····· Ringo setzt sich den Stetson auf ····· Der Oktober 2024 wird zum MC5-Monat ····· Kool & the Gang kommen in die „Rock’n’Roll Hall of Fame“ ····· Isolation statt Desolation - The Sweet re-releasen ihr Corona-Album ····· Deep Purple laden Jefferson Starship als Special Guests ein ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Reviews

Grimace – Senleches - Solage u. a. (Brisset)

Codex Chantilly: En l’amoureux vergier


Info

Musikrichtung: Mittelalter vokal

VÖ: 01.01.2011

(Aeon / Note 1 / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. AECD 1099)

Gesamtspielzeit: 64:12

SINNLICH & ESOTERISCH

Musikalischer Surrealismus im Mittelalter? Oder ist das - mit Verlaub - Musik über's Kiffen? Das Rondeau Fumeux fume par fumee, zu Deutsch etwa „Der Raucher raucht durch den Rauch“, das von einem gewissen Solage im 14. Jahrhundert komponiert wurde, ist für beides ein heißer Kandidat. Auch wenn der Tabak damals noch nicht bekannt war, so kannte man wohl andere stimulierende Mittelchen, die sich rauchen ließen, vielleicht sogar Haschisch oder Opium. Wie auch immer: Dieses vierstimmige Vokalstück klingt selbst wie ein Soundtrack zum Drogenrausch und beschwört mit merkwürdigen Schwebungen veränderte Wahrnehmungen: Die Stimmen scheinen im chromatischen Dunst geradezu zu verschwinden, die Musik schlingert und schillert wie ein Traumgebilde. Wo hier oben und wo unten sind, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Von einigen „leeren“, typisch mittelalterlichen Quint-Intervallen abgesehen, könnte das Stück so auch gut im 20. oder 21. Jahrhundert komponiert worden sein.

Das Ensemble De Caelis präsentiert unter der Leitung und Mitwirkung von Laurence Brisset unter anderem dieses hochmanirierte Kleinod aus dem berühmten Codex Chantilly. Diese Sammlung enthält Kabinettstückchen der (später) so genannten Ars subtilior, einer avantgardistischen französischen Richtung, die sich vor allem im Umkreis des päpstlichen Hofes in Avignon entfaltete. Es ist im Wesentlichen eine weltliche Kunst, auch wenn z. B. in der dreitextigen Motette Alpha vibrans - Coetus venit - Amicum querit u. a. ein religiöser Text erklingt. Doch der in diesem Fall anonyme Komponist hat für dieses Trio einen metrisch derart verschraubten Mechanismus kreiert, dass es jeden liturgischen Rahmen sprengen würde. Dies ist eine Kunst um der Kunst Willen, keine „Gebrauchsmusik“.
Das Album En l’amoureux vergier ist voll von derartigen Trouvaillen, darunter auch solch bekannte Stücke wie Senleches La harpe de mellodie, ein extravangant in Harfenform notierter Virelai. Wie alle Stücke des Codex Chantilly stellt er die heutigen Interpreten vor manches Rätsel, das zu lösen ist: Zunächst muss eine moderne Notation erstellt werden, was angesichts der ausgesprochen ökonomischen mittelalterlichen Mensuralnotation mit einigen Rechenkünsten und noch mehr Notenschreiberei verbunden ist. Und dann muss entschieden werden, wie die Musik ausgeführt wird. Nicht jeder Halbtonschritt ist vorgegeben, da gilt es, die Regeln für den richtigen Einsatz zu beachten. Und welche Instrumente soll man für die untextierten Teile nehmen?

De Caelis ist ein reines Damenensemble und führt die Musik überwiegend vokal aus, was einen sehr geschmeidigen und schwebenden Klangeindruck ergibt. Eine Harfe und ein Organetto kommen nur punktuell zum Einsatz und auf die instrumentale Fassung folgt eine vokale; gegebenenfalls werden dann die untextierten Teile mit Vokalisen „instrumentiert“. Dadurch ist der Klang sehr homogen, was vor allem den chromatischen Wagnissen sehr entgegen kommt. Nicht die Klangfarben der alten Instrumente, sondern vor allem die komponierten harmonischen Farben machen den Reiz dieser Musik aus. Das leicht diffuse Klangbild betont diesen Aspekt noch. Mitunter könnte man sich einen etwas „gespalteneren“ Klang vorstellen, der manche rhythmische Extravaganz mehr herausgekitzelt hätte. Aber ob das lautmalerische Vogelstimmenkonzert von Vaillants Virelai Par maintes foys dann ebenso sinnlich klingen würde wie in diesem Fall?



Georg Henkel

Trackliste

1Alpha vibrans - Coetus venit-Amicum querit (Motet)2:44
2Corps feminin par vertu de nature3:45
3En attendant, souffrir m'estuet (Ballade)6:02
4Par maintes foys (Virelai)3:32
5O bonne douce Franse (Rondeau)2:04
6La harpe de mellodie (Virelai)4:10
7Alma polis-Axe poli cum artica (Motet)4:03
8Fumeux fume par fumee (Rondeau)6:12
9Se Zephirus, Phebus et leur lignie-Se Jupiter (Ballade)5:09
10En un peril doutons bien delitable (Ballade)4:28
11He, tres doulz roussignol (Virelai)2:25
12Va t'en, mon cuer, aveuc mes yeux (Rondeau)4:34
13Adieu vous di, tres doulce compaygnie3:31
14A l'arme, A l'arme (Virelai)1:50
15Calextone, qui fut dame d'arouse (Ballade)3:47
16En l'amoureux vergier (Ballade)5:56

Besetzung

Florence Limon, Estelle Nadau: Sopran
Caroline Tarrit: Mezzosopran
Léna Orye: Alt
Laurence Brisset: Mezzosopran & Leitung
Zurück zum Review-Archiv
 


So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger