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Info
Zeit: 14.01.2017
Ort: Chemnitz, Opernhaus
Internet:
http://www.theater-chemnitz.de
Das Phänomen der Spekulationsblase ist durchaus kein ausschließlich der Neuzeit zugehöriges – sollte jemand dieses Faktum vergessen haben, führt es ihm Constantin von Castenstein wieder vor Augen. Der Mann ist der Librettist von Benjamin Schweitzers an einem winterlichen Januarwochenende im Chemnitzer Opernhaus uraufgeführter Operette Südseetulpen, und er hat für das Textbuch zwei markante Beispiele historischer Spekulationsblasen ausgebuddelt und jedes in einem Akt dargestellt, nachdem ein kurzer Prolog die zentralen Figuren John Blunt und George Caswell vorgestellt und aus der Jetztzeit zunächst ins frühe 18. Jahrhundert katapultiert hat. Ebendort koordinieren die beiden Plutokraten die Arbeit der South Sea Company, eines Unternehmens, das unter dem Deckmantel des lukrativen Südseehandels im wesentlichen die Staatsschulden der englischen Krone verwalten, verringern und decken soll. Eine Jamaikareise Blunts und Caswells führt nicht zu den erhofften gewinnbringenden Handelsaktivitäten (Jamaika in die Südsee zu verlegen kann freilich nur mit den mäßigen geographischen Kenntnissen des 18. Jahrhunderts gerechtfertigt werden), aber nach ihrer Rückkehr schaffen sie es mit geschickt gestreuten Gerüchten und einer Portion Zufall, daß die Aktien der Company immer begehrter werden, obwohl kein realer Gegenwert hinter ihnen steht und der Staat samt Queen Anne nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges endgültig pleite ist. Als das bekannt wird, platzt die Blase, zahllose Anleger (darunter Prominenz wie Georg Friedrich Händel oder Isaac Newton, welch letzterer anfangs noch gegen den Finanzirrsinn ausgetreten war, aber schließlich selber von Anlagefieber befallen wurde) blieben auf wertlosen Papieren sitzen, und in der Operette rettet nur ein abermaliger Zeitsprung Blunt und Caswell vor den wütenden Verlierern. Der führt sie und das Jamaika-„Mitbringsel“ Pandora ein weiteres Jahrhundert zurück und in die Niederlande, wo die beiden Finanziers alsbald in einem weiteren Strudel stecken: Sie haben aus Jamaika nicht nur die hübsche Pandora (und Margaret, die Gattin des jamaikanischen Gouverneurs, die quasi den ganzen europäischen Hochadel kennt und manche Tür zu öffnen weiß) mitgebracht, sondern auch noch eine Tulpenzwiebel (hier gönnt sich der Librettist etwas botanische Freiheit, denn die Gattung Tulipa ist rein altweltlich verbreitet und kommt auf Jamaika gar nicht vor), und die Schönheit dieser Pflanze betört die eigentlich recht rationalen Niederländer derart, daß um sie herum ein weiterer Hype entsteht und für eine seltene Sorte bisweilen Gegenwerte ganzer Amsterdamer Grachtenhäuser geboten und auch bezahlt werden. Aber auch diese Blase platzt letztlich, Blunt und Caswell sind abermals die Gelackmeierten und verschwinden noch vor dem Schlußbild aus der Handlung (sie werden Drogenhändler und wollen das Gras, das sie beim friedlich-benebelten jamaikanischen Gouverneur kennengelernt haben, verkaufen), während der Geschäftsmann Peter Stuyvesant, der nicht vom Tulpenwahn „befallen“ war, sondern mit Krediten für die Tulpenwahnsinnigen oder Anleihen auf deren Besitz ein Vermögen verdient hat, die geschröpften Niederländer verläßt und gemeinsam mit Pandora nach Neu-Amsterdam segelt, wo er ein neues Wirtschafts- und Finanzzentrum errichtet, das noch heute floriert, allerdings unter seinem aktuellen Namen: New York ...
Diese Geschichte bringen der Librettist und das Kreativteam um Regisseur Robert Lehmeier anschaulich und mit dem gebotenen Spannungsfeld zwischen Humor und Ernst (wir haben immerhin eine Operette vor uns) auf die Chemnitzer Bühne. Da wimmelt es nur so vor Anspielungen in alle möglichen Richtungen, und man muß genau aufpassen, will man zumindest einen guten Teil von ihnen mitbekommen. Die Bühne ist eine Drehbühne, die relativ häufig rotieren muß, um wahlweise eine große Handlungsfläche oder eine kleine Tribüne mit verschiedenen Ausstattungsgegenständen zu bieten, wobei die Hauptprotagonisten wie selbstverständlich durch die Tür in der Trennwand die Sphäre wechseln. Die Ausstatter gönnen sich dabei durchaus die Freiheit, das jeweilige Jahrhundert um diverse Anachronismen zu bereichern, etwa wenn Händel trotz des aus dem Orchestergraben erschallenden Cembalos an einer Art Vorform des Synthesizers steht und unter Kopfhörern arbeitet, wenn hinten ein Textmonitor hängt, anstatt der Übertitel aber nur bestimmte Schlagworte eingeblendet werden oder wenn Queen Anne in einer Telefonzelle steht, obwohl Alexander Graham Bell erst anderthalb Jahrhunderte später sein erstes „Hello“ in den Hörer sprach. Da sprüht oftmals der Witz, was ebenso auf die zahlreich eingeflochtenen Sprechpassagen zutrifft. Entweder Castenstein oder die Ausstatter bauen sogar einen versteckten Seitenhieb ein, der Blunt und Caswell als Betrüger entlarvt: Die erste Tulpe, die in den Niederlanden zur Versteigerung gelangt, wird als Viridiflora bezeichnet – aber sie blüht, wie man am Kopfputz des sie darstellenden Schauspielers sieht, rosa, während die Viridiflora-Sortengruppe zumindest partiell in den Blütenblättern grünliche Töne zeigt. Und obwohl man am Ende nicht so richtig weiß, ob man belehrt oder belustigt den Saal verlassen soll, da einem das Schlußbild die Macht des Geldes mit unangenehmer Intensität vor Augen führt (wir erinnern uns – es sind zwar die Spekulanten weg, aber das Geld siegt trotzdem, und die schöne Frau rennt natürlich nur dem Geld hinterher), so haben wir doch ein hochinteressantes Theaterstück vor uns.
Wo ist nun der Haken an der Sache? Nun, es handelt sich nicht um ein Theaterstück, sondern um eine Operette. Komponist Benjamin Schweitzer, Jahrgang 1973, äußert sich im Programmheft begeistert über die Möglichkeiten, die dieses Genre bietet: „... unter anderem Wortwitz, politische Aktualität, die Mischung aus Nummernfolge und durchkomponierter Struktur; dazu die Tradition, viel mit gesprochenem Text zu arbeiten [...] und natürlich die Lizenz zu den abstrusesten Wendungen der Handlung ...“. All das finden wir in den netto etwas über zwei Stunden Spielzeit auch – nur hat er einen Faktor übersehen: den Hitfaktor, die Eingängigkeit und Zugänglichkeit. Alle großen Operetten lebten und leben davon, daß man irgendeine Nummer mitsummen kann und sich über diesen Faktor eine Beziehung zwischen Werk und Publikum ergibt. Und genau das bietet Südseetulpen nicht, obwohl Schweitzer beispielsweise mit dem fünftönigen Werbejingle der South Sea Company sogar ein Thema entwickelt, das sich bestens zum Ausbau in eine entsprechende Hitnummer geeignet hätte. Das Gros der Musik ist so uneingängig, wie man das von zeitgenössischen Komponisten der avantgardistisch gemeinten Richtung her kennt, und prügelt die Hörer nicht selten mit dem großen gußeisernen Fragezeichen, warum etwa der rhythmisch geradezu bedrohlich wirkende Holzschuhtanz von acht Balletteusen im zweiten Akt durch völlig anders rhythmisierte und die beschriebene Wirkung konterkarierende Orchestermusik ergänzt werden mußte, wohingegen die Seenotszene aus dem ersten Akt zwar musikalisch leicht angedüstert wird, aber gegenüber etwa einem wagneresken „Holländer“-Inferno nur wie ein laues Lüftchen wirkt. Heißt praktisch: Nicht selten stört die Musik eher, als daß sie etwas für die Handlung und deren Verständnis tut – gerade für das Operettengenre eine mehr als suboptimale Situation. Hier und da fühlt man sich an Brittens Klangsprache erinnert, etwa im Schlußteil des zweiten Aktes, wo sich eine Art bitterer Ernst einmischt, den man zwar als unangenehm, aber doch als logisch empfindet und wonach man sich nur umso intensiver fragt, was sich der Komponist denn bei großen Teilen des „Restes“ der Musik nun wieder gedacht hat. Sicher, er hat seine individuelle Kompositionsweise – aber irgendwie will die hier ganz und gar nicht zum Sujet und zum Genre passen.
Da ist auch der im Graben vor der Robert-Schumann-Philharmonie stehende Ekkehard Klemm, bekanntermaßen ein Spezialist für Neue Musik, mit seinem Latein am Ende, aber alle bemühen sich, zumindest die Klangbalance so weit zu halten, daß man die Sänger versteht, was allerdings im ersten Akt noch nicht immer gelingt (vor allem in der Seereiseszene sind die ganz hinten an der Reling stehenden Blunt und Caswell samt dem herrlich plattdeutsch sprechenden Käpt’n Blaubart, äh, Kapitän Bragwater kaum vernehmbar), im zweiten dann deutlich besser – und der Wortwitz bildet ja wie geschrieben einen der Haupttrümpfe des Stückes. Einzelkritiken der Sänger sind freilich kaum möglich (es gibt ja auch keinerlei Referenz), und so beschränkt sich der Rezensent darauf, Sophia Maeno hervorzuheben, die als Lady Margaret eingesprungen ist, weil Sylvia Schramm-Heilfort wenige Tage zuvor ihre Stimme verloren hatte und zwar spielen, aber nicht singen kann – letzteres tut Maeno links von einem Notenpult aus, und ihre Leistung ist besonders deshalb hervorhebenswert, weil es sich bekanntlich um eine Uraufführung handelt, sie also innerhalb von wenigen Tagen komplettes Neuland betreten mußte. Auch Elisabeth Holmer als Pandora ist angeschlagen und bestreitet daher nur einen Akt, während Sylvia Rena Ziegler für den anderen Akt einspringt (und kaum mehr Vorbereitungszeit hatte – also auch ein Sonderlob!). Alle geben hörbar ihr Bestes – daß das nicht reicht, um aus einem hochinteressanten Theaterstück auch eine gute Operette zu machen, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem bleibt interessant zu verfolgen, ob bzw. wie sich ein solches Stück behaupten kann – der Rezensent wagt angesichts der Unwägbarkeiten nicht nur der heutigen Finanz-, sondern auch der Kulturwelt keinerlei Prognose, regt aber trotzdem an, das Stück zumindest eine Parallelexistenz auf der Theaterbühne führen zu lassen.
Roland Ludwig
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