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Spiegel - Monumentum - Momente
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Orchester
VÖ: 18.06.2010 (Kairos / Harmonia Mundi / 2 SACD hybrid / DDD / 2001-2007 / Best. Nr. 0013002KAI) Gesamtspielzeit: 132:30 |
LICHTE KLANGMASSIVE
Manchmal liegen Dinge einfach in der Luft, auch in der Kunst. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre begannen mehrere Komponisten unabhängig voneinander, orchestrale Strukturen von derartig hoher Stimmendichte zu komponieren, dass nicht mehr Einzelereignisse, sondern nur noch flächige oder räumliche Klangeindrücke wahrgenommen werden konnten. In diesen auf das ganze Orchester verteilten Superakkorden lagen die Töne mindestens im Halbtonabstand nebeneinander. Darum nannte man sie auch Cluster (Schwarm, Bündel, Traube).
Solche Tontrauben hatte Henry Cowell schon 1912 in einem Klavierstück „The Tides of Manaunaun“ komponiert. Die Entwicklung der Zwölftonmusik und der Seriellen Musik nach 1945 hatte dann zur weitestgehenden Aushöhlung des alten tonalen Bezugsystems geführt. Intervallbeziehungen waren zu einer mehr oder weniger statistischen Angelegenheit geworden.
Darauf reagierte z. B. György Ligeti mit seiner Kompositionen „Atmospheres“ (1961), in denen er identifizierbare Stimmen und Intervalle in einer überkomplexen Mikropolyphonie aufgehen ließ. Man hört irisierende Klangräume und Klangbänder, die nur noch aus wechselnder Dynamik, Farbe und Textur bestehen. Iannis Xenakis, der von Haus aus Architekt war, hat von vornherein mit mathematischen und architektonischen Modellen gearbeitet, um aus Klang musikalische Körper, Räume und Flächen entstehen zu lassen. Das labyrinthische „Metastaseis“ für Streicher (1953-54) wurde ein bezeichnender Wurf in dieser Richtung. Angeregt durch die Geisteswelt Indiens hat etwa zur gleichen Zeit in Italien Giacinto Scelsi Werke komponiert, die um einen einzigen Ton kreisen und diesen klangräumlich auffächern.
Und in Österreich war es Friedrich Cerha, der mit in seinem Zyklus Spiegel die traditionelle Musiksprache hinter sich ließ und statt Themen und Melodien reich differenzierte Klangmassen komponierte. Wobei er nicht nur den technischen Aspekt im Sinn hatte, sondern auch einen poetischen, subjektiven. Den Spiegel-Zyklus kann man trotz aller klanglichen Neuheit (auch!) wie ein abstraktes Echo der Spätromantik eines Bruckners und Mahlers hören. Ein Nachhall oder -rauschen, bei denen die Musik der alten Meister wie aus weiter Ferne oder durch Filter hindurch vernommen wird.
Cerhas siebenteilige Klangraummusik zeichnet sich außerdem durch eine hohe Plastizität und Fasslichkeit aus. Formung und Entwicklung der Klangkomplexe lassen regelrechte Klangskulpturen entstehen. Die Spiegel-Stücke wollen überdies eine Art musikalisches Welttheater sein, in dem sich die Masse Mensch und ihr Verhalten in den musikalischen Massenprozessen spiegelt.
Wenn man sich in diese in allen Grauschattierungen schimmernden, unablässig gleitenden, wogenden, atmenden, aber auch rauchenden, gärenden, wild aufschäumenden und regelrecht kochenden Klangwelten eingehört hat, üben sie eine hypnotische Wirkung aus. Manches tönt nebelzart und diffus durchlichtet, anderes rau und aggressiv, verfinstert. Cerha gelingen dabei immer wieder Klangwirkungen, die mehr an elektronische denn an instrumentale Musik erinnern. Auch wenn man der Musik ihre Entstehungszeit anhört, behauptet sie ihren Rang als originärer Beitrag zur Klangfarben- und Klangraummusik nach wie vor und die im umfangreichen Beiheft abgedruckten Kommentare junger Komponist/innen legen von der Wirkung dieser Musik beredt Zeugnis ab. Diese sehr zahlreichen Würdigungen einfach als PR-Maßnahme zu verbuchen, wird ihnen nicht gerecht. Man kann mit ihnen seine eigenen Wahrnehmungen befragen und bereichern.
Die beiden anderen Werke Cerhas auf dieser Doppel-CD sind jüngeren Datums: Monumentum (1986) und Momente (2005). Sie zeichnen sich durch eine insgesamt expressivere Wirkung aus. Man ist nicht so sehr äußerer Beobachter von Klangbewegungen, sondern darf sich noch unmittelbarer in sie verstrickt fühlen. Monumentum ist eine zusammenhängende Folge von musikalischen Betrachtungen zu Skulpturen von Karl Prantl und diesem zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Diese Musik als „postmodern“ zu bezeichnen, führt in die Irre. Dennoch scheint die Klangwelt der (Spät)Romantik auch hier gegenwärtig, wirkt freilich auch wieder ins Zeitlose gewendet; die mächtige Anfangsgeste von Monumentum hat durchaus eine pathetische Kraft. Daneben aber finden sich ähnliche fremdartige Klänge wie in den Spielgel-Stücken.
Auch die Momente liegen auf dieser Linie. In ihnen fasziniert die genaue Setzung filigraner und irreal-gläserner Klangmuster - gegenüber den früheren Stücken wirkt die Musik noch konzentrierter, vergeistigter. Cerhas Aneignung avantgardistischer Klangmittel erfolgt in diesen Kompositionen sehr individuell und dürfte wegen ihrer jedem Materialfetischismus abholden Orientierung am Fassungsvermögen des Hörers sicherlich auch solche Ohren erreichen, die neuer Musik eher skeptisch gegenüber stehen.
Das Klangbild der Live-Mittschnitte ist sehr detailfreudig, dabei auch in den massivsten Entladungen der Schlagzeug- und Blechbatterien noch weich und geschmeidig. Vor allem die Spiegel-Stücke entwickeln sich als unendlich reiches Spiel von leuchtenden Grauabstufungen.
Georg Henkel
Trackliste
CD 2: 67:17
Besetzung
ORF RSO Wien
Friedrich Cerha, Sylvain Cambreling & Dennis Russell Davis: Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |