IRRWEGE, PREISWÜRDIG
Ich habe in Budapest einmal im Jux gesagt: Wenn ich sterbe und ihr unbedingt irgend etwas nach mir benennen wollt, nennt es 'György-Ligeti-Irrweg'. So fühle ich mich. (1)
Das sind erstaunlich selbstkritische Wort für einen Künstler, der zu den populärsten zeitgenössischen Komponisten gehört und der soeben zu seinem 80. Geburtstag wieder mit allerlei Ehrungen und Preisen überhäuft wurde: vor drei Monaten erhielt Ligeti den Adorno-Preis , jetzt gerade den schwedischen Popular Music Preis 2004 - zusammen mit B. B. King!
Ligeti (* 1923) gehört zusammen mit Pierre Boulez (* 1925) und Karlheinz Stockhausen (* 1928) u. a. zur Avantgarde-Bewegung der 50er und 60er Jahre. Von der Sektiererei und dem Akademismus dieser "Gemeinschaft" hat er sich distanziert, geblieben ist die unermüdliche Suche nach einer neuen Musiksprache. Und genau hierbei, so der Komponist sinngemäß, sei er immer nur in Sackgassen geraten: Jedes neue Werk mit einer neuen Idee sei zugleich das letzte in eine bestimmte Richtung geblieben, weil es weder weiterführbar noch wiederholbar sei.
Unüberhörbar ist freilich, daß es in Ligetis Musik trotz aller Verwandlungen und Entwicklungen zumindest so etwas wie eine individuelles 'Vokabular' gibt, unverkennbare stilistische Eigenheiten wie die Vorliebe für dichte, netzartige Klanggewebe und -flächen, Polymetrik und Polyrhythmik oder die Erkundung nicht-temperierter Stimmungen.
Anregungen gewinnt Ligeti aus der Musik der Vergangenheit und Gegenwart: der des Mittelalters, der klassischen Meister, aber auch Folklore und Jazz haben ihn Wege zu neuen, 'unerhörten' Klängen gewiesen. Kaum weniger aufgeschlossen zeigt er sich für die Malerei, die Mathematik, Naturwissenschaften, Computertechnologie und politische Fragen: Mich interessiert alles (2). Aus unterschiedlichsten Inspirationsquellen, selbstentwickelten Materialien und kompositorischen Verfahren formt der Komponist die Erscheinungen, Bewegungen, Gesten und Klangcharaktere seiner nicht-puristischen Musik, die von Assoziationen und Allusionen geradzu "verschmutzt" sei. So ist auch seine Musik häufig zwischen Klang und Geräusch angesiedelt. Ligeti spricht von Sonoritäten.
Dass der Komponist Synäshtetiker ist, hört man seiner Musik allenthalben an: Das unwillkürliche Umsetzen optischer und taktiler Empfindungen in akustische kommt bei mir sehr häufig vor. Zu Farbe, Form und Konsitenz assoziiere ich fast immer Klänge, wie auch umgekehrt zu jeder akustischen Sensation Form, Farbe und materielle Beschaffenheit. Sogar abstrakte Begriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vergänge erscheinen mir versinnlicht und haben ihren Platz in einem imaginären Raum. (2).
GEBURTSTAGS-KONZERT IN KÖLN
Aus Anlass seines runden Geburtstags gab es eine ganze Reihe von Veranstaltungen, in denen das Werk des Komponisten aus den letzten 40 Jahren Revue passierte. Die Stadt Köln widmete Ligeti vom 24. bis 26. Oktober gleich ein ganzes Wochende mit Konzerten. Dabei wurden nicht nur eigene Kompositionen, sondern auch Musik jener Komponisten oder Kulturen, denen Ligeti wichtige Anstöße verdankte, ins Programm aufgenommen. Z. B. erklangen am ersten Konzertabend zu Ligetis Klavieretüden auch entsprechende Stücke von Debussy, Rachmaninov, Bartok oder Chopin - und damit Zeugen jener Tradition, in der Ligeti seine eigenen Werke sieht.
Das sicherlich faszinierendste Konzert fand dann wohl am Samstagabend in der Kölner Philharmonie statt. Mit den Ramifications für 12 Solostreicher (1968/69) stand zunächst Musik mit der für den 'alten' Ligeti typischen Mikropolyphonie auf dem Programm. Im Konzert war dann faszinierend nachzuhören, wie sich der Komponist kaum ein Jahr später in seinem Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten zunehmend von den dicht verwobenen Klangflächen gelöst hat. An die Stelle der flirrenden Flächen und imaginären Räume sind durchhörbarere, polyphonere Strukturen und markantere Klangestestalten getreten. Im skurrilen 4. Satz mit der Bezeichnung In präziser und mechanischer Bewegung betrat gleichsam ein komplizierter Maschinen-Organismus das Podium, um im irrwitzigen Presto des Finalsatzes regelrecht zu verdampfen. Ligetis Vorliebe für mechanische Musikinstrumente hat sich hier ebenso niedergeschlagen wie seine Fasznination für rhythmische Netz- und Gitterstrukturen. Und nicht zuletzt sein Humor, der das Absurde und Groteske schätzt.
Was den musikalischen Humor angeht, bedeuteten drei Arien aus seiner Oper Le Grand Macabre, ausdrücklich als Anti-Anti-Oper bezeichnet, einen Höhepunkt des Abends. Es handelt sich um eine Bearbeitung für Koloratursopran und Kammerorchester von Elgar Howarth. Mit der schauspielerisch umwerfenden, in punkto stimmlicher Virtuosität schlechthin überragenden jungen Sopranistin Barbara Hannigan wurde sich die im wahrsten Sinne durchgeknallte Musik zum großen Hörvergnügen. Hannigan trat im schwarzen Lederoutfit mit Cleopatra-Perücke auf und agierte irgendwo zwischen Domina und Gestapo-Politesse. In den vorzüglichen Asko- und Schönberg-Ensembles unter der Leitung von Reinbert de Leeuw hatte sie nicht weniger kongeniale Begleiter, die sich überdies nicht nur auf ihren Instrumenten, sondern durch allerlei vokale Effekte hervortaten: Lachen, Zischen, Wispern, Zwischenrufe: "Was ist denn schon wieder" (de Leeuw) - ja, was denn? "Geheimmeldung! Ziffer: Blaue Ente! Roter Komet! Planet! Magnet!" (Hannigan). Anti-Anti-Oper meets Nonsense. Die ebenso gelungene wie witzige Performance einer ebensolchen Musik.
Der zweite Teil des Abends war zunächst einem der komplexesten Kompositionen Ligetis gewidmet: dem Klavierkonzert (1985/88). Das fünfsätzige Werk hat eine lange Entstehungsgeschichte und ist aus einer schöpferischen Pause hervorgegangen, in der der Komponist seine ästhetischen Positionen einer kritischen Revision unterzog. Er suchte einen Weg zwischen den Extremen einer versteinerten Avantgarde und der Beliebigkeit des postmodernen Ästhetizismus. Was dann mit dem Klavierkonzert herauskam, nennt Ligeti sein ästhetisches Credo.
Es zeichnet sich durch eine kontrapunktische, polymetrische und polyrhythmische Musik aus, ist weder tonal noch atonal, dabei hochvirtuos (für alle Beteiligten), hochgradig artifiziell und trotzdem affektgeladen. Statt der betörend "schönen Dissonanzen" von Ligetis Klangflächenmusik gibt es hier nun wieder ganz klare Gestalten und Linien zu hören. Die Dichte, vor allem die "Super-Rhythmie", führt den Hörer gewiss an die Grenzen dessen, was er aufnehmen kann. Man gehe mit verbundenen Augen über einen Rummelplatz und lausche auf die ineineanderwirbelnden Klänge und Musiken der Buden und Karussels, dann hat man es in etwa - Ligeti selbst erkannte später die Gefahr einer Überkomplexität.
Persönlich kenne ich das Werk in zwei hervorragenden Aufnahmen mit dem großartigen Pianisten Pierre-Laurent Aimard, der auch in Köln spielte. Der hochauflösenden CD und hingebungsvoller Interpreten sei Dank kann man sich in die Klanglabyrinthe dieses unglaublichen Werks tatsächlich hereinhören - und es dann sogar aufregend schön finden! Ob das dem unvorbereiteten Hörer jedoch am Konzertabend trotz der hilfreichen Einführung Aimards ebenso gelungen ist?
Am Ende gab es großen Applaus - ganz besonders für die Schlagzeugerin, die ihr umfangreiches Instrumentarium mit geradezu akrobatischer Könnerschaft traktierte.
Was dann folgte, war ein musikalischer Weltensprung: nach Zentralafrika, in den tropischen Regenwald, zu den AKA-Pygmäen. Deren Chor sang nämlich traditionelle polyphone und polyrhythmische Musik. Eine Aufnahme mit diesen Gesängen hatte Ligeti Anfang 80er Jahre tief beeindruckt. Er erkannte sofort die Nähe zwischen seinen eigenen musikalischen Vorstellungen und dieser komplexen funktionalen Musik, die von den AKAs eigentlich nicht konzertant dargeboten, sondern als alltägliche Gebrauchsmusik zur Jagd, zu Feierlichkeiten oder religiösen Ritualen gesungen wird. Trotz der Unterschiede gab es auch - gleichsam unterirdisch mitschwingend - unüberhörbare Gemeinsamkeiten zwischen Ligeti und der subsaharischen Musik.
Unter der ebenso charmanten wie kundigen Moderation des Musikenthnologen Simha Arom wurde das zunehmend begeisterte Publikum Zeuge, wie sich die einzelnen Elemente dieser Musik zu immer komplizierteren Strukturen verbanden. Zunächst mit jodelnden Gesängen, dann Schlagzeugeinsatz und schließlich Tanz eroberten sich die 12 Sänger/innen die Bühne der Philarmonie. "Weitermachen!" forderte das Publikum. "Wenn ich jetzt nicht unterbreche, dann haben wir unter Umständen eine Session bis 5.00 Uhr morgens ...!" - "Na und!?"
Es dauerte dann zwar nur bis 23.00 Uhr. Aber es hat sich in jeder Beziehung gelohnt.
HÖR- UND LESETIPS
Für alle, die neugierig geworden sind: Die Werke des Konzerts liegen in mehreren Aufnahmen vor. Empfehlenswert sind die Aufnahmen der bei Warner / Teldec erschienenen Edition The Ligeti Project (Vol. 1: u.a. Kammerkonzert und Klavierkonzert, Vol. 4 u. a. Ramifications, beide Male in der Kölner Besetzung) und die Aufnahme des Klavierkonzerts unter Pierre Boulez, ebenfalls mit P. L. Aimard (Deutsche Grammophon). Die Teldec-Aufnahme ist um jenen Tick entspannter und souveräner, die es braucht, um in die Musik hereinzukommen ...
Und weil man am besten hört, was man auch weiß, hier noch zwei Buchtips, denen auch die obigen Zitate entnommen sind:
(1) Eckhard Roelcke, "Träumen sie in Farbe?" György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Zsolnay-Verlag, Wien 2003 (hier geht es weniger um die Musik als um Ligetis Biographie)
(2) Constantin Floro, György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne (Komponisten unserer Zeit 26), Österreichische Musikzeit-Edition, Wien 1996, Verlag Lafite, Tel. +43-1 / 512 6869, ISBN 3-85151-038-0 (eine der besten Einführungen in Ligetis Werk, muss vom Buchändler direkt beim Verlag besorgt werden).
Georg Henkel
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