Marais, M. (Savall, J.)
Alcione (1706)
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Info |
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 06.11.2020
(Alia Vox / Harmonia Mundi / 3 SACD hybrid / 2017 / Best. Nr. AVSA9939)
Gesamtspielzeit: 175:59
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MARIN MARAIS' REICHER OPERN-KOSMOS
Mit der Neuinszenierung von Marin Marais 1706 uraufgeführter „Alcione“ eröffnete 2017 die frisch renovierte Opéra Comique die Saison - seit 1771 war das Werk nicht mehr szenisch über die Bühne gegangen. Und Jordi Savall, Grandseigneur der alten Musik und Meistergambist, erfüllte sich als Dirigent von „Les Concert des Nations“ einen langgehegten Traum, von dem nun der Mitschnitt bei seinem Label Alia Vox in der gewohnten luxuriösen Ausstattung erscheint, sechsprachiges, reich illustriertes Booklet inklusive!
Savall nennt Marin Marais einen George Gershwin der französischen Barockoper. So wie Gershwin in seiner Oper „Porgy und Bess“ Spritual, Jazz und Blues mit der „ernsten“ klassischen Musik verschmolzen habe, so habe Marin Marais in der lyrischen Tragödie „Alcione“ den hohen, erhaben Stil der höfischen Repräsentationsmusik mit der Volksmusik seiner Zeit verbunden. Tatsächlich scheinen viele der Chorsätze und Tänze durch populäre Melodien inspiriert – derart eingängig, gleichsam zum Mitsummen klingen diese unverzichtbaren Zutaten der französischen Barockoper hier. Das große Tanzfest der Matrosen im 3. Akt hat es gar zurück in die Volksmusik geschafft: Die mitreißend archaische Weise, die Marais dort variiert, avancierte zu einem bekannten Weihnachtslied.
Doch nicht nur diese Eingängigkeit sorgte dafür, das „Alcione“ über 60 Jahre ein fester (wenngleich immer wieder „modernisierter“) Bestandteil des französischen Opernkanons blieb. Marais, der große Gambist, erweist sich hier anders als sein Lehrer und Vorbild Lully, als Autor einer neuen Empfindsamkeit und Emotionalität, die im 18. Jahrhundert immer wichtiger werden sollte.
Obschon „Alcione“ dem klassischen französischen Opern-Ideal folgt und keine der damals in Mode gekommenen Italianismen bemüht, steht nicht die Haupt- und Staatsaktion im Zentrum, sondern eine dicht und differenziert erzählte Liebesgeschichte: Ceix, strahlender König der Trachinen, liebt die schöne Alcione, die Tochter des Windgottes. Und auch Ceix bester Freund Pelée liebt Alcione, was ihn in arge Gewissensnöte stürzt. Bei Marais und seinem Librettisten Antoine Houdar de la Motte bleibt aber auch ein unglücklich und eifersüchtig Liebender zuallererst ein Liebender, mit dem man sich identifizieren kann. Erst durch das finstere Wirken der intriganten Zauberer Phorbas und Isméne kommt es zur Katastrophe, entfesseln sich die Mächte der Unterwelt und der Elemente …
Im Vordergrund stehen die vielschichtigen Gefühlsäußerungen der Protagonisten; es bleibt viel Raum für sensible Monologe, ergreifende Klagen und Liebesbeteuerungen bis in den (Frei)Tod. Das hat das Publikum schon damals berührt. Und das tut es noch heute.
Das liegt auch an den Interpreten des tragischen Trios: Die junge Lea Desandre verleiht der Alcione mit ihrer mühelos strömenden, differenziert artikulierten Deklamation eine anrührende und ausdrucksvolle Präsenz – ihre gleichsam von innen strahlende Unschuld und intensive Emotionalität hält die Spannung über die rund drei Stunden und fünf Akte hinweg. Als hoher Tenor steht ihr der Ceix von Cyril Auvity zur Seite. Auch wenn im häufig geforderten oberen Register die Töne etwas eng und angestrengt klingen können, ist er doch ein nicht weniger natürlich, dabei leidenschaftlich und ergriffen agierender Partner: ein Idealist, der alles richtig machen möchte und gerade deswegen alles verliert. Ein starker, komplex charakterisierter Nebenbuhler ist hingegen Pelée in der Darbietung des kernig-leuchtenden Baritons Marc Mauillon – gerade im verzweifelten Schmerz einer unerfüllten Liebe scheinen er und die Prinzessin sich oft näher als Alcione und Ceix.
Zur französischen Barockoper gehörten freilich auch noch allerlei Götter oder Wesen aus der Unter- und Zwischenwelt. Lisandro Abadie verleiht Zauberer Phorbas mit seiner satten, dunklen Stimme eine Art erhabene Aggressivität. Die Sopranistin Jeanne Lefort ergänzt ihn als Isméne in der Unterweltbeschwörung des 2. Aktes mit ihrer farbigen, tragfähigen Stimme zum Duo fatal.
Anders als der Dirigent Marc Minkowski, der bei der ersten und bislang einzigen Studioproduktion der Alcione 1990 als „junger Wilder“ des Barock noch am Anfang seiner Karriere stand, krönt Jordi Savall seine Laufbahn mit diesem Opernprojekt. Als Gambist hat er ein feines Gespür für die unendlichen Nuancen und Schattierungen in Marin Marais‘ „gambisch-komplexer“ Partitur und stattet insbesondere den Continuo-Bass mit einer reichen Farbpalette aus.
Mit seinem Ensemble aus oft langvertrauten Instrumentalisten und überwiegend jungen Chor-Sängerinnen und Sängern – aus dem viele Nebenrollen ebenfalls bemerkenswert besetzt sind – lässt Savall eine Art komplementäres Gegenstück zum Minkowskis Version entstehen: Dieser akzentuierte den rhythmisch-herrischen Ton, sozusagen das Lullysche Erbe, das Marais mit seiner „Alcione“ angetreten hat und entschied sich bei der Sänger*innenbesetzung für reife, "erwachsene" Stimmen und eine eher stilisierte Darstellung. Dagegen sucht Savall beim Gambisten Marin Marais das Neue im Vertrauten, fasst die Musik vor allem in den Soli, Dialogen und Ensembles intimer und delikater auf. Selbst die rhythmisch akzentuierten Stellen erscheinen sinnlich und gerundet. Minkowskis Klangwucht differenziert Savall durch Klangsensibiltät, die in jeder Szene die besondere Atmosphäre zu fassen sucht.
Die Darsteller*innen beherrschen die aufführungspraktischen Regeln, ohne sie auszustellen: Authentische Natürlichkeit oder natürliche Authentizität ist das Ziel. Hier agieren verletzliche junge Menschen, nicht so sehr mythologische Figuren. Zwar kommen auch Unterweltliches, Donner, Blitz, Sturm und Magie zu ihrem Recht; es setzt das Schlagzeug kraftvolle Impulse, es tanzt, windet und wogt bei diesem maritimen Werk allenthalben vortrefflich – aber eben weniger martialisch als bei Minkowski. Man höre nur die zurecht berühmte Seesturm-Szene im Vergleich: Minkowski malt hier brausend naturalistisch, Savall belässt etwas von jener „Traumhaftigkeit“, in dieses Bild ja szenisch eingebettet ist. Das ist kein Nachteil, sondern eine Frage der Perspektive und im Ganzen eine echte Repertoire-Bereicherung bei dieser so selten gespielten und noch seltener eingespielten Oper.
Savall hat zudem auch die späteren Fassungen des Werkes berücksichtigt, die Anpassungen und Veränderung des Komponisten bei den Wiederaufnahmen, um so viel Musik wie möglich zu präsentieren. So bekommt man ein umfassendes, reiches Bild dieses schönen Werkes, das eine Wiederauferstehung neben den Meisterwerken Lullys, Charpentiers, Campras, Monteclairs, Destouches und Rameaus unbedingt verdient hat.
Georg Henkel
Trackliste |
SACD 1 Prolog & 1. Akt 60:16
SACD 2 2. & 3. Akt 54:29
SACD 3 4. & 5 Akt 61:14
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Besetzung |
Antonio Abete, Lisandro Abadie, Cyril Auvity, Lea Desandre, Marc Mauillon u. a.
Chor und Orchester von "Le Concert des Nations"
Jordi Savall, Leitung
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