Britten, B. (Gardner, E.)

Peter Grimes


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Oper

VÖ: 04.09.2020

Chandos / Note 1 / 2 SACD / 20190 / Best. Nr. CHSA 5250(2)



ELEMENTARGEWALTIG

Wellengang und Brandungsrauschen, die aufschäumende Gischt, Lichtreflexe auf dem Wasser, Salz- und Tanggeruch, das Röhren des Sturms, Möwenschreie und Nebelstille – was Benjamin Britten in den instrumentalen „Interludes“ seiner Oper „Peter Grimes“ an Naturstimmungen inszeniert, gehört neben Claude Debussys Tonpoem „La Mer“ zu den großen maritimen Orchestergemälden. Und insbesondere hier gelingt dem Dirigenten Edward Gardner am Pult der „Bergen Philharmonic“ bei dieser Neueinspielung von Brittens Oper Bemerkenswertes: Man glaubt, die wogenden, wilden Wassermassen der Nordsee buchstäblich auf der Haut zu spüren. Man riecht das Meer nicht nur, man schmeckt es auf der Zunge. Tief taucht man ein in die irisierenden Farbspiele von Licht und Wasser.
Gardner betont die dunklen-schroffen Texturen der Musik; die verdichteten und zugleich ausgesprochen agil realisierten Klangmassen der Sturmmusik treffen den Hörer mit physischer Wucht. Das Elementargewaltige ist in dieser Aufnahme von einer wilden, erschreckenden Schönheit. Noch im rhythmisch federnden Glockengeläut des „Sonntagspräludium“ vor dem 2. Akt entlädt sich dionysische Kraft. Wenn dann noch der nicht minder energetische Chor der „Bergen Philharmonic“ dazu kommt, dann entstehen in den vielstimmigen Ensembleszenen mit ihren raschen Schnitten und Wechseln z. B. im Wirtshaus (1. Akt) oder bei der Schilderung des aufgeheizten Mobs (2. und 3. Akt) überwältigende Spannungsmomente.
Doch neben solchen Kraftentladungen gibt es immer wieder auch Momente von großer Ruhe – hier profitiert die Partitur von Gardners feinjustierter Dynamik, die bis an die Grenze zur Unhörbarkeit gehen kann und Momente von berührender Innerlichkeit, ja Frieden in all der menschlichen Tragik entstehen lässt, von der die Musik Brittens erzählt.

Natürlich lebt „Peter Grimes“ aber nicht weniger von den vielen großen Solopartien. Mit dem Tenor Stuart Skelton hat man die Titelrolle eher mit einem stimmlichen Schwergewicht besetzt, vergleichbar Jon Vickers, der die ambivalente Hauptfigur 1978 unter Colin Davis unvergleichlich differenziert zwischen gequältem romantischem Helden und besessenen Gewaltmenschen angelegt hat. Peter Pears, dem Britten die Partie einst auf den Leib komponiert hatte, war dagegen eher ein lyrischer Tenor und verzichtete auf „Pathologisierungen“ der Figur.

Doch die Spielräume der anspruchsvollen Partie lassen die Entscheidung gerechtfertigt erscheinen. Skelton legt seinen Grimes zunächst eher verhalten und „vernünftig“ an, erst nach und nach verliert dieser Mann die Kontrolle über sich, entsprechend entfesselt sich als Skelton vokal immer mehr. Im direkten Vergleich mit Vickers wirkt Skelton freilich zurückhaltender was die Ausschöpfung der Extreme angeht. Vickers riskiert durchaus Verisimo-Manieren, die freilich immer organisch in die vokale Performance eingebunden und psychologisch motiviert bleiben. Als Hörer ist man gleichermaßen berührt und schockiert über die seelischen Abgründe. Vickers standen in der Höhe zwar mehr Reserven zur Verfügung; Skelton freilich gelingt es, aus seinen Grenzen eine Tugend zu machen, selbst fahle Töne machen bei ihm immer noch Sinn als Ausdruck einer unerfüllbaren Sehnsucht. Skeltons Grimes ist im Ganzen nicht per se „gestört“ oder „gefährlich“, sondern wird nach und nach irre an den Verhältnissen und einer Verkettung von tragischen Ereignissen.
Erin Wall ist eine frischere und jüngere Ellen Orford als einst die etwas altjüngferlich spröde agierende Heather Harper in der Davis-Einspielung. Wall legt ihren Charakter mir großer Natürlichkeit an: eine offenherzige, bodenständige Frau. Während bei Davis Grimes und Orford von Beginn an eigentlich keine Chance haben, mag man in Gardners Neueinspielung durchaus für einen Moment glauben, dass die ungleichen Charaktere in einem Happy End ihren kleinbürgerlichen Frieden finden könnten.

Als einziger aus der verschlossenen Dorfgemeinschaft ist Captain Balstrode solidarisch mit Grimes – doch kann auch er ihn am Ende nicht retten. In der gesprochenen Schlussszene fordert er ihn auf, mit dem Boot hinauszufahren und sich damit zu versenken. Das realisiert der Bariton Jonathan Summers unter Davis harsch und beklemmend, der Aufschrei von Orford (Harper) ist von echtem Entsetzen erfüllt. Dagegen wirkt Roderick Williams, der in der Neueispielung den Balstrode darstellt, etwas unverbindlich, geradezu höflich. Stärker hingegen ist er bei der gesanglichen Darstellung seiner Rolle, wo er die Ambivalenzen im Verhältnis zu Grimes auskostet.

Daneben geben eine ganz Reihe weiterer starker Darsteller*innen den verschiedenen Dorfcharakteren ein glaubwürdiges, authentisches Gesicht, durchaus im Sinne des Librettos und der Musik mit einigen schrulligen und komischen Zügen, aber niemals karikierend: Die launig-patente Tante von Susan Bickley, die etwas hysterische, opiumsüchtige Mrs. Sedley von Catherine Wyn Rogers oder der noble Gemeinderektor von James Gilchrist und zahlreiche weitere Sänger*innen schaffen zusammen mit den Interpreten der Hauptrollen unter Gardners Leitung eine Interpertation von großer atmosphärischer Dichte und dramatischer Geschlossenheit, die sich in die gar nicht so kleine Riege gelungener Aufführungen dieses Klassikers einreiht.



Georg Henkel



Besetzung

Stuart Skelton, Samuel Winter, Roderick Williams, Erin Wall, Susan Bickley u. a.

Bergen Philharmonic Choir
Edvard Grieg Kor
Royal Northern College of Music Chorus
Choir of Collegium Musicum
Bergen Philharmonic Orchestra
Edward Gardner



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