The Art of Rock - ein Buch wie ein Ausstellungskatalog
Für zu rezensierende Bücher hat Norbert zwei klar definierte Plätze. Da ist zum einen sein Nachttisch, auf dem immer ein Buch liegt, das ihn auf dem Weg von der Geschäftigkeit des Tages zur Ruhe der Nacht begleitet. Und das darf gerne eine Musikerbiographie oder ähnliches sein. Zum anderen gibt es da noch die Fahrrad-Packtasche. Norbert ist begeisterter Fahrradfahrer und für Pausen – vorzugsweise an der Havel, im Spandauer Forst oder im Schlosspark Charlottenburg – befindet sich immer ein Buch an Bord. The Art of Rock verweigerte sich einer derartigen Behandlung. Von der äußeren Form ähnelt The Art of Rock einem Ausstellungskatalog. Nur dass es die dazugehörige Ausstellung nie gegeben hat. Gewicht und Größe des Bandes machten die oben beschriebenen Vorgehen zur Illusion. Der Wälzer nährte eher meinen langen Traum von einem Lesepult, der allerdings in unserer kleinen Doppelhaushälfte kaum realisierbar ist. So lag The Art of Rock einige Zeit auf der Fensterbank und wurde Seite für Seite begutachtet. Über 1500 farbige Abbildungen füllen den Großteil der gut 500 Seiten des Buches. Dazwischen gibt es ausführliche Einleitungen, schwarz-weiß bebildert, die aber vom Umfang her nur einen Bruchteil des Wälzers ausmachen. Ohne die Qualität des Buches schmälern zu wollen, muss man doch anmerken, dass der Titel The Art of Rock dem Mund etwas voll nimmt, denn sowohl zeitlich, wie stilistisch, geographisch wie von den ausgewählten Exponaten her, zeichnet sich The Art of Rock durch ziemlich deutliche Konzentrationen aus. Hinsichtlich der Art der ausgewählten Exponate gibt der Untertitel Posters from Presley to Punk schon einen deutlichen Hinweis. Das, was man im ersten Moment mit Rock-Art verbinden dürfte, die Platten-Cover, spielen bei Paul D. Grushkin praktisch keine Rolle. Ihm geht es in erster Linie um Poster, und zwar um die, mit denen ganz konkret Werbung für Konzerte, Festivals, Partys und ähnliches geworben wurde. Dazu kommen Flyer, Handzettel, Tickets und Backstage-Pässe. Dementsprechend stammt so gut wie keiner der O-Töne, die einen Großteil der erläuternden ausmachen, von Musikern. Grushkin zitiert Promoter, Konzertveranstalter, Sammler und vor allem Grafiker und andere, die an der Erstellung der Plakate beteiligt waren. (Das führt zumindest bei meinen Englisch-Kenntnissen gelegentlich zu Black-Outs, wenn es stark in die Details von Druck-, Mal- oder Kopier-Techniken geht.) Ein wichtiger Schwerpunkt ist die oft akribisch genaue Beschreibung der Entwicklung der Sammler-Szene. Spannend! So was habe ich bislang noch nicht gelesen. Zeitlich gibt es Posters from Presley to Punk. Auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Im Grunde hat das Buch zwei Konzentrationspunkte – die psychedelische Flower/Power- und Hippie-Zeit, sowie die frühen Jahre des Punk. Die grafischen Schwerpunkte der Blues- und Rock’n’Roll-Jahre ist im Blick auf das Gesamtwerk eher so etwas wie eine ausführliche Vorgeschichte von 50 Seiten. Mit anderen Worten die ganzen wichtigen Grafik-Designer der Progressive-Ära (Roger Dean, Hipgnosis u.ä.) spielen überhaupt keine Rolle. Das hängt auch mit der geographischen Konzentration zusammen. Die psychedelischen Jahre werden in zwei (von fünf) Kapiteln abgehandelt. The psychedelic Years in San Francisco: 1965-1971 umfasst 176 Seiten; The psychedelic Years in Southern California and the Rest of the World: 1965-1971 weitere 72 Seiten. Für “The World” außerhalb der USA stehen dabei für Kanada und Europa jeweils exakt 2(!) Seiten zur Verfügung. Aber auch im Blick auf die USA ist der Radius beschränkt. New York wird immer wieder mit der Anmerkung erwähnt, dass es hier kaum eine relevante Poster Szene gegeben hat. So sind es letztlich nur einige wenige Orte außerhalb Kaliforniens, die etwas ausführlicher erwähnt werden – Detroit, Seattle, Austin. Der Schwerpunkt ist eindeutig San Francisco. Immer wieder genannte Band sind die Charlatans, Big Bother and the holding Company, Moby Grape, Jefferson Airplane, Country Joe and the Fish und vor allen anderen Grateful Dead. Auch in dem Punk- und New Wave Kapitel - überschrieben „The new Music: 1976-1987“ - liegt der Fokus auf San Francisco und Kalifornien, so dass auch die englische oder die New Yorker Punk-Szene hauptsächlich in verweisenden Nebensätzen auftaucht. Vor dem Punk-, und nach dem Blues- und Rock’n’Roll und den Psychedelic-Kapiteln befasst sich ein fünftes Kapitel mit „The Mainstream: 1969-1978“. Hier sind Rest-Amerika, Europa und Ägypten(! – ein Grateful Dead-Konzert). Auch hier taucht einiges von Grateful Dead & Co auf. Aber der Band-Kanon ist immerhin durch das eine oder andere Springsteen-, Zappa-, Tina Turner-, Journey-, ZZ Top- oder Stones-Poster erweitert. Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Selbstkategorisierung „A spectacular visual and oral History“, die auf der Titelseite des Prachtbandes prangt, ist ohne jedes Wenn und Aber zuzustimmen. Man muss nur wissen, dass hier keine umfassende, stilistisch unbegrenzte Darstellung der Kunst zur Rockmusik im Allgemeinen vorliegt, sondern eine deutlich fokussierte Darstellung auf bestimmte Epochen, Regionen und Stile. In diesem Kontext erleben wir ein äußerst akribisches Werk, das das Beschriebene sehr lebendig werden lässt. Dazu trägt auch die weitere Unterteilung der Darstellung bei. Manchmal sind es Künstler, manchmal Festival, Konzert-Reihen oder Grafiker, sehr häufig aber Konzert- oder Party-Venues, die als Überschrift über ein paar Seiten und einigen Plakaten stehen. Das trägt sehr zur Verlebendigung und Authentizität der Darstellung bei. Dier hier besprochene Ausgabe ist die englischsprachige 2020er Lizenzausgabe für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Offenbar ist es ein völlig unveränderter Nachdruck des Originals von 1987, das bereits 2015 (in den USA?) wieder veröffentlicht wurde. Zumindest erwähnen die beiden Vorworte von 2015 keine Überarbeitungen, stellen aber die grundlegende enzyklopädische Bedeutung heraus, die The Art of Rock in den zurückliegenden gut 25 Jahren in der Sammler-Szene eingenommen hat. Norbert von Fransecky |
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