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15 oder 51 (dass ich mittlerweile noch ein Jahr älter bin, tut hier nichts zur Sache) – das ist ein gewaltiger Unterschied. Und der besteht nicht nur in regelmäßigen Krebsvorsorgeuntersuchungen, Nachdenken über die individuelle Rentenlücke und der gewachsenen Anzahl von Ordnern im Regal und auf der Festplatte, in denen in verschiedenster Form die eigene, gelebte und ständig größer werdende Vergangenheit dokumentiert ist.
15 oder 51 – das ist auch ein völlig anderer Umgang mit Musik. Manchmal frage ich mich selbstkritisch, ob die enttäuschte Reaktion auf einen großen Teil neu erscheinender Musik nicht mehr auf mein Herangehen, als auf die Schwäche und Fantasielosigkeit der aktuellen Produktionen zurückzuführen ist.
Blitz von Overkill erwähnte kürzlich in einem Interview, in dem auf die frühen Jahre der Thrasher zurückgeblickt wurde, die Mühe, die man sich damals in das Abfassen von Dankeslisten für die LP-Cover gemacht hatte. Er kommentierte das folgendermaßen: „Die Special-Thanks-List war früher eine große Sache, man musste witzige und coole Sachen bringen, die Fans haben die Listen wirklich durchgelesen. Das geht ja auf einer CD kaum noch. Ganz zu schweigen von einem Download.“ (Rock Hard, Nr. 343, Dezember 2015, S. 19)
Das lesend fühlte ich mich wieder zurückgebeamt in die späten 70er. Der Kauf einer LP war eine echte Entscheidung. Bei dem Etat, den man zur Verfügung hatte, konnten das nur eine, oder vielleicht auch mal zwei Scheiben pro Monat sein. Oft gingen einem Kauf mehrere Besuche im Plattenladen voraus, wo jeweils mehrere Alben in Augen- und Ohrenschein genommen wurden.
Gerade das Anhören war ein Ding für sich. Die empfindlichen Vinyl-Scheiben wurden dem Kunden nur in Ausnahmefällen in die Hand gedrückt. In der Regel stand ein Plattenspieler mit Kopfhörer neben der Kasse. Dort wurde die Scheibe vom Verkäufer aufgelegt und wenn man nach zwei Minuten genug vom ersten Stück gehört hatte, musste man ihn bitten den Plattenarm ein Stück weiter aufzusetzen. Das erforderte Geduld – oft mit schon zwei weiteren Kunden im Nacken, die darauf warteten, dass sie mit dem Anhören an die Reihe kamen.
War der Kauf dann getätigt, begann zu Hause das heilige Ritual des Plattenauflegens und während die Scheibe rotierte, las man die Texte mit, erspähte jedes Detail auf dem Cover, dem Innencover und las – wie von Blitz beschrieben – jedes Wort auf dem Album.
Und man hatte für jedes neue Album mindestens 14 Tage Zeit es kennen und lieben zu lernen. Am Ende kannte man die Tracklist (oft sogar mit Laufzeiten) auswendig, konnten die Texte zumindest teilweise mitsingen und wusste selbstverständlich, wer das Album produziert, wer die Stücke geschrieben und wer das Cover gezeichnet hatte.
Und heute? Da werden beim Gang durch den Second Hand Laden schnell mal fünf CDs in den Korb geschmissen – und man hat, wenn man bei den Sonderangeboten zugreift, kaum die Garantie, dass der Preis dann zweistellig ist. Die oft weit über eine Stunde langen CDs werden zwei Mal laufen gelassen, das Booklet schnell überflogen. Das kleingedruckte, oft katastrophal layoutete Geschreibsel kann man soundso nur mit Labor Equipment entziffern. Lernt man ein Album so überhaupt kennen?
Liegt es an meinem gesetzten Alter, den immer schlechter werdenden Zeiten, oder der Klimakatastrophe, I don’t know. Aber Aha-Momente, wie bei Klaus Lages „Transit“ habe ich immer seltener. Das Aha liegt nicht nur daran, dass Lage in besagtem Song eine Situation beschreibt, die ich nur zu genau kenne – den Transit von Westdeutschland nach West-Berlin über die Transit-Autobahn durch die DDR. Nein, es ist ein kleiner Satz. Mit fünf Worten, „Frau, ich freu mich wirklich“, blickt der korpulente Hanseat wenige Kilometer vor Berlin auf die Ankunft in Berlin voraus. Und das vier von ihnen ein Zitat aus BAPs „Frau ich freu mich“ sind, habe ich damals natürlich sofort gemerkt.
Die Live-Scheibe von Klaus Lage habe ich mir allerdings deutlich später angeschafft. Ob ich jede Anspielung auf dieses Album – falls es die irgendwo geben sollte – erkennen würde, ich weiß nicht. Denn Klaus Lages Mit meinen Augen live habe ich bereits zu einem Zeitpunkt erworben, in dem die Alben in recht hoher Frequenz im Regal landeten.
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