Kurtag, G. (Prohaska, A. – Faust, I.)
Kafka-Fragmente
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Kammermusik
VÖ: 19.08.2022
(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD / DDD / 2021 / Best. Nr. HMM)
Gesamtspielzeit: 58:06
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WAHRHAFTIG!
In der extremen Verknappung und Konzentration des musikalischen Materials ist György Kurtag ein paradoxer Maxi-Minimalist, seine oft kaum eine Minute währenden Kompositionen sind eine tour de force für Ausführende wie Zuhörende.
Das gilt vor allem für seine Zyklen für Stimme und Instrumente. Ein Höhepunkt sind die „Kafka-Fragmente“, die zwischen 1985 und 1987 entstanden. Kurtag hat die 40 Texte aus Kafkas Tagebüchern, Briefen und anderen nachgelassenen Schriften ausgewählt und für Sopranstimme und Violine vertont. Oft ist das nur ein Satz, eine Phrase, manchmal etwas mehr. Das kürzeste Stück währt kaum 20 Sekunden, das längste sieben Minuten, die meisten benötigen rund eine Minute, und doch ist stets alles gesagt.
Diese Musik stürzt die Zuhörenden immer wieder in existentielle Wechselbäder. Kurtags Fähigkeit, die Extreme auf kleinstem Raum zusammenzuschmelzen, sorgt dafür, dass selbst ein fragiles, scheinbar idyllisches Klanggespinnst wie „Träumend hing die Blume“ ein Balanceakt über dem eisigen Abgrund ist, bei dem die Ausführung buchstäblich an einer Saite bzw. einem Ton zu hängen scheint. Solche Momente sind vielleicht sogar schwerer auszuhalten als die sie umgebenden expressiven Entladungen, wie die messerscharfen, schneidenden Klänge am Schluss des vorausgehenden „Stolz“ und die gellenden Verneinungs-Schreie im folgenden „Nichts dergleichen“.
Neben solchem Wahnsinn blitzt aber ebenso häufig ein manchmal fahler, dann wieder greller (Galgen)Humor auf, wenn z. B. ein Beinbruch als das „schönste Erlebnis meines Lebens“ besungen und humpelnd vertanzt wird: In Kurtags Kafka-Extrakten gibt es Resonanzen für wenig Glanz und viel Elend des Menschsein.
Diese Neueinspielung von Sopran Anna Prohaska und Geigerin Isabelle Faust inszeniert die Kakfa-Fragmente vergleichsweise „opernhaft“, als Mini-Szenen auf einer imaginären Bühne – von daher passen die (Cover)Illustrationen, auf denen die Künstlerinnen als zwillingshafte Wiedergängerinnen des Schriftstellers erscheinen.
Im Ganzen verhält sich diese Interpretation zu der eher zeichnerisch und trockener aufgefassten Referenzeinspielung von Julia Banse und Andras Keller (ECM) komplementär, nähert sich Kurtags Vision sozusagen von der anderen, „theatralischen“ Seite. Nicht nur rücken die Künstlerinnen näher an das Mikrofon bzw. die Hörenden, auch der Klangeindruck ist bei aller Kantigkeit körperlich, haptisch, zupackend. Beide Interpretinnen entäußern sich im Gang an die dynamischen und klangfarblichen Grenzen, bleiben dabei aber stets musikalisch: Wahrhaftige Kunst!
Georg Henkel
Besetzung |
Anna Prohaska, Sopran
Isabelle Faust, Violine
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