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Codex Chantilly: En l’amoureux vergier
Info
Musikrichtung:
Mittelalter vokal
VÖ: 01.01.2011 (Aeon / Note 1 / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. AECD 1099) Gesamtspielzeit: 64:12 |
SINNLICH & ESOTERISCH
Musikalischer Surrealismus im Mittelalter? Oder ist das - mit Verlaub - Musik über's Kiffen? Das Rondeau Fumeux fume par fumee, zu Deutsch etwa „Der Raucher raucht durch den Rauch“, das von einem gewissen Solage im 14. Jahrhundert komponiert wurde, ist für beides ein heißer Kandidat. Auch wenn der Tabak damals noch nicht bekannt war, so kannte man wohl andere stimulierende Mittelchen, die sich rauchen ließen, vielleicht sogar Haschisch oder Opium. Wie auch immer: Dieses vierstimmige Vokalstück klingt selbst wie ein Soundtrack zum Drogenrausch und beschwört mit merkwürdigen Schwebungen veränderte Wahrnehmungen: Die Stimmen scheinen im chromatischen Dunst geradezu zu verschwinden, die Musik schlingert und schillert wie ein Traumgebilde. Wo hier oben und wo unten sind, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Von einigen „leeren“, typisch mittelalterlichen Quint-Intervallen abgesehen, könnte das Stück so auch gut im 20. oder 21. Jahrhundert komponiert worden sein.
Das Ensemble De Caelis präsentiert unter der Leitung und Mitwirkung von Laurence Brisset unter anderem dieses hochmanirierte Kleinod aus dem berühmten Codex Chantilly. Diese Sammlung enthält Kabinettstückchen der (später) so genannten Ars subtilior, einer avantgardistischen französischen Richtung, die sich vor allem im Umkreis des päpstlichen Hofes in Avignon entfaltete. Es ist im Wesentlichen eine weltliche Kunst, auch wenn z. B. in der dreitextigen Motette Alpha vibrans - Coetus venit - Amicum querit u. a. ein religiöser Text erklingt. Doch der in diesem Fall anonyme Komponist hat für dieses Trio einen metrisch derart verschraubten Mechanismus kreiert, dass es jeden liturgischen Rahmen sprengen würde. Dies ist eine Kunst um der Kunst Willen, keine „Gebrauchsmusik“.
Das Album En l’amoureux vergier ist voll von derartigen Trouvaillen, darunter auch solch bekannte Stücke wie Senleches La harpe de mellodie, ein extravangant in Harfenform notierter Virelai. Wie alle Stücke des Codex Chantilly stellt er die heutigen Interpreten vor manches Rätsel, das zu lösen ist: Zunächst muss eine moderne Notation erstellt werden, was angesichts der ausgesprochen ökonomischen mittelalterlichen Mensuralnotation mit einigen Rechenkünsten und noch mehr Notenschreiberei verbunden ist. Und dann muss entschieden werden, wie die Musik ausgeführt wird. Nicht jeder Halbtonschritt ist vorgegeben, da gilt es, die Regeln für den richtigen Einsatz zu beachten. Und welche Instrumente soll man für die untextierten Teile nehmen?
De Caelis ist ein reines Damenensemble und führt die Musik überwiegend vokal aus, was einen sehr geschmeidigen und schwebenden Klangeindruck ergibt. Eine Harfe und ein Organetto kommen nur punktuell zum Einsatz und auf die instrumentale Fassung folgt eine vokale; gegebenenfalls werden dann die untextierten Teile mit Vokalisen „instrumentiert“. Dadurch ist der Klang sehr homogen, was vor allem den chromatischen Wagnissen sehr entgegen kommt. Nicht die Klangfarben der alten Instrumente, sondern vor allem die komponierten harmonischen Farben machen den Reiz dieser Musik aus. Das leicht diffuse Klangbild betont diesen Aspekt noch. Mitunter könnte man sich einen etwas „gespalteneren“ Klang vorstellen, der manche rhythmische Extravaganz mehr herausgekitzelt hätte. Aber ob das lautmalerische Vogelstimmenkonzert von Vaillants Virelai Par maintes foys dann ebenso sinnlich klingen würde wie in diesem Fall?
Georg Henkel
Trackliste
1 | Alpha vibrans - Coetus venit-Amicum querit (Motet) | 2:44 |
2 | Corps feminin par vertu de nature | 3:45 |
3 | En attendant, souffrir m'estuet (Ballade) | 6:02 |
4 | Par maintes foys (Virelai) | 3:32 |
5 | O bonne douce Franse (Rondeau) | 2:04 |
6 | La harpe de mellodie (Virelai) | 4:10 |
7 | Alma polis-Axe poli cum artica (Motet) | 4:03 |
8 | Fumeux fume par fumee (Rondeau) | 6:12 |
9 | Se Zephirus, Phebus et leur lignie-Se Jupiter (Ballade) | 5:09 |
10 | En un peril doutons bien delitable (Ballade) | 4:28 |
11 | He, tres doulz roussignol (Virelai) | 2:25 |
12 | Va t'en, mon cuer, aveuc mes yeux (Rondeau) | 4:34 |
13 | Adieu vous di, tres doulce compaygnie | 3:31 |
14 | A l'arme, A l'arme (Virelai) | 1:50 |
15 | Calextone, qui fut dame d'arouse (Ballade) | 3:47 |
16 | En l'amoureux vergier (Ballade) | 5:56 |
Besetzung
Caroline Tarrit: Mezzosopran
Léna Orye: Alt
Laurence Brisset: Mezzosopran & Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |