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Reviews

Ives, Ch. (Brylewski, D.)

2. Klaviersonate "Concord"


Info

Musikrichtung: Klassische Moderne Klavier

VÖ: 06.07.2018

(DUX / Note 1 / CD / AD 2016 / DDD / Best. Nr. DUX 1313)

Gesamtspielzeit: 48:31

IVES, DER LETZTE ROMANTIKER?!

Charles Ives zweite Klaviersonate Concord, Mass., 1840–60, entstanden 1911/15, ist wahrlich ein Zentralmassiv nicht nur der amerikanischen Klavierliteratur und Dokument einer musikalischen Zeitenwende: Mit Ives beginnt die musikalische Moderne in den USA.

Die vier Teile der Sonate repräsentieren vier bedeutende Persönlichkeiten des amerikanischen Transzendentalismus, einer religiös-spirituellen Strömung der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert. Mit seinen äußert unterschiedlichen Satz-Charakteren, den oft improvisatorisch anmutenden Formulierungen und der Integration fremder musikalischer Materialien eröffnet das Werk den Interpreten eine Fülle von Perspektiven für die Gestaltung.
So, wie Ives hier u . a. patriotische Lieder und Ragtimes, den Beginn von Beethovens 5. oder Motive aus Wagners "Lohengrin" mit seiner eigenen Musik zu einem großen Ganzen zusammenschmilzt, ohne die "diversity" seiner (Er)findungen zu verleugnen, ist auch jeder Interpret gefordert, die musikalische Buntheit in eine Ganzheit zu überführen: Es gilt, dem Hörer den Reichtum und die Fülle an Einfällen so zu vermitteln, dass man sich in diesem Dschungel nicht verliert und trotzdem aus dem Staunen über die pianistische Phantastik nicht herauskommt. Ives hat über die Jahre immer wieder an seiner Sonate geabeitet, sie dabei dichter und auch dissonanter gestaltet - eine Tendenz, die eher gegen eine allzu romantische Sichtweise auf das Werk spricht. Ives Verhältnis zu romantischen Komponisten wie Chopin war gespalten: Einerseits schätzte er dessen Musik, reagierte als puritanisch sozialisierter Yankee aber andererseits allergisch auf die vermeintlichen effeminierten Züge in dessen Musik: "Chopin vermag man sich nur in einem Kleid vorzustellen." Alles zu Feine, Zarte, harmonische war Ives suspekt. Doch finden sich diese Elemente auch in Ives eigener Musik, die in ihrer Vereingung von Tradition und Moderne, von betörender Harmonie und lärmendem Exzess etwas Janusgesichtiges hat.

Der polnische Pianist Daniel Brylewski liest die Concord-Sonate gleichsam von ihrem Ende, dem 4. Satz her, einem Natur- und Stimmungsbild, das dem großen amerikanischen Querdenker und "Alternativen" Thoreau gewidmet ist. Die herbstliche Szene am Walden-Seen, wo Thoreau mehrere Jahre in einer Hütte abseits, aber eben nicht gänzlich von der "Zivilisation" getrennt gelebt hat, integriert auch noch eine ferne Flötenstimme (Thoreaus Instrument). Die delikate, durchsichtige, Musik erinnert bei Brylewski durchaus an Chopin und Debussy - aber das muss hier kein Fehler sein: Der herrlich samtige, warme Klang des Instruments und die kantable, vor allem im Pianobereich dynamisch fein differenzierte Anschlagskultur Brylewskis sorgen hier für eine bewegende Darbietung. Er lauscht in die imaginäre Weite der musikalischen "Landschaft" hinein, spürt der ergreifenden Melancholie der Musik nach, lässt die Klänge atmen und die Harmonik aufblühen: Ives, the last romantic - aber ohne Puderzucker. Das gilt auch für den kurzen "The Alcotts"-Satz: innig und erhaben, aber nicht schwülstig.

Auch in den übrigen Sätzen sorgt Brylewskis Klangsgespür immer wieder für herausragende, schöne Momente. Den ersten Satz, "Emerson", nimmt Brylewski allerdings eher breit und gewichtig, weniger pointiert und temperamentvoll - was nicht heißt, das Brylewski nicht die aberwitzigsten Figurationen souverän bewältigt und ordentlich hinlangen kann; es ist nicht zuletzt eine Frage der pianistischen Tradition, aus der heraus musiziert wird, und Brylewski verleugnet die polnisch-russische Schule nicht, meidet Schärfen und Rauheiten zugunsten abgerundeter Ecken und Kanten: Seine Fortissimo-Attacken sind satt, aber frei von Härten.
Dann der "Hawthorne"-Satz, sozusagen das "Scherzo" der Sonate: Motivstränge werden aus dem dichten Geflecht organisch herausgearbeitet, das Dickicht erscheint kunstvoll durchlichtet (eine Qualität dieser Interpretation). Die mit einer Holzleiste zu realisierdenen Cluster werden als zarte harmonische Schatten der übrigen Musik realisiert - schön und geheimnisvoll klingt auch dies, wie von Debussy erdacht.
Sobald aber Ragtimes in die Musik einbrechen, musiziert Brylewski mit angezogener Handbremse, da dürfte es gerne launiger und frecher, "rougher" sein. Kunstvolle Exzesse bis hin zu Raserei wird man bei diesem Künstler aber nicht finden. Zum Vergleich: Die Einspielungen von Gilbert Kalish (1976, aktuell als preiswerte Lizensausgabe bei arcivmusic.com) oder Philip Mead (Metier, 2002) realisieren die disparaten Momente der Musik, ihre oft komödiantischen Extreme, ihr Spiel mit Gestik und Klangfarben mit härteren Kontrasten und individueller Schärfe, ohne das Große und Ganze aus dem Fokus zu verlieren: Ohne Zweifel die moderneren Lesarten, die den romantischen Avantgardisten Ives in den Vorgergrund stellen.



Georg Henkel

Trackliste

I Emerson 17:00
II Hawthorne 12:40
III The Alcotts 5:41
IV Thoreau 13:10

Besetzung

Daniel Brylewski: Klavier
mit Paulina Ryjak, Viola & Carolin Ralser, Flöte
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