Nur zweite Wahl? Festmusiken für den Darmstädter Hof von Christoph Graupner in der Leipziger Musikhochschule




Info
Künstler: Gesangssolisten und Instrumentalensemble der Fachrichtung Alte Musik der HMT Leipzig

Zeit: 07.04.2018

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Den Namen Christoph Graupner kennt auch der kulturinteressierte Bewohner Mitteldeutschlands wohl im wesentlichen nur wegen der Geschehnisse bei der Thomaskantorwahl 1723: Der Leipziger Rat entschied sich zunächst für Georg Philipp Telemann, dem der Hamburger Rat als Arbeitgeber aber prompt ein Angebot unterbreitete, zu wesentlich besseren Bezügen in der Hansestadt zu bleiben, und Telemann, der genau das beabsichtigt hatte, ging nicht nach Leipzig. Zweiter der Auswahl war der Darmstädter Hofkapellmeister Christoph Graupner – und die Geschichte wiederholte sich: Graupners Dienstherr, Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, ließ den Musiker nicht ziehen, versüßte diesem sein Bleiben aber mit deutlich erhöhter Bezahlung. So mußten sich die Leipziger mit der dritten Wahl zufriedengeben, einem gewissen Johann Sebastian Bach, was sie auf Dauer wohl kaum bereut haben werden ...
Aus hiesiger Perspektive schon deutlich unbekannter ist der Fakt, dass Graupners Bewerbung in Leipzig nicht zufällig erfolgt sein dürfte, sondern eine hiesige Anstellung einem „back to the roots“ gleichgekommen wäre: Graupner, 1683 in Kirchberg bei Zwickau geboren, war Thomasschüler in Leipzig und später Musikstudent bei Johann Schelle und Johann Kuhnau, den beiden Bach zeitlich vorgelagerten Thomaskantoren, bevor er erst nach Hamburg und 1709 nach Darmstadt ging. Aber völlig unabhängig von diesen Fakten: Wer hat schon mal Musik von Graupner gehört? Der Mann war ein ähnlich produktiver Komponist wie Telemann – etwa 2000 Werke sind erhalten, darunter allein 1400 Kantaten, aber die tonträgertechnische Erschließung beschränkte sich bisher im wesentlichen auf Kammermusikwerke, und erst in jüngerer Zeit rücken die Kantaten etwas stärker in den Fokus auch überregionaler bzw. internationaler Ensembles. Im Konzertbetrieb begegnet man ihnen allerdings auch höchst selten, und so stellt das 2018er Projekt der Fachrichtung Alte Musik an der Leipziger Musikhochschule eine willkommene Gelegenheit dar, einen Einblick in Graupners Schaffen zu gewinnen.

In den Jahren, als Susanne Scholz die Leitung dieses alljährlichen Projektes hatte, kam im Regelfall ein komplettes Werk, meist eine Oper, zur Aufführung. Opern hat Graupner auch ein paar komponiert – die Wahl der neuen Verantwortlichen, Mechthild Karkow und Jan Freiheit, fiel aber anders aus: Sie stellten unter dem Titel Bey Paucken und Trompeten Schallen ein 110minütiges Pasticchio aus zwei Kantaten und einem Divertissement zusammen, dessen Bestandteile jeweils einzelne Anlässe der fürstlichen Familie als Hintergrund haben: die titelgebende Kantate zum 59. Geburtstag des Landgrafen, das Divertissement zur Hochzeit des Darmstädter Erbprinzen Ludwig mit der Erbprinzessin Charlotte Christina von Hanau-Lichtenberg anno 1717 (von dem die Musikwissenschaft bis heute nicht weiß, ob es damals überhaupt zur Aufführung gelangte) und schließlich die neun Jahre später entstandene Trauerkantate Ach, meines Jammers und Herzeleids zum Begräbnis ebenjener Erbprinzessin, zu dem auch wie damals üblich ein gedrucktes Trauerbuch mit Leichenpredigt, Trauermusik etc. erschien (siehe Titelblatt oben). Ergänzt wird dieses Pasticchio noch um kleine Instrumentaleinschübe aus weiteren Graupner-Werken.
Obwohl es sich also diesmal nicht um eine Oper handelt, nutzen die Leipziger die Gelegenheit trotzdem für eine Art szenischer Aufführung. Nach der Ouvertüre und dem von den Notenpulten auf der betrachterseitig linken Bühnenseite aus als Septett gesungenen Eingangschor aus der Geburtstagskantate verlassen also vier Sänger erstmal wieder die Bühne, es bleiben die drei Gesangssolisten des Hochzeitsstücks, das sich direkt anschließt, während die anderen vier Solisten dann die Trauer- und den Löwenanteil der Geburtstagskantate singen. Diverse Umkleidungen finden auf der Bühne statt (Martins Garkevics erinnert mit seiner Perücke unwillkürlich an einen 80er-Jahre-Metaller), wesentliche Ausstattungselemente sind nur einige von der Decke herabhängende breite Stoffbahnengruppen sowie eine wohl eins der männlichen Mitglieder der Herrscherfamilie darstellende knapp lebensgroße stumme Rolle, der der für Bühnenbild und Barockgestik verantwortliche Niels Badenhop einen Tick ins 20. Jahrhundert gönnt, indem er sie sich wie ein mechanisches Spielzeug bewegen läßt, was den Betrachter unwillkürlich an Kraftwerks „Wir sind die Roboter“ erinnert. Ansonsten interagieren die sieben Sänger (plus einige Umbau- und Umziehhelfer, die sonst im Orchester spielen, aber den Graben bisweilen verlassen, um auf der Bühne eben als Helfer zu wirken) lediglich miteinander sowie mit den multifunktionalen Stoffbahnen, und zur Gesamtästhetik treten noch einige Lichteffekte, wenn es sich textlich anbietet und etwa die Arie „Brennet und flammet“ aus der Geburtstagskantate logischerweise rotes Licht zur Folge hat. Als weiteres Element wird schließlich noch eine Tanzszene eingefügt, die zu einem der eingefügten Instrumentalteile, nämlich einer Tanzsuite, gehört, und auch hier finden sich wieder „Doppelagenten“ im Einsatz, die sonst im Orchester werkeln.
Von den sieben Sängern hinterläßt Sopranistin Viola Blache den stärksten Eindruck – was sie in der Arie „Klärt euch auf, ihr Freuden-Höhen“, ebenfalls zur Geburtstagskantate gehörig und quasi dauernd aus schwierigen Koloraturen bestehend, leistet, grenzt an Übermenschliches, und die Tatsache, dass der letzte Spitzenton nicht ganz sauber kommt, dies aber auch schon das einzige Manko ist, beweist diese These aufs Neue. Von den sechs anderen Sängern unterschreitet keiner ein achtbares Niveau, und wenn beispielsweise die aus Frankreich stammende Sopranistin Clara Barbier noch ein wenig stärker an der deutschen Aussprache arbeitet, könnte sie gleichfalls zu ganz Großem fähig sein – wie sie in der Arie „Lacht und tanzet“ aus dem Hochzeitsstück beim letzten Wiederkehren der Titelzeile mit einer brillanten Leichtigkeit in abartige Höhen gleitet, nötigt schon jetzt allerhöchsten Respekt ab. Das Orchester wiederum bedarf ein wenig Anlaufzeit zum Gewinnen der Spielsicherheit, wie man gleich in der Ouvertüre bemerkt, als sich am Ende nicht alle über das Tempo der Verzögerung einig sind, und hier und da geraten einige Musiker an Grenzen, beispielsweise die Traversflötisten in der das Hochzeitsstück eröffnenden Arie „Ihr schlummert“, wo man deutlich hört, wie heilfroh sie sind, wenn sie am Ende einer mehrmals wiederkehrenden langen Phrase ankommen – generell überwiegen aber die positiven Momente, und die diversen lautmalerischen Elemente, die Graupner einbastelt, gestaltet das überwiegend studentisch besetzte und um einige Lehrkräfte bzw. Externe erweiterte Orchester natürlich mit besonderer Freude, seien es Echoeffekte oder der plötzlich im Text der Geburtstagskantate vorkommende Untergang Hessens, der, so stellt sich heraus, zu den Dingen gehört, welche die Gratulanten dem Landesherrn nicht wünschen. Ob der Komponist bestimmte Elemente mit ironischer Absicht so gestaltet hat, darüber dürfen sich die Musikwissenschaftler den Kopf zerbrechen: In „Christus der ist mein Leben“, dem Schlußchoral der Trauerkantate, stehen der traurige Gesang und die fröhlichen Holzbläser in einem seltsamen Widerspruch, und dass gerade der Schlußchor der Geburtstagskantate alles andere als pomphaft und festlich, sondern eher verknappt wirkt, könnte auch ein gewitzter Tritt vors Schienbein des nicht durchgängig beliebten Landesherren sein. In der Gesamtbetrachtung gerät diese Zusammenstellung von Festmusiken eines barocken Lebenszyklus‘, so der Untertitel, jedenfalls definitiv interessant, wozu alle Beteiligten ihr Scherflein beitragen. Nur ist das Ganze durchaus anstrengend: Die 110 Minuten werden ohne Pause durchgespielt. Im angenehm klimatisierten Großen Saal der Hochschule läßt sich das konditionell aushalten, aber bei der zu erwartenden zweiten Aufführung beim Alte-Musik-Fest im Musikinstrumentenmuseum der Messestadt im Juni, die üblicherweise in einem bei Sommerwetter schnell Saunatemperaturen aufweisenden Saal stattfindet, wäre eine Pause (nach der Trauerkantate?) dringend anzuraten, selbst wenn der Fakt, dass die Geburtstagskantate diesmal sogar attacca an die Trauerkantate anschließt, noch einen speziellen Aspekt ironischer Brechung beinhaltet, der mit der Pause verlorenginge. Wie auch immer: Das Publikum im zu ca. zwei Dritteln gefüllten Saal spendet reichlich Applaus, und Viola Blache bekommt verdientermaßen den lautesten Einzelbeifall.


Roland Ludwig



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