Artikel
Info
Zeit: 17.02.2017
Ort: Leipzig, Bandhaus
Fotograf: Alexander Groß
Internet:
http://www.bandcommunity-leipzig.org
Der klassische Prog gilt in Leipzig gemeinhin seit vielen Jahren als tot, trotz einiger Exponenten wie Dice oder Toxic Smile. Erst Disillusion schafften es, aus dem extremen Metal kommend, die gepflegte Taktwechselanhäufung wieder für einen größeren Kreis von Bands attraktiv zu machen, und so werkelt im Underground eine gewisse Anzahl von Gourmetmusikern und macht in Abständen seine Klangkreationen einer gewissen Anzahl von Gourmetanhängern zugänglich. Dass an diesem Abend im Bandhaus eine größere Besucherzahl anwesend ist als zu diversen Traditionsmetalgigs an gleicher Stelle, spricht zwar eher gegen den Traditionsmetalunderground der Messestadt als für eine überragende Proginteressiertheit desselben, ist aber doch zumindest bemerkenswert.
Den Auftakt machen eine Stunde nach verbrieftem Startzeitpunkt Higgsino, ein Instrumentaltrio aus einem völlig normal aussehenden Drummer, einem typischen „studentischen Nerd“ an der Gitarre und einem Bassisten mit Zlatan-Ibrahimovic-Dutt. Diese drei Herrschaften beschallen das Publikum im ersten ihrer fünf Songs mit wüstestem Mathrock, den sie auch im kurzen ersten Teil des Folgesongs namens „Antlitz“ beibehalten, bevor sie mit einem fast kuschligen Akustikthema in dessen zweiten, deutlich ausladenderen Teil überleiten, wo sich ebenjenes Thema mit relativ geradlinigen Doomparts abwechselt und irgendeine Art von Postrock bildet, der dann den restlichen Teil des Sets prägt, wo wüstes Gefrickel nur noch an wenigen Stellen auftaucht, während etwa ein Song wie „Aus“ regelrecht als geradlinig einzustufen ist. Das mit einem nicht überlauten und transparenten Sound bestechende Trio versteht es durchaus, große Bombastwände aufzuschichten, und der Gitarrist spielt zu diesem Zweck auch eine Loopstation, für deren eventuelle Fehlbedienung er sich per Ansage schon mal entschuldigt: „Der Looper ist nicht meiner, ich kann damit nicht umgehen!“ So schlimm ist’s freilich nicht – im Gegenteil: Der Set macht so viel Hörspaß, daß nach Verklingen der finalen Bombastwand des letzten Songs das Auditorium eine Zugabe einfordert und diese auch bekommt. Es erklingt ein Song mit dem schönen Titel „Posttriolischer Zwangsbinärismus“, mit Akustikparts gespickt und hier und da fast zu einem flotten Hüftschwung einladend.
In der nun folgenden Umbaupause wird das Drawn-To-Lines-Backdrop aufgehängt, es spielen zunächst aber EndEater. Die kommen ebenfalls ohne einen Sänger aus, haben aber einen Gitarristen mehr in der Besetzung als Higgsino – und den brauchen sie auch: Egal welchen der beiden Sechssaitenartisten man entfernen würde, es wäre ein Verlust für die Band. Der eine würde mit seinen blonden Dreadlocks durchaus auch in manch andere Band passen, der andere sieht mit Mütze und Brille jungenhaft harmlos aus, hat es aber faustdick hinter den Ohren: Die Truppe spielt Progmetal der extremeren Sorte und schreckt auch vor Blastbeats nicht zurück, sondern macht die hier und da sogar zum prägenden Songbestandteil, während eine Nummer wie „Wahnsinniger Walzer“ tatsächlich auf einem Dreivierteltakt beruht, aber die drei Saiteninstrumentbediener alle möglichen und unmöglichen Zusatzelemente einstreuen läßt. Das Schöne an der Sache ist, daß dieses instrumentale Flächenbombardement nie willkürlich, sondern stets durchdacht wirkt und man tatsächlich schon beim ersten Hören die eine oder andere Grundidee nachvollziehen kann, ohne daß da jetzt übermäßig eingängige Passagen enthalten wären. Eine Nummer wie „Läufer“ etwa läßt vor dem geistigen Auge tatsächlich einen solchen entstehen, und „Building Utopia“ stellt sogar so eine Art Mini-Hit der Combo dar, ist nicht zuletzt anhand eines YouTube-Videos einigen Anwesenden bekannt, sorgt für vereinzelte Headbanger im Publikum und wird von der Bühne her mit einer witzigen Mitklatschaufforderung eingeleitet. Natürlich erfinden auch EndEater das musikalische Rad nicht neu, haben doch Meshuggah vor zwei Jahrzehnten oder Lengsel vor einem Jahrzehnt schon ähnliche Musik gespielt, und Extreme-Prog-und-Black-Metal-Experte Tobias Audersch vom CrossOver könnte vermutlich auf Anhieb eine Handvoll Combos des heutigen Black Metal aufzählen, die, würde man ihren Sänger zur Hölle schicken, ähnlich klängen wie EndEater. Aber das soll die Leistung des Quartetts nicht schmälern, zumal es auch ein Erlebnis ist, es spielen zu sehen (vor allem der oben zweitgenannte Gitarrist ist quasi permanent mit allen zehn Fingern auf dem Griffbrett unterwegs), und so ist die Stimmung im Bandhauskeller denn auch prima.
Drawn To Lines hat der Rezensent vor einem knappen halben Jahr an gleicher Stelle schon mal erlebt, und der Interessent kann die damaligen Eindrücke auf www.crossover-agm.de nachlesen. Damals stellte das Quartett die mit Abstand ungeradlinigste Band des Packages dar, diesmal ist es die mit Abstand geradlinigste der drei Formationen – und interessanterweise funktionieren beide Konstellationen zumindest vom Grundprinzip her, und man hat nirgendwo das Gefühl der Deplaziertheit. Jedenfalls spielen Drawn To Lines auch diesmal geschickt auf der Laut-Leise-Dynamikklaviatur, und da das Klanggewand etwas klarer ausfällt als damals, kann man bestimmte Entwicklungslinien noch besser nachvollziehen. Ein klein wenig Drums noch weniger und ein klein wenig Gesang noch mehr im Gesamtbild, und das Ideal wäre erreicht gewesen. Stichwort Gesang: Drawn To Lines sind die einzige Band des Abends, die in ihren Songs regulär mit der menschlichen Stimme arbeitet, und der auch eine der beiden Gitarren bedienende Sänger deckt ein breites Spektrum zwischen Klargesang und etwas energischerem Shouting ab, wobei der Anteil des letzteren gefühlt etwas abgenommen hat (ältere und noch etwas härtere Nummern wie „Angry Man“ sind mittlerweile aus der Setlist gerutscht), allerdings der Gitarrenpartner bisweilen noch Kontrastpunkte mit herbem Gebrüll setzt. Die immer noch zahlreichen Dynamik- und Rhythmuswechsel sitzen freilich auch hier wie eine Eins, man denkt immer noch manchmal an Tool, aber auch an Bands wie Futile, und mit der vorderen Hälfte von „Firmament“ beweisen Drawn To Lines sogar, daß sie eine Art Hit schreiben könnten, wenn sie das denn wollen. Ob sie in Zukunft mal wollen, darf gespannt abgewartet werden – ihr Set schließt einen hochinteressanten Gig auf hohem Niveau ab.
Setlist Drawn To Lines:
Coat Of White
In Cipher
Firmament
Flame
Lucid Dream
Withdrawal
Thrive And Wither
Inertia
Linger
Roland Ludwig
Zurück zur Artikelübersicht |