Vom „Huh“ über Paris zum „Hah“: Dschinghis Khan in Deutzen mit ihrem ersten Deutschland-Gig seit gewisser Zeit
Zwei regionale Wohnungsbaugenossenschaften, die unter dem Namen „Neuseen Wohnen“ gemeinsame Sache machen (der Name ist eine Anspielung auf das sogenannte Neuseenland in den Braunkohlebergbaugebieten südlich von Leipzig), feiern ein Wochenende lang im Kulturpark Deutzen eine Art erweitertes Mieterfest mit verschiedenen kulturellen und sportlichen Aktivitäten, und in diesem Rahmen kommt das Auditorium etwas überraschend zu einem außerhalb der Lokalzeitung und der Genossenschaftshomepage nirgendwo, nicht mal auf der Bandhomepage, schriftlich angekündigten Gig von Dschinghis Khan. Wer den Bandnamen liest, wird hierzulande vielleicht ein überraschtes „Gibt’s die noch?“ über die Lippen bringen – ja, es gibt sie noch, und zwar gleich mehrfach. Die originale Truppe hatte in den Mittachtzigern ihre Aktivitäten eingestellt, vier der sechs Mitglieder (ohne Leslie Mandoki und den zwischenzeitlich verstorbenen Louis Hendrik Potgieter) fanden sich anno 2005 allerdings für eine Reunion in Rußland zusammen, wo sie quasi im Handumdrehen eine extrem große Popularität gewinnen konnten, nachdem „Moskau“ schon jahrzehntelang ein Underground-Partyhit im Reich des Bären gewesen war. Stefan Track, der Potgieter ersetzt hatte, verließ die Band 2006 und arbeitete unter dem Projektnamen Rocking Son Of Dschinghis Khan (so hieß bekanntlich auch einer der frühen Songs der Band) weiter, Steve Bender starb im gleichen Jahr, und die drei restlichen Mitglieder führten Dschinghis Khan mit Unterbrechungen fort. Spätestens als Wolfgang Heichel ohne die beiden weiblichen Mitglieder, seine Ex-Frau Henriette und Edina Pop, einen Fußballsong für die WM in Rußland 2018 herausbrachte, scheint es dort abermals zum Bruch gekommen zu sein. Track wiederum veröffentlichte fast gleichzeitig ebenfalls einen Fußball-WM-Song, und so gab es parallel drei Dschinghis-Khan-Combos, eine Zahl, die sich mittlerweile auf zwei reduziert hat: Track und Heichel haben ihre Bands bzw. Projekte wiedervereint. Trotzdem ist die Lage immer noch verwirrend genug, und man braucht nur den Bandnamen in der URL nicht durchgehend, sondern mit Bindestrich einzugeben, und schon landet man nicht bei Heichels Truppe, sondern bei der seiner Ex und Edina Pops. Diese Geschichte dürfte das Gros des Publikums nicht kennen – es handelt sich nicht um ausgewiesene Musikfreaks, sondern um ein ganz gewöhnliches Familienfestauditorium, dem es herzlich egal ist, ob da jetzt Dschinghis Khan, Karel Gott oder die Münchener Freiheit spielen: Man hat vermutlich bzw. bestenfalls noch den einen oder anderen alten Hit im Ohr, ist aber doch neugierig, was da jetzt kommt. Nur einzelne Anwesende outen sich per Shirt als doch etwas musikaffiner, wobei das Spektrum von Blink-182 über Volbeat bis zum Rory Gallagher Tribute Festival (!) reicht, in das sich der Rezensent mit seinem Münchener-Freiheit-Leibchen einreiht. Das Konzert findet bei bestem Wetter nachmittags 16 Uhr auf der Freilichtbühne im Deutzener Kulturpark statt und kostet keinen Eintritt – die Reihen des Amphitheaters sind somit gut gefüllt, und man harrt gespannt der Dinge. Die Frage, welche der beiden Formationen auftritt, ist naturgemäß die erste für den Chronisten – Antwort: Es handelt sich um die Heichel-Track-Version. Die besteht aktuell aus fünf Mitgliedern, nämlich zwei weiblichen und drei männlichen. Wie die drei neben Heichel und Track heißen, ist nirgendwo herauszukriegen und steht nicht mal in der offiziellen Bandbiographie – dass die beiden Damen, wenn sie denn mal mit dem Publikum kommunizieren, das zumeist in Englisch tun, hilft nicht weiter, und Heichel und Track, die das Gros der Ansagen übernehmen, stellen ihre Mitstreiter auch nicht vor. Instrumente hat keiner der fünf dabei – die Instrumentalpassagen kommen also komplett aus der Konserve, die fünf Bühnenaktiven beschränken sich auf Bewegungsmuster und Gesang, wobei der Rezensent bei letzterem keine Prognose wagt, ob der hundertprozentig live ist oder auch da die Maschine noch Stimmen dazuliefert. Interessanterweise braucht der Soundmensch eine Weile, um die Stimmen so weit zu sezieren, dass man sie als individuelle Linien wahrnehmen kann, aber zugleich die Leadlinie, zumeist von Heichel oder Track übernommen, etwas stärker herausgehoben wird. Heichel, immerhin schon auf die 70 zugehend, hat nicht mehr den voluminösen Baß wie früher, hinterläßt aber immer noch einen souveränen Eindruck, während Track teilweise in recht hohe Tenorpassagen überwechselt und eine der Damen in „Madame Butterfly“ mit operesken Vokalisen andeutet, dass sie stimmlich mehr zu können scheint, als sie im Dschinghis-Khan-Kontext zwingend braucht. „Madame Butterfly“ ist ein gutes Stichwort: Auch ohne Ralph Siegel an ihrer Seite (der scheint zur anderen Combo zu halten) pilgern Heichels und Tracks Dschinghis Khan weiter durch die Welt und verarbeiten alle möglichen kulturhistorischen Phänomene, wenngleich natürlich mit einem den alten Nummern entsprechenden Tiefgang (es lese unter www.crossover-netzwerk.de/cdDschinghisKhan04.htm nach, wer eine Analyse des frühen Schaffens sucht). Zwei Wochen vor dem Deutzen-Gig sind sie gar bei der nach St. Petersburg exportierten Variante des Semperopernballs aufgetreten, und sie arbeiten an einem neuen Album, von dem es an diesem Nachmittag erstmals in Deutschland neue Nummern live zu hören gibt, nachdem die neue Single „Die Straßen von Paris“ ja schon erschienen ist. Das tatsächlich klassische Elemente verarbeitende „Madame Butterfly“ ist auch neu, ebenso „Afrika“, bei dessen Ansage rechts neben dem Rezensenten jemand den Ingrid-Peters-Hit gleichen Titels („... tausend heiße Feuer“) anstimmt. Schrägerweise bringt es die Band fertig, im Hauptset fast in jedem zweiten Song die Silben „Huh“ und „Hah“ zu intonieren, also auch in Nummern wie „Die Straßen von Paris“ oder „Istanbul“, wo man primär keine mongolischen Elemente verorten würde – hätte letztgenannter Song mit „Hadschi Halef Omar“ den Platz gewechselt, würde die Statistik „in jedem zweiten Song“ sogar exakt stimmen. Dass die Bandhymne „Dschinghis Khan“ gleich als Opener erklingt, macht klar, dass sich die Formation ihrer Lage bewußt ist, ein unspezifisches Publikum vor sich zu haben, das gleich mit dem hierzulande größten Hit geknackt werden muß – und das klappt auch tatsächlich: Die Anwesenden klatschen und singen fleißig mit, auch die neuen Songs erhalten regen Applaus, die Stimmung ist nicht komplett ausgelassen, aber doch sehr gut, und die Band verdient ein Lob, dass sie manche alten Nummern zwar soundlich ein wenig aufgepeppt und modernisiert haben, aber der Versuchung widerstanden, simplen Four-on-the-floor-Eurodance draus zu machen, wie das manch anderer Auferstandener tun zu müssen glaubt, um hip zu sein – eine Falle, in die Ralph Siegel anno 1999 mit „The Story Of Dschinghis Khan“ im „Extended Millennium Mix“ getappt war. Dschinghis Khan sind hingegen zeitlos, und wenn man den Songs kulturhistorische und musikwissenschaftliche Analysen erspart, kann man durchaus Spaß mit dem Material haben. Ob die Ballade „Israel, Israel“ freilich heute noch gespielt werden sollte, darüber darf diskutiert werden, stammt sie doch aus einer Zeit, als noch nicht daran zu denken war, dass Bethlehem eines Tages mal in einem palästinensischen Autonomiegebiet liegen würde, wodurch der Text heutzutage seine intendierte Friedensbotschaft krachend verfehlt. Choreographisch sind Heichel und Track natürlich Profis – der Alte bekommt eine zentrale Rolle, in der er nicht mehr die ganze Zeit tanzend herumwirbeln muß, und das tun statt dessen die vier jüngeren Mitglieder, gern auch mit Symmetrie, diese allerdings bisweilen auch bewußt durchbrechend. Die beiden Damen sind, abgesehen von Nuancen in der Rockfarbe, übrigens identisch gekleidet, während die drei Herren jeder ein individuelles Gewand aufweisen und Track mit seinen hohen roten Lederstiefeln nochmal zusätzlich auffällt. Das Quintett bringt zugleich das Kunststück fertig, das Ganze nicht übertrieben einstudiert wirken zu lassen, sondern eine Portion Frische reinzubringen – es ist ja scheinbar auch der erste Deutschlandgig seit gewisser Zeit, vielleicht zugleich ein Testballon für Größeres. Der Unterhaltungswert des fast genau einstündigen Gigs stimmt jedenfalls durchaus positiv (vom Stirnrunzeln bei „Israel, Israel“ mal abgesehen), und die Anwesenden erklatschen sich mit der Hymne „Do Swidanija“ eine Zugabe, bevor sich an den Autogrammtischen rechts neben der Bühne quasi sofort nach dem letzten Ton eine Schlange bildet, die beweist, dass die Veranstalter mit der Wahl dieser Combo offenbar einen guten Griff getan haben. Beim nächsten Mal die Münchener Freiheit – wie wär’s? (Karel Gott ist ja zwischenzeitlich nicht mehr verfügbar.) Setlist Dschinghis Khan: Intro Dschinghis Khan Samurai Afrika Thank God It’s Friday Macchu Picchu Madame Butterfly Die Straßen von Paris Israel, Israel Hadschi Halef Omar Istanbul Rocking Son Of Dschinghis Khan Moskau -- Do Swidanija Roland Ludwig |
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