In abstrusesten Taktarten zum Kollaps: The Hirsch Effekt live in Leipzig
Kollaps hatten The Hirsch Effekt ihr 2020 erschienenes fünftes Album genannt und damit ungewollt den Zustand weiter Teile der Veranstaltungsbranche im Verlaufe besagten Jahres beschrieben – ungewollt, weil es sich zwar um ein Konzeptalbum handelt, aber nicht über Covid-19, sondern über einen anderen drohenden Kollaps, nämlich den des stabilen Erdklimas, und die Versuche, sich mit diesem auseinanderzusetzen, sich gegen ihn zu stemmen oder ihm zumindest zu allgemeiner Aufmerksamkeit zu verhelfen, wie dies der „Fridays For Future“-Bewegung eindrucksvoll gelungen ist. Corona-bedingt konnten die geplanten Touraktivitäten zum Album natürlich auch nicht stattfinden, aber jetzt im Herbst sind unter bestimmten Rahmenbedingungen zumindest wieder Einzelkonzerte möglich, so wie dieses an einem angenehm temperierten Oktoberabend auf der Parkbühne im Leipziger Clara-Zetkin-Park. Auch hier gilt es freilich Regularien einzuhalten: Auf den Rängen stehen Reihen aus jeweils zu vieren gruppierten Stühlen, und beim Verlassen des Platzes etwa zum Bierholen gilt Maskenpflicht. Metal live im Sitzen zu hören ist für den einen oder anderen Anwesenden natürlich reichlich ungewohnt, aber man hält sich an die Auflagen, und einige Kreative schaffen es tatsächlich, im Sitzen zu bangen oder sich im besten Sinne eines Moshpits freundschaftlich anzurempeln, um ihrem Bewegungsdrang zumindest ansatzweise Ausdruck zu verleihen. Nun sind The Hirsch Effekt sowieso nicht die klassische Band, zu der man einen Moshpit anzetteln würde, und zum timingsicheren Mitbangen muß man die Songs schon sehr genau kennen, um keinen der vielen Rhythmuswechsel zu verpassen, bzw. rhythmussischer genug sein, um auch abstruseste Taktarten mitbangen zu können. Zwar ist das Material des neuen Albums ein wenig zugänglicher ausgefallen als so mancher der Vorgänger, aber solcherart Terminologie muß man natürlich immer in Relation zum Grundstil des Trios sehen, der an Eklektizismus kaum zu überbieten sein dürfte, wobei es die Norddeutschen allerdings schaffen, das Ganze trotzdem irgendwie zu nachvollziehbaren Songs zusammenzufügen und nicht in die Falle zahlloser Mathcorebands zu tappen, bei denen die Vielfalt und Abwechslung zur Austauschbarkeit führen. Natürlich erfordern die Songs des Trios aber intensives Studium, um zum vollen Verständnis zu gelangen. Schon „Xenophotopia“ an zweiter Setposition verkündet textlich „Wir müssen nur die Zeit zurückdrehen“, und trotz aller Vorwärtsgerichtetheit tun The Hirsch Effekt das in ihrer Musik auch tatsächlich, wobei speziell auffällt, dass sie sich bisweilen so anhören, als würde man eine Extrem-Metal- und eine Rush-Platte gleichzeitig laufen lassen. Dazu kommen Elemente, die der leipzigsozialisierte Metaller automatisch mit dem Bandnamen Disillusion in Verbindung bringt, Jazzeinflüsse, Kammermusik und gelegentlich auch mal ein klassisches Metalgitarrenheldensolo – und das alles wie erwähnt nicht selten in einem Song vereint. Die Musiker das dann allerdings auch noch kongenial auf der Bühne umsetzen zu sehen erhöht den Reiz nochmal ungemein: Klar, diverse Samples kommen vom Band (ein Akkordeon etwa schleppt man nicht erst mit auf Tour), aber das Gros der Vielfalt wird live erzeugt, was auch auf die Vocals zutrifft: Sowohl Gitarrist Nils als auch Bassist Ilja beherrschen mühelos das ganze Spektrum vom sanften Crooning bis hin zu übelstem Gebrüll, und bisweilen gönnen sie sich dann auch den Spaß, inmitten wilden Gebretters einen traditionellen Melodic-Rock-Refrain (oder einen mit alternativem Anstrich bzw. mit klassischer Screamo-Ausprägung) hohen Eingängigkeitsfaktors einzustreuen und das natürlich auch mit entsprechenden „Chören“ zu garnieren. „Jayus“ hat so einen Refrain und fällt zudem mit seinen Baß-Tappings im Solo auf, die man freilich gern noch deutlicher gehört hätte: Schlagzeug und das Gros der Vocals sind klar und deutlich zu hören, die Gitarren aber nicht durchgängig (gerade die Alex-Lifeson-Gedächtnis-Passagen gehen bisweilen in der Schlagzeugarbeit oder im Grundgeräusch unter, obwohl der Sound allgemein nicht überlaut ist), und die Bindegliedfunktion des Basses, die auch bei einer Band wie The Hirsch Effekt durchaus vorhanden ist, kann auch nicht durchgängig hörbar gemacht werden, wobei die Einbindung dieses Instruments ins Gesamtklangbild mit der Zeit zumindest etwas besser wird. Dass das Material von Kollaps einen nicht geringen Raum im Set einnehmen würde, konnte man sich ja bereits denken, aber die gesamten zehn Songs zu bringen und diese vielleicht sogar am Stück durchzuspielen traut sich die Band trotz Konzeptes nicht, sondern beschränkt sich auf fünf der neuen Nummern. Trotzdem machen natürlich Songs wie „Kris“, der Opener der neuen Platte, jede Menge Hörspaß – selbiger etwa läßt auf ein ostasiatisch anmutendes Schlagzeugintro einen klassischen mitklatschkompatiblen Part (samt entsprechender Aufforderung) folgen, bevor es ordentlich zur Sache geht. Der ambientartige Mittelteil wiederum bekommt einen ungewöhnlichen Zusatzeffekt verpaßt: Gerade in ihm frischt der Wind auf und läßt Eicheln und andere Baumfrüchte auf die Dächer der Bühnenrotunde regnen, was einen reizenden zusätzlichen perkussiven Effekt ergibt. So spielt sich das Hannoveraner Trio durch einen hochinteressanten Set, ergänzt übrigens durch eine fein abgestimmte, nicht selten direkt einzelne Drumschläge untermalende Lichtshow – was bei anderen Bands nicht weiter schwierig umzusetzen ist, verlangt bei The Hirsch Effekt genau solche Präzisionsarbeit wie das Spielen der Instrumente auf der Bühne. Dass die drei Musiker dabei aber auch noch so oft wie möglich in Bewegung geraten und die beiden Frontleute kreuz und quer über die Bühne sprinten, wenn sie nicht gerade am Mikrofon im Einsatz sind oder zu Zeitpunkt X vor Effektgerät Y sein müssen, läßt einen den virtuellen Hut noch etwas tiefer ziehen – als wahrer Zirkuskünstler aber entpuppt sich Drummer Moritz, der es fertigbringt, inmitten wildester Rhythmusfiguren gelegentlich aufzustehen oder gar aufzuspringen, so dass einem nur noch die Kinnlade nach unten klappt. Das hat sie auch aus rein musikalischen Gründen wie beschrieben schon öfter getan, und man staunt über die Unbekümmertheit der Musiker, die kein Problem damit haben, mit dem Kollaps-Titeltrack plötzlich eine geradlinige Power-Metal-Nummer mit langem Doomintro und nur wenigen ungewöhnlichen Rhythmen im Refrain auszupacken, bevor sie mit „Lysios“ wieder wild durch den Gemüsegarten springen und hier gar ein längeres Vokalsample einbauen, in dem sie im Stile eines Werbespots die Alkoholindustrie durch den Kakao ziehen. Generell lassen die Hannoveraner überwiegend die Musik für sich sprechen (man versteht auch einiges von den deutschen Texten), Ansagen gibt es nur vor „Kris“ und vor den beiden Zugaben, wo sich allerdings offenbart, dass es sich um durchaus humorvolle Plaudertaschen handelt, die auch ganz anders könnten, wenn sie denn wollten. Zwei Zugaben werden uns noch kredenzt, das lange sehr atmosphärische und dann in „Alternative“ umschlagende „Hiberno“ sowie das nochmals lange mitklatschkompatible und erst allmählich in die gewohnte Komplexität übergehende „Mara“, das zu guter Letzt noch ein Cembalo-Sample auffährt – ein Instrument, das man während der bisherigen knapp zwei Stunden noch gar nicht gehört hatte. Das Auditorium ist trotz überschaubarer Kopfzahl (die Zahl der Plätze ist schon nicht eben reichlich, aber von denen ist auch nur etwas über die Hälfte besetzt, obwohl The Hirsch Effekt nicht zum ersten Mal in Leipzig gastieren und sich alle Welt permanent über den Mangel an Livekonzerten beklagt) begeistert, und so mancher begibt sich schnurstracks zum Merchandisestand, um ein physisches Andenken an einen fordernden, aber lohnenden Konzertabend zu erwerben. PS: Dass während des Schreibens dieses Reviews The Scattering Of Ashes von Into Eternity im Player lag, war purer Zufall – aber wer die eine Band mag, könnte trotz mancherlei Unterschiede auch die andere schätzen. Roland Ludwig |
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