Helmut Brenner und Reinhold Kubik "profilen" den Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler
Gustav Mahler gehört zu jenen Menschen, deren Leben sich ziemlich exakt, teilweise sogar minutiös nachvollziehen läßt – und das liegt nicht zuletzt daran, dass der große Komponist und Dirigent ein enorm eifriger Briefeschreiber war. Von der Kurznotiz bis zum ausführlichen Schreiben liegt eine Fülle von Dokumenten vor, die es unter Hinzuziehung weiterer Quellen erlauben, Mahler zumindest seit seiner späteren Jugendzeit ziemlich exakt zu „profilen“ – ein Traum für jeden heutigen Kriminalisten, nicht minder reizvoll aber für Menschen, die sich auf Mahlers Spuren begeben wollen. Hilfestellung erhält letztgenannter Personenkreis von Helmut Brenner und Reinhold Kubik, beide ausgesprochene Spezialisten für das Leben Gustav Mahlers. Brenner etwa ist Redakteur der 2006 erschienenen Buchausgabe der Familienbriefe Mahlers, Kubik kuratierte ein Jahr zuvor die Ausstellung „Mahleriana“ im Jüdischen Museum Wien, und beide kooperierten bei der 2010 im Österreichischen Nationalmuseum Wien anläßlich Mahlers 150. Geburtstag ausgerichteten Ausstellung „Gustav Mahler in Wien“. Das vorliegende Buch Mahlers Welt. Die Orte seines Lebens geht über all das aber weit hinaus und ist nur mit einer gewissen Portion Fanatismus, der zum unabdingbaren grundsätzlichen Wissen hinzutreten muß, erklärbar. Wir haben nicht einfach eine weitere Mahler-Biographie vor uns, auch wenn der Lebenslauf des Komponisten und Dirigenten natürlich den roten Faden der Publikation bildet. Vielmehr zeichnen die beiden Autoren so exakt wie möglich Mahlers Lebenswege im wörtlichen Sinne nach, beantworten die Fragen, wann Mahler wo war, und ergänzen das um Informationen, wie die betreffenden Orte zu dem geworden sind, was sie zu Mahlers Zeiten darstellten, und was heute aus ihnen geworden ist. Nun lebte Mahler im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Mobilität zumindest der höheren Gesellschaftsschichten schon ziemliche Beschleunigungen erfahren hatte – andererseits war sein Aktionsradius durchaus nicht klein, und gewisse Ausrechenbarkeiten machen die Aufgabe zwar geringfügig leichter, aber immer noch des Fleißes eines ganzen Schwarmes Bienen bedürfend. Das Backcover listet 70 Orte von Abbazia bis Wiesbaden auf, wobei das Spektrum von einmaligen Besuchen z.B. während Konzertgastspielen bis hin zu einer Metropole wie Wien reicht, die über lange Zeit den Lebensmittelpunkt Mahlers bildet und daher naturgemäß besonders viele Anknüpfungspunkte aufweist, zumal der Protagonist dort bisweilen seine Wohnungen schneller wechselte als seine Unterwäsche. Diesem Spektrum paßt sich dann jeweils auch der Aufbau der einzelnen Kapitel an. Für einmalige Gastspiel- oder Urlaubsorte gibt es je eine knapp gehaltene Abhandlung, während beispielsweise das Großkapitel „Wien (1880 bis 1897)“ und in ähnlicher Form auch andere Orte von analoger zentraler Bedeutung zunächst „Wohnadressen, Ferien- und Hotelunterkünfte“ vorstellen und sich danach weiteren Themenkomplexen wie Bahnhöfen, Dienstadressen, Lokalitäten aller Art und schließlich den Behausungen von Familienmitgliedern und Freunden widmen. Zu jedem der vorgestellten Objekte gibt es knappe, aber kenntnisreiche Ausführungen sowie Quellenangaben, in welchen Selbstzeugnissen Mahlers bzw. an welcher Stelle im Mahler-Sekundärschrifttum man genauere Informationen bzw. die Quellen für Mahlers betreffenden Aufenthalt finden kann. Dazu versuchten die Autoren auch möglichst viele Orte und Objekte abzubilden, dabei bevorzugt im Zustand während Mahlers Zeiten, was eine Gesamtzahl von 587 Abbildungen ergab, die in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen wurden. Gewisse Probleme der Materialaufarbeitung ergaben sich aus dem Sujet: Wie sollte man etwa mit Wien umgehen, wo Mahler zunächst studierte, dann in den Jahren ab 1880 zwischen seinen wechselnden Engagements immer wieder kurzzeitig zurückkehrte, um letztlich 1897 den Posten des Hofoperndirektors zu übernehmen, den er zehn Jahre lang behielt? Die Autoren haben sich entschlossen, diesen Teil in zwei Komplexe zu gliedern, nämlich die Zeit bis 1897 und die Zeit als Hofoperndirektor, dazwischen auf etwas mehr als 100 Seiten Leipzig, Budapest, Hamburg und all die anderen Engagements behandelnd. In so manche Stadt kehrte Mahler nochmals zurück, wofür es im Buch dann kein neues Kapitel gibt, sondern zeitüberspringend mehrere Aufenthalte zusammengefaßt behandelt werden. So folgt das Buch zwar im Grundsatz einer chronologischen Ordnung der Lebensstationen, durchbricht diese aber dort, wo eine strenge Chronologie zu Redundanzen oder übermäßiger Kleinteiligkeit führen würde. Nutzt man das Buch als Nachschlagewerk, fällt das nicht weiter auf, aber auch wenn man im Prosastil alles von vorn bis hinten liest, gewöhnt man sich an diese Eigenart schnell, und man muß nur hier und da mitdenken, wenn die Autoren an bestimmten Stellen Wissen über später behandelte Stationen voraussetzen, das der Von-vorn-nach-hinten-Leser an der betreffenden Stelle noch gar nicht hat. Leben muß man außerdem mit wilden Sprüngen im ersten Wien-Kapitel, die den extrem vielfältigen und situativ sehr unterschiedlich geprägten Aufenthalten Mahlers in der k&k-Metropole zwischen seinem Studienbeginn 1875 und seiner dauerhaften Übersiedlung samt Übernahme des Hofoperndirektorenpostens 1897 geschuldet sind. In Anbetracht dieser Tatsache darf man den Autoren attestieren, dass sie wahrscheinlich die beste Balance zwischen chronologischer Korrektheit und inhaltlich-struktureller Sinnhaftigkeit gefunden haben, wenn der Leser bereits ein gewisses Grundwissen über Mahlers Leben mitbringt und z.B. weiß, dass er den Starnberger See, wo Mahler während der Leipziger Theaterferien 1887 war, eben im Leipzig-Kapitel zu suchen hat, wobei der umfangreiche Registerapparat am Ende des Buches durchaus nützlich ist. Der Anfänger dagegen wird sich durch die Fülle der kulturgeschichtlichen Querverbindungen – und Mahler, übrigens jahrelang Vegetarier und damit noch einer ganz ungeahnten aufstrebenden Strömung jener Zeit angehörend, kannte mehr oder weniger wirklich alles und jeden, der in seiner Zeit in seinem Umfeld irgendwo Rang und Namen hatte, was die Zahl seiner nachweisbaren Aufenthaltsorte enorm erhöht – vermutlich überfordert fühlen, aber der ist auch nicht die primäre Zielgruppe dieses Buches und sollte sich erstmal einer „klassischen“ Mahler-Biographie widmen. Hier hingegen ist der Mahler-Fortgeschrittene angesprochen, vielleicht auch der kulturhistorisch Interessierte, dem es gar nicht so sehr auf Mahler selbst als auf dessen hochgradig spannendes Umfeld in den späten k&k-Jahren ankommt. Und da Mahler das Gros seiner Reisen mit der Eisenbahn absolvierte, kommt auch noch eine ganz ungeahnte Zielgruppe auf ihre Kosten: die Eisenbahnhistoriker. Wer beispielsweise wissen will, mit welchem Zug der Dirigent unmittelbar nach der sehr erfolgreichen Aufführung von Beethovens IX. Sinfonie in Prag am 4. Juni 1899 nach Wien zurückkehrte, um am nächsten Tag dem Begräbnis von Johann Strauss jr. beiwohnen zu können, der findet die Antwort im Buch auf S. 246. Das kompositorische Werk Mahlers wird hingegen nur da gestreift, wo es für bestimmte Wege, Orte und Objekte bedeutend bzw. ausschlaggebend war. Acht Seiten Literaturverzeichnis eröffnen dem Interessenten aber genügend Möglichkeiten, dort weiterzuarbeiten, wo er stärkeres Interesse verspürt. Dass die beiden Autoren einige bisher unbekannte Stationen in Mahlers Leben entdeckten und seiner Biographie damit weitere Puzzleteile hinzufügen, erscheint angesichts der bisherigen Schilderungen fast schon selbstverständlich, und trotzdem bleibt auch für künftige Forschergenerationen immer noch etwas zu erkunden, etwa zu Mahlers Engagement in Laibach in der Saison 1881/82, über das bisher kaum Details bekannt sind. Apropos Details: Von solchen wimmelt das Buch naturgemäß, und man entdeckt so manchen Treppenwitz der Geschichte, so z.B. auf S. 262f.: Im Juni 1907, als der bekanntermaßen aus einer jüdischen Familie stammende Mahler in Berlin mit Heinrich Conried über die Vertragsdetails von Mahlers Engagement in New York verhandelte, wohnten beide im Hotel Kaiserhof. Selbiges wurde nach 1933 Hauptquartier der NSDAP und fiel 1943 einem Bombenangriff zum Opfer – auf dem Grundstück steht heute die Botschaft Nordkoreas ... Das Layout des Buches ist geschmackvoll schlicht gehalten. Dass der Innenteil nicht vierfarbig gedruckt ist, sondern nur schwarz-weiß mit Grün als gestalterischer Sonderfarbe, tut dem Werk keinen Abbruch, da das Gros der Bildvorlagen sowieso schwarz-weiß oder allenfalls im historischen Sepiaton gehalten gewesen sein dürfte. Zum großen Leidwesen der Kultur- und sonstigen Historiker aber wurde als Bildformat als Maximum eine halbe bzw. die Hochformaten eine Drittelspalte gewählt, was dazu führt, dass man detailreiche Bilder – und dazu gehören viele Abbildungen von Häusern oder sonstigen Örtlichkeiten – quasi mit der Lupe betrachten muß, will man sich in die Einzelheiten der oft ja recht seltenen oder gar bisher unpublizierten Aufnahmen (darunter erstmals welche von der Innenausstattung der Villa Mahlers in Maiernigg am Wörthersee) vorarbeiten. Andererseits versteht man die Beweggründe durchaus: In so manchem Fall dürften der maximal scharf abbildbaren Bildgröße durch die Auflösung des Originals Grenzen gesetzt worden sein, und außerdem hätten durchgängige größere Bildformate das mit 408 Seiten schon recht voluminöse Buch noch einmal beträchtlich dicker gemacht. So akzeptiert man diese Entscheidung mit einem weinenden und einem lachenden Auge und freut sich daran, dass die Dichte an orthographischen wie inhaltlichen Fehlern (soweit der Rezensent letztere beurteilen kann) in der Nähe von Null liegt, wenngleich nicht ganz bei Null: Da wird auf S. 85 aus der Gustav-Adolf-Straße in Leipzig mal die Graf-Adolf-Straße (auf S. 78, wo Mahlers dortige Wohnung in Nr. 12 ausführlich vorgestellt wird, stimmt der Name aber), und über einen Satz auf S. 77 schüttelt man gewaltig den Kopf: „Den ursprünglichen Plan, das Gebäude [gemeint ist das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Zweite Gewandhaus] wieder aufzubauen, gab man auf und errichtete stattdessen am Augustusplatz gegenüber dem Stadttheater 1981 das Neue (3.) Gewandhaus.“ Das liest der mit der Leipziger Geschichte nicht näher vertraute Leser so, als ob es sich um einen planmäßigen Ersatzbau an anderer Stelle gehandelt habe – dem war aber ganz und gar nicht so: 1968 wurde die Kriegsruine gesprengt, aber erst auf massive Intervention von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur bei der Staats- und Parteiführung der DDR wurde in den Mittsiebzigern der Neubau angeschoben, der ohne Masur wohl nie zustandegekommen wäre. Klarkommen muß der Leser mit diversen textlichen Austriazismen, unter denen sich speziell das Wort „demoliert“ als tückisch erweist – der österreichische Leser kann es problemlos mit „abgerissen“ in einem wertfreien Sinne übersetzen, im nichtösterreichischen Sprachgebrauch aber bezeichnet man damit eine bewußte Beschädigung, die hier im Text freilich nicht gemeint ist. Aber wie auch immer: Während oder nach der Lektüre beginnt man dem Schaffen des großen Komponisten, als der Mahler heute im wesentlichen bekannt ist – seine Dirigententätigkeit fand in Zeiten statt, bevor solche aufgezeichnet werden konnte, lediglich sein Klavierspiel ist auf Mignon-Rollen dokumentiert –, mit noch mehr Respekt zu begegnen als vorher, weil man sich fragt, wann der Mann eigentlich mal geruht hat, wenn man sich sein Pensum vergegenwärtigt. Seine spätere Frau Alma Schindler erkannte das Element der Unrast sofort, denn sie notierte nach dem auf S. 203 behandelten ersten Treffen mit Mahler am 7. November 1901 im Wiener Salon von Bertha Zuckerkandl in ihr Tagebuch: „Der Kerl besteht nur aus Sauerstoff. Man verbrennt sich, wenn man an ihn ankommt.“ Gut, er ist dann auch schon mit nicht mal 51 Jahren gestorben ... Roland Ludwig |
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