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Zeit: 28.10.2011
Ort: Hamburger Staatsoper
Fotograf: Copyright Staatsoper Hamburg
Internet:
http://www.hamburgische-staatsoper.de/de/2_spielplan/index.php?tmpl=performance&event=97780&t=Kalender
Georg Philipp Telemann sei ein großer Komponist, so der Cembalist und Dirigent Alessandro De Marchi. Auf den Konzertpodien der Konzertsäle und Kirchen hat sich diese positive Bewertung des lange Zeit als Vielschreiber geschmähten Komponisten langsam durchgesetzt. Aber der Opernkomponist Telemann ist nach wie vor relativ unbekannt. Als René Jacobs vor einigen Jahren Telemanns „Orpheus“ eingespielt hat, war das geradezu eine Sensation. Was für eine reiche, fantasie- und ausdrucksvolle Musik konnte man da entdecken! Der geschickte Mix aus deutschen Liedern, italienischen Arien und französischen Airs inklusive Chören und Tänzen ergab trotz der Buntheit ein überzeugendes Ganzes. Auch wenn die italienische Opera Seria mit ihren Starkastraten schließlich ganz Europa dominieren sollte: Für eine kurze, aber intensive Periode um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zog diese spezielle Spielart der deutschen Barockoper in Städten wie Hamburg und Leipzig das Publikum magnetisch an.
Telemann hat diese Epoche durch zahllose Werke entscheidend mitgeprägt. Leider ist das meiste davon verloren gegangen oder nur unvollständig erhalten. Auch bei der jüngst in der Hamburger Staatsoper präsentierten abendfüllenden Opera Seria Flavius Bertaridus musste die Ouvertüre ergänzt werden - angesichts der großen Auswahl an passenden Orchesterouvertüren aus Telemanns Feder kein Problem.
Eine Kooperation mit den Innsbrucker Festwochen für Alte Musik machte es möglich, dass die opulente Telemannoper auch in Hamburg auf die Bühne gehen konnte. Prächtig rauschte die Musik bei der Eröffnung aus dem halb hochgefahrenen Orchestergraben auf. Neben den Streichern kamen Flöten, Oboen, Fagotte sowie Pauken und Trompeten zum Einsatz. Luxuriös (aber historisch ganz stimmig): Gleich zwei Continuogruppen mit Cembali, Laute, Theorbe und Gitarre begleiteten die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne und trugen dazu bei, den musikalischen Spannungsbogen bei den Rezitativen nie abreißen zu lassen. De Marchi orientierte sich bei der Einrichtung der Partitur an den reichen klangfarblichen Möglichkeiten, die das Orchester der einstigen Hamburger Oper am Gänsemarkt bot und sorgte dafür, dass in fast jeder Arie ein obligates Instrument dem biegsamen, silbrigen Streicherklang der Hamburger Philharmoniker zusätzliche Farbe verlieh. Die Mischung aus „alten“ und „neuen“ Instrumenten wirkte organisch und klang frisch - so kann es heute gehen, wenn man das Beste der historisch informierten und „konventionellen“ Aufführungspraxis zusammenbringt.
Regisseur Jens-Daniel Herzog zeigte großes Einfühlungsvermögen in die Affektdramaturgie des Barocktheaters. Durch eine stringente, stellenweise äußerst witzige, aber nie alberne Modernisierung des Sets und die pointierte Erhellung der psychologischen Situation gelang es ihm, das Verhalten der Figuren nachvollziehbar zu machen. Das gilt auch für die heutzutage unglaubwürdig anmutenden Konventionen des Barocktheaters: Wenn die unglückliche Königin Flavia der Enge des Palastes entflieht, dann ergötzt sie sich laut Libretto am Nachtigallengesang in freier Natur, der durch ein zwitscherndes Duett zweier Sopraninoflöten auch gleich ihre sinnliche Arie verschönt. Dass diese Idylle angesichts der brutalen Herrschaft ihres Mannes, des Ursupators Grimoaldo, kaum glaubwürdig ist, erhellt Herzog dadurch, dass er die Königin die liebliche Szene im Drogenrausch erleben lässt.
Die Einsamkeit der Schein-Mächtigen und ihr verzweifeltes Arrangement mit der der Macht des Stärkeren verkörperte Ann-Beth Solvang als Flavia übrigens besonders eindringlich: mit großer, leidenschaftlicher Stimme und intensiver Bühnenpräsenz. Ihren Gemahl sang und spielte der Bassist Antonio Abete nach einem etwas blassen Start nicht minder leidenschaftlich. Als Grimoaldo gibt er den Großen Diktator in Galauniform, der seinen Operettenhofstaat nach Lust und Laune kujoniert. Es liegt in der moralisch korrekten Logik des Stücks, dass dieser triebgesteuerte Popanz am Ende dem rechten Herrscher Flavius Bertaridus unterliegen muss. Den stattete Maite Beaumont mit kühl aufblitzenden Koloraturen und beherrschter Sinnlichkeit aus: ein aufgeklärter Absolutist. Dass dessen Herrschaftsform im Grunde die gleiche, freilich „anständiger“ ausgeübte ist, wird spätestens im Schlussbild erkennbar, wenn die alten Paladine die neuen Minister sind.
Durch solche Akzentuierungen gelang es der Regie immer wieder, die moralischen Gewissheiten der stereotypen Dramaturgie und Personenzeichnung aufzubrechen. Dank der Aufdeckung solcher Ambivalenzen durch eine geschickte Personenführung erschien Telemanns Haupt- und Staatsaktion plötzlich sehr aktuell und vielschichtig: Ob es nun um das verdorbene Luxusleben der High-Society bei Hofe ging (amüsant die Szene vor der Palasttoilette!), die Existenz der „Soziallemuren“ (Herzog) vor den Refugien der Reichen oder die durch Entfremdungen oder Traumatisierungen gestörten Familienverhältnisse der Guten wie der Bösen ging - stets fand Herzog eine überzeugende moderne Formulierung für die vermeintlich veralteten, stilisierten Opernkonventionen. Kongenial auch die Idee, eine virtuose Arie der Hauptfigur mit „gefrorenen Bildern“ der übrigen Personen gleichsam „gegenzuschneiden“, um den Wechsel von äußerer Aktion und innerem Erleben zu verdeutlichen. Unter den Nebenrollen ragte übrigens noch der Countertenor David DQ Lee durch die komische, aber nicht klamaukige Überzeichnung seiner Dienerfigur heraus.
Das mobile Einheits-Bühnenbild von Mathis Neidhardt, das wie bei den Vorgängern im 18. Jahrhundert den schnellen Szenenwechsel ermöglichte und mal den heruntergekommen labyrinthischen Palast, mal eine Bahnstation im Nirgendwo repräsentierte, unterstützte diesen Ansatz ausgezeichnet. Die - trotz kleinerer Striche - immer noch barocke Länge der Oper erwies sich als ausgesprochen kurzweilig - eine lohnenswerte Wiederaufführung!
Georg Henkel
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