie in scheinbar unendliche Trauer stürzt, mit der die Oper beginnt (ja, beginnt!). Nebenbei bemerkt heiratete die reale Marie den polnischen König dann letztlich doch noch, und ein paar kleine Freiheiten haben sich die Librettisten Paul Poirson und Louis Gallet dann doch gegönnt, denn ihre Vorlage war nicht die Realität, sondern der historische Roman Cinq-Mars von Alfred de Vigny, der in der französischen Literatur ungefähr den gleichen Rang einnimmt wie Walter Scotts Ivanhoe in der englischen. So hätte die Handlung, die sich von 1640 (der Berufung von Cinq-Mars an den französischen Königshof) bis 1642 (der Hinrichtung von Cinq-Mars und De Thou in Lyon) erstreckt, in dieser Form real gar nicht ablaufen können, denn Pater Joseph war schon 1638 gestorben. Ironie der Geschichte: Auch Richelieu starb noch 1642 und Louis XIII. ein Jahr später, so dass sich so mancher Konflikt biologisch gelöst hätte – aber das hätte dann natürlich keinen spannenden Roman- und Opernstoff abgegeben ...


Die Oper ist im Pressematerial als „Mantel- und Degenoper“ tituliert – und das pflegt dem Leipziger Publikum, das auch mit moderneren Wagner-Lesarten so seine Probleme hat und am liebsten Historienfestspiele sähe, prinzipiell zu gefallen. Pilavachi verzichtet in seiner Inszenierung nahezu komplett auf neuzeitliche Elemente, aber auch darauf, das Werk konsequent im 17. Jahrhundert anzusiedeln – er mixt das 17. und das 19. Jahrhundert, und zwar dergestalt, dass er den Blick zurück ins 17. Jahrhundert im Stile des Historismus des späten 19. Jahrhunderts zeigt, also so, wie man sich im 19. das 17. Jahrhundert vorstellte. Nur an drei Stellen bricht er markant aus, wenn Joseph unter seiner Kutte ein modernes T-Shirt trägt (was nicht weiter stört), wenn auf einem der zahlreichen Feste ein Luftballon in Herzform zum Vorschein kommt, der 1877 noch nicht erfunden gewesen sein dürfte (diese ironische Brechung stört dann allerdings doch), und wenn der polnische Gesandte im Stile eines Pferdemarktes die Zähne der verzweifelten Marie begutachtet (dafür wäre er im 17., aber auch noch im 19. Jahrhundert geteert und gefedert oder zumindest aus dem diplomatischen Dienst entfernt worden). Wer sich oben gewundert hat, wieso die Oper mit Maries Trauer beginnt: Noch bevor die Ouvertüre erklingt, kommt Marie auf die Bühne und spielt eine große, aber stumme Trauerszene mit dem abgeschlagenen Kopf von Cinq-Mars, die nahtlos in den ersten Akt übergeht.


Dank der deutschen Übertitelung kann auch der Nichtfranzösischkundige die Handlung nachvollziehen, die Bühne ist mit einer Art barockem Bilderrahmen geschmückt, der sich in weiteren Ebenen repliziert und durch aussagekräftige historische Bilder ergänzt wird, wozu Bühnenbauer/Kostümbildner Markus Meyer gegebenenfalls auch die Leere addiert – das Gefängnis im vierten Akt etwa besteht ganz einfach aus einer dunklen Rückwand und einer sonst bis auf zwei Matratzen leeren Bühne, und mehr bedarf es an dieser Stelle auch gar nicht, wohingegen die Festivitäten natürlich entsprechend opulent ausgestattet sind (man spielte zu dieser Zeit im französischen Adel auch schon Schach) und auch die Ballettänzer, die das zweite Bild von Akt II bereichern, in goldenen Kostümen agieren. Fleißig den Kopf zerbrechen darf man sich über den Aspekt, dass Gounod 1877, also sechs Jahre nach der Absetzung des letzten französischen Königs und der Ausrufung der Dritten Republik, eine Oper mit eindeutig royalistischer Tendenz veröffentlichte (Cinq-Mars‘ Verschwörung hat neben den Eigeninteressen das hehre Ziel, Louis XIII. aus dem Würgegriff Richelieus zu befreien, auch wenn Louis, wie man am Schluß sieht, gar nicht befreit werden möchte); im Programmheft bieten sich hierzu erste Gedankenanstöße. Ob es freilich Absicht war, dass mit Mathias Vidal ein nicht eben großgewachsener Sänger die Titelrolle übernimmt, der fast einen Kopf kleiner als Jonathan Michie (Conseiller De Thou) und auch ein gutes Stück kleiner als Fabienne Conrad (Prinzessin Marie de Gonzague) ist (von der beeindruckenden Gestalt Mark Schnaibles als Pater Joseph ganz zu schweigen), kann hier nicht entschieden werden – eventuelle Minderwertigkeitskomplexe des kleinen Titelhelden spielen in Pilavachis Inszenierung jedenfalls keine vordergründige Rolle.


Mathias Vidal hatte allerdings bereits in der 2015er konzertanten Aufführung die Titelrolle gesungen, und so war er für die Leipziger offenbar erste Wahl. Zu Recht – er ist der Stärkste unter der Sängerriege, wechselt paßgenau zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt und macht sich trotz seiner Kleinheit akustisch stets so bemerkbar, dass man ihn nicht überhören kann. Die stimmliche Harmonie mit Jonathan Michie, die der Vertrautheit der beiden Figuren, die schließlich gemeinsam den Tod erleiden, entspricht, paßt parfekt, und fast folgerichtig bekommen diese beiden am Ende auch den stärksten Applaus aller Sänger ab. Interessanterweise bietet die Oper wenig Profilierungsstoff für die Sänger – Gounod hat kaum große Arien eingeflochten, mit Ausnahme vielleicht der Nachtarie Maries in Akt II, die Fabienne Conrad sehr emotional an den Mondhimmel richtet. Auch von den anderen Sängern unterschreitet keiner ein gutes Niveau (ob die forcierten Spitzentöne von Danae Kontora als Kurtisane Marion Delorme so geplant waren, müssen Kenner des Notenmaterials entscheiden). Am Pult des Gewandhausorchesters im Graben steht David Reiland, ein Debütant, der sich nicht schlecht schlägt und zahlreiche exzellente Klangwirkungen hervorzaubert, aber in puncto Feinabstimmung beispielsweise mit dem Ballett für die nächsten Vorstellungen noch ein wenig Arbeit vor sich hat, wohingegen etwa die Hornpassagen in Akt III (der bei einer Jagd im Walde spielt) allerhöchsten Ansprüchen genügen und das Orchester auch die stilistischen Bocksprünge mit Wechseln in Tanzmusik des 17. Jahrhunderts (die bei den Hoffestszenen gefragt ist) prinzipiell gut meistert, von den erwähnten Feinschliffstellen abgesehen. Die neben Vidal und Michie intensivsten Bravorufe bekommt allerdings der Chor der Oper Leipzig ab – der hat nur wenige Monate zuvor sein 200jähriges Bestehen gefeiert, und er beweist an diesem Abend ein weiteres Mal, dass er zu den besten Ensembles seines Faches gehört. Über die Qualität der französischen Aussprache maßt sich der Rezensent, der dieser Sprache nicht mächtig ist, natürlich kein Urteil an, aber da nicht nur Vidal, sondern auch diverse andere Sänger Muttersprachler sind, dürfte hier gleichfalls nichts anbrennen. Ein gewisses Quantum Pathos muß der Hörer freilich aushalten – vor allem die Gebetsszene im Gefängnis ist an solchem kaum zu überbieten. Kurioserweise baut aber auch Gounod noch ein Element der ironischen Brechung ein, indem er nach dem scheinbaren Schlußakkord noch zwei durch Generalpausen abgesetzte Zupfer vorsieht. Das eröffnet deutungstechnisch nochmal ein weites Feld, aber schon die 165 Minuten zuvor haben reichlich Stoff zum Nachdenken geliefert und richtig gute Musik noch dazu. Das Publikum belohnt die Leistungen mit lautem und ausdauerndem Applaus, die Buh-Quote liegt bei Null, und so herrscht allgemeine Zufriedenheit. Wer diese gleichfalls erleben möchte, findet auf www.oper-leipzig.de die nächsten Aufführungstermine.

Roland Ludwig


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