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Vom Mittelalter bis zur Moderne: 15. MUSIKFEST BREMEN startet mit der "Großen Nachtmusik“
Eine Idee, ebenso so einfach wie genial: Für einen Abend verwandelt man Bremens historischen Stadtkern in einen großen Konzertsaal; zur Eröffnung des 15. Musikfestes in Bremen wird Musik vom Mittelalter bis zur Moderne und von E bis U angeboten. An sieben verschiedenen Spielorten - u. a. im Dom, im Konzerthaus „Die Glocke“ oder im Rathaussaal - musizieren diverse Ensembles und Gruppen in drei Zeitschienen. Je nachdem bieten die Musiker im Laufe des Abends bis zu drei unterschiedliche Programme an. Das Publikum entscheidet vorher, was es aus diesem Angebot erleben möchte und wechselt nach jedem der rund einstündigen „Acts“ die Spielstätte.
Da findet sich eigentlich für jede und jeden etwas. Zum Beispiel könnte man um 19.30 Uhr mit den Musikern von Los Otros starten, die zusammen mit dem Sprecher Graham F. Valentin populäre englische „Alte Musik“ auf Gambe, Laute und Dudelsack präsentieren. Wer dann vielleicht von den Drops of Brandy eines gewissen Duke of Perth nicht nur musikalischen Durst auf Mehr bekommen hat, kann in der Pause auf dem Marktplatz in einem der Festzelte „auftanken“, bevor es z. B. um 21.00 Uhr vielleicht etwas gewagter aber nicht weniger unterhaltsam mit neobarocken Beatles-Arrangements der Gruppe Les Boreades weitergeht.
Dank des spätsommerlichen Wetters, das sehr viele Besucher anzog (nicht alle kamen wegen der Musik) und der spielerischen Illumination der Gebäude (Christian Weißkircher), verwandelte sich die bürgerstolze gründerzeitliche und gotische Architektur des Bremer Marktplatzes in eine fast schon mediterrane Piazza. Dieses Fest der Musik und der Sinne hätte man z. B dann ab 22.30 Uhr mit Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen und Schuberts unvollendeter Sinfonie Nr. 8, gesungen bzw. gespielt von Thomas Hampson, dem Chamber Orchestra of Europe unter Marc Minkowski, krönen können. Hätte und könnte …
Wir haben uns für ein anderes, insgesamt eher „klassisches“ Programm entschieden.
EKSTASE UND SCHRECKEN
Gestartet sind wir mit Schuberts 9. Sinfonie. Damit nämlich haben das Chamber Orchestra of Europe und Marc Minkowski ihr abendfüllendes Marathon-Programm in der „Glocke“ eröffnet. Insgesamt eine großartige Aufführung, welcher der Dirigent in jedem Takt seinen temperamentvollen Stempel aufdrückte: Er präsentierte Schuberts sinfonischen Schwanengesang als lustvolle Gratwanderung, die die Ausdrucksgrenzen der romantischen Musik erkundete und ungeahnte Extreme von Farbe und Dynamik in diesem phantastischen Irrgarten entdeckte. Doch brauchte es einen Moment, bis Dirigent und Orchester ihren Überschwang mit dem Fluss der Musik in Einklang gebracht hatten. Der 1. Satz startete fast schon zu druckvoll, den elegischen Momenten fehlte es da etwas an ruhigem Atem. Bereits im zweiten Satz aber verflüchtigten sich diese Startschwierigkeiten - dramatisch aufrauschende Steigerungen und romantisch ausschwingende Bögen wechselten einander derart mitreißend ab, dass man den leicht verwackelten Schlussakkord nicht übelnehmen konnte. Nach dem wunderbar tänzerisch gestalteten dritten Satz entfachte Minkowski im Schlusssatz einen wirbelnden Orchesterfuror von beinahe mahler´schen Ausmaßen. Die Verwendung von Naturtrompeten, wie überhaupt die souveräne und kraftvolle Darbietung der Blechbläser, trugen dazu einen wesentlichen Teil bei. In so wohl noch nie gehörter Manier gestaltete das Orchester die letzten Takte vor der Kadenz mit dampfmaschinengleichem Sound und ähnlicher Präzision - da war Schubert plötzlich der Moderne ganz nah (oder umgekehrt).
Nachdem das Publikum sich schon zwischen den Sätzen mit dem Applaus nicht zurückzuhalten vermochte, brach es nach diesem Finale ganz zu Recht in tosenden Beifall und Bravo-Rufe aus.
PATHOS UND PASTORALE
Nach diesem fulminanten Start ging es in der Kirche „Unser Lieben Frauen“ mit einem im Verhältnis dazu schon beinahe entspannten Händel- Konzentrat weiter. Thomas Hengelbrock und sein Balthasar- Neumann- Ensemble spielten in ihrem 2. Programm ein Concerto Grosso, das Konzert für Harfe und die Kantate Armida abbandonata. Das barocke Pathos wurde hier durch die filigrane Besetzung und blitzende Virtuosität gebrochen; den pastoralen Momenten haftete, anders als bei Schubert, nichts Doppelbödiges an. Ließ die Akustik des Raumes die fast orchestrale Farbpalette der Streicher glänzen, so blieb die Harfe (Margret Köll) leider zu sehr im Hintergrund. Etwas sehr zart nahm sich auch der Sopran von Malin Hartelius aus, der (nicht nur) beim Eröffnungsrezitativ der Kantate gegen das reduzierte Streichorchester kaum ankam - angesichts der sehr schönen Stimme und ausgefeilten Interpretation bedauerlich.
ECHOES
Solche Balanceprobleme gab es bei dem Auftritt des Hilliard-Ensembles im Bremer Dom nicht. Mühelos füllten die vier Briten mit ihren vibratolosen Stimmen den riesigen Raum. Im 30. Jahr ihres Bestehens hat der Klang dieser Gruppe nichts von seiner fast magischen Aura verloren: Lupenrein in der Intonation und makellos in der Stimmführung präsentierten die Sänger ein Programm mit Musik vom Mittelalter bis zur Moderne unter dem vieldeutigen Titel Echoes. Das Eröffnungsstück, das berühmte Viderunt omnes des Magister Perotines (12./13. Jhd.), ist eines der ersten vierstimmig notierten Kompositionen des Abendlandes. Die repetitiven Strukturen und hüpfenden Rhythmen ließen es wie ein Stück Minimal-Music à la Steve Reich klingen. Echo Nr. 1. Auch beim nachfolgenden Wreath of stone des englischen Komponisten Jonathan Wild (1689-1725) dachte man sofort an 20. Jahrhundert: So „verquer“ klangen die seltsamen Harmonien und die gebrochene Faktur des Stückes. Echo Nr. 2. Die „echte“ Moderne erreichte die Ohren aber erst nach Renaissance-Zwischenstops bei Josquin des Prés und Johannes Lupi. Das phantasievoll und witzig mit Lautmalereien spielende Madrigal La voce delle creature von Luca Belcastro (*1964) beschloss das eindrucksvolle Konzert mit einem weiteren „Echo“ - die Frage, ob diese Musik auf die Vergangenheit antwortet oder als „Zukunftsmusik“ voraustönt, stellte sich auch in diesem Fall.
Nach diesem gelungenen Auftakt werden wir Bremen noch mal Ende September einen Besuch abstatten. Dann nämlich steht mit Jacques Offenbachs „Grande Duchesse de Gérolstein“ als Finale des Musikfests eine waschechte Operette auf dem Programm. Wir werden davon in der nächsten Ausgabe berichten.
Info
Künstler: Musikfest Bremen 2004
Zeit: 04.09.2004
Zeit: 04.09.2004
MEDITERRANER ZAUBER AUF BREMENS MARKPLATZ
Erleuchtet: Bremens Dom |
Eine Idee, ebenso so einfach wie genial: Für einen Abend verwandelt man Bremens historischen Stadtkern in einen großen Konzertsaal; zur Eröffnung des 15. Musikfestes in Bremen wird Musik vom Mittelalter bis zur Moderne und von E bis U angeboten. An sieben verschiedenen Spielorten - u. a. im Dom, im Konzerthaus „Die Glocke“ oder im Rathaussaal - musizieren diverse Ensembles und Gruppen in drei Zeitschienen. Je nachdem bieten die Musiker im Laufe des Abends bis zu drei unterschiedliche Programme an. Das Publikum entscheidet vorher, was es aus diesem Angebot erleben möchte und wechselt nach jedem der rund einstündigen „Acts“ die Spielstätte.
Da findet sich eigentlich für jede und jeden etwas. Zum Beispiel könnte man um 19.30 Uhr mit den Musikern von Los Otros starten, die zusammen mit dem Sprecher Graham F. Valentin populäre englische „Alte Musik“ auf Gambe, Laute und Dudelsack präsentieren. Wer dann vielleicht von den Drops of Brandy eines gewissen Duke of Perth nicht nur musikalischen Durst auf Mehr bekommen hat, kann in der Pause auf dem Marktplatz in einem der Festzelte „auftanken“, bevor es z. B. um 21.00 Uhr vielleicht etwas gewagter aber nicht weniger unterhaltsam mit neobarocken Beatles-Arrangements der Gruppe Les Boreades weitergeht.
Dank des spätsommerlichen Wetters, das sehr viele Besucher anzog (nicht alle kamen wegen der Musik) und der spielerischen Illumination der Gebäude (Christian Weißkircher), verwandelte sich die bürgerstolze gründerzeitliche und gotische Architektur des Bremer Marktplatzes in eine fast schon mediterrane Piazza. Dieses Fest der Musik und der Sinne hätte man z. B dann ab 22.30 Uhr mit Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen und Schuberts unvollendeter Sinfonie Nr. 8, gesungen bzw. gespielt von Thomas Hampson, dem Chamber Orchestra of Europe unter Marc Minkowski, krönen können. Hätte und könnte …
Wir haben uns für ein anderes, insgesamt eher „klassisches“ Programm entschieden.
Und das Rathaus |
Nach dem Konzert: Marc Minkowski ist ganz aus dem Häuschen |
EKSTASE UND SCHRECKEN
Gestartet sind wir mit Schuberts 9. Sinfonie. Damit nämlich haben das Chamber Orchestra of Europe und Marc Minkowski ihr abendfüllendes Marathon-Programm in der „Glocke“ eröffnet. Insgesamt eine großartige Aufführung, welcher der Dirigent in jedem Takt seinen temperamentvollen Stempel aufdrückte: Er präsentierte Schuberts sinfonischen Schwanengesang als lustvolle Gratwanderung, die die Ausdrucksgrenzen der romantischen Musik erkundete und ungeahnte Extreme von Farbe und Dynamik in diesem phantastischen Irrgarten entdeckte. Doch brauchte es einen Moment, bis Dirigent und Orchester ihren Überschwang mit dem Fluss der Musik in Einklang gebracht hatten. Der 1. Satz startete fast schon zu druckvoll, den elegischen Momenten fehlte es da etwas an ruhigem Atem. Bereits im zweiten Satz aber verflüchtigten sich diese Startschwierigkeiten - dramatisch aufrauschende Steigerungen und romantisch ausschwingende Bögen wechselten einander derart mitreißend ab, dass man den leicht verwackelten Schlussakkord nicht übelnehmen konnte. Nach dem wunderbar tänzerisch gestalteten dritten Satz entfachte Minkowski im Schlusssatz einen wirbelnden Orchesterfuror von beinahe mahler´schen Ausmaßen. Die Verwendung von Naturtrompeten, wie überhaupt die souveräne und kraftvolle Darbietung der Blechbläser, trugen dazu einen wesentlichen Teil bei. In so wohl noch nie gehörter Manier gestaltete das Orchester die letzten Takte vor der Kadenz mit dampfmaschinengleichem Sound und ähnlicher Präzision - da war Schubert plötzlich der Moderne ganz nah (oder umgekehrt).
Nachdem das Publikum sich schon zwischen den Sätzen mit dem Applaus nicht zurückzuhalten vermochte, brach es nach diesem Finale ganz zu Recht in tosenden Beifall und Bravo-Rufe aus.
PATHOS UND PASTORALE
Alle für Haendel: Hengelbrock, Ensemble und Solistin |
Nach diesem fulminanten Start ging es in der Kirche „Unser Lieben Frauen“ mit einem im Verhältnis dazu schon beinahe entspannten Händel- Konzentrat weiter. Thomas Hengelbrock und sein Balthasar- Neumann- Ensemble spielten in ihrem 2. Programm ein Concerto Grosso, das Konzert für Harfe und die Kantate Armida abbandonata. Das barocke Pathos wurde hier durch die filigrane Besetzung und blitzende Virtuosität gebrochen; den pastoralen Momenten haftete, anders als bei Schubert, nichts Doppelbödiges an. Ließ die Akustik des Raumes die fast orchestrale Farbpalette der Streicher glänzen, so blieb die Harfe (Margret Köll) leider zu sehr im Hintergrund. Etwas sehr zart nahm sich auch der Sopran von Malin Hartelius aus, der (nicht nur) beim Eröffnungsrezitativ der Kantate gegen das reduzierte Streichorchester kaum ankam - angesichts der sehr schönen Stimme und ausgefeilten Interpretation bedauerlich.
Hilliard Ensemble: David James, Rogers Covey-Crumb (hinter Dame), Steven Harrold, Gorden Jones |
ECHOES
Solche Balanceprobleme gab es bei dem Auftritt des Hilliard-Ensembles im Bremer Dom nicht. Mühelos füllten die vier Briten mit ihren vibratolosen Stimmen den riesigen Raum. Im 30. Jahr ihres Bestehens hat der Klang dieser Gruppe nichts von seiner fast magischen Aura verloren: Lupenrein in der Intonation und makellos in der Stimmführung präsentierten die Sänger ein Programm mit Musik vom Mittelalter bis zur Moderne unter dem vieldeutigen Titel Echoes. Das Eröffnungsstück, das berühmte Viderunt omnes des Magister Perotines (12./13. Jhd.), ist eines der ersten vierstimmig notierten Kompositionen des Abendlandes. Die repetitiven Strukturen und hüpfenden Rhythmen ließen es wie ein Stück Minimal-Music à la Steve Reich klingen. Echo Nr. 1. Auch beim nachfolgenden Wreath of stone des englischen Komponisten Jonathan Wild (1689-1725) dachte man sofort an 20. Jahrhundert: So „verquer“ klangen die seltsamen Harmonien und die gebrochene Faktur des Stückes. Echo Nr. 2. Die „echte“ Moderne erreichte die Ohren aber erst nach Renaissance-Zwischenstops bei Josquin des Prés und Johannes Lupi. Das phantasievoll und witzig mit Lautmalereien spielende Madrigal La voce delle creature von Luca Belcastro (*1964) beschloss das eindrucksvolle Konzert mit einem weiteren „Echo“ - die Frage, ob diese Musik auf die Vergangenheit antwortet oder als „Zukunftsmusik“ voraustönt, stellte sich auch in diesem Fall.
Nach diesem gelungenen Auftakt werden wir Bremen noch mal Ende September einen Besuch abstatten. Dann nämlich steht mit Jacques Offenbachs „Grande Duchesse de Gérolstein“ als Finale des Musikfests eine waschechte Operette auf dem Programm. Wir werden davon in der nächsten Ausgabe berichten.
Georg Henkel & Sven Kerkhoff
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