Alle Macht den Sowjets? 1. Philharmonisches Konzert 2017/18 des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera
Ein dreiteiliges Konzertprogramm ausschließlich mit Werken aus der Sowjetunion, entstanden in den 1950er bis 1970er Jahren? Gut, früher gab es diese Konstellation im RGW nicht selten, aber heute hat sie durchaus Raritätenwert, sogar in Rußland selbst, in viel stärkerem Maße freilich in Mitteleuropa. Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera wagt im 1. Philharmonischen Konzert der Saison 2017/18 ein solches Experiment und wird von den Anwesenden bejubelt, so dass man gerne vergisst, dass deren Zahl nicht eben Legion ist. Aram Chatschaturjans Ballettkompositionen führen ausschnittweise auch eine Parallelexistenz als Orchesterstücke, im Falle des Säbeltanzes aus „Gajaneh“ sogar eine extrem erfolgreiche, das Original weit in den Schatten stellende. An diesem Abend steht ein Adagio aus dem 1956 uraufgeführten Ballett „Spartakus“ auf dem Programm, dessen Zweitverwendungspopularität sich maßgeblich aus der Verwendung in etlichen Filmen speist und das handlungsseitig zu einer Szene gehört, als der Titelheld und seine aus Thrakien stammende Geliebte Phrygia endlich mal Zeit für Zweisamkeit haben. Chatschaturjan, den das sonst prima gemachte Programmheft unglücklich als „den berühmtesten georgischen Komponisten“ betitelt (merke: Chatschaturjan wurde zwar ähnlich wie der Schachweltmeister Tigran Petrosjan auf georgischem Territorium geboren, war von der Volkszugehörigkeit her aber Armenier und ist dementsprechend heute analog zu Petrosjan in Armenien Nationalheld), breitet folglich eine akustische Blumenwiese mit Vogelgezwitscher vor dem Hörer aus, bevor eine erste Steigerung in eine große, leicht angedüsterte, aber durchaus nicht bedrohliche Klanglandschaft führt. Dirigent Laurent Wagner wird vor die Aufgabe gestellt, einen Spannungsbogen zu erzeugen, und er löst diese Aufgabe mit Bravour. Der Komponist hat durchaus variable Tempi vorgezeichnet, und die Dramatik nimmt langsam zu, wenngleich sie lange Zeit überschaubar bleibt und sich erst mit einer Posaunenattacke Kampfahnungen einmischen. Die letzte große Steigerung mündet in feierlichen Bombast, der aber nicht das letzte Wort hat – romantischer Frieden mit Solovioline breitet sich aus und wird stimmungsseitig nur durch die anrollende Erkältungswelle im Zuschauerraum gestört. Kein weltbewegendes Stück, aber wirkungsvoll und an diesem Abend gut gespielt. Nennt man einem Kenner der sowjetischen Musik den Namen Tichon Chrennikow, wird er möglicherweise zusammenzucken. Chrennikow stand jahrzehntelang an der Spitze des sowjetischen Komponistenverbandes und wird von der Avantgarde bis heute ausschließlich als der große Verhinderer wahrgenommen, wobei man sowohl sein eigenes kompositorisches Schaffen als auch die zweifellos vorhandenen konstruktiven Seiten seiner Persönlichkeit geflissentlich auszublenden neigt. Der Pianist Jascha Nemtsov versucht seit geraumer Zeit, eine differenziertere Betrachtung Chrennikows anzuregen, und hier reiht sich auch das Konzert dieses Abends ein, denn als zweites Werk erklingt Chrennikows Klavierkonzert Nr. 2 C-Dur op. 21. Symptomatisch für das außersowjetische herrschende Urteil über Chrennikow: Das in der Sowjetunion weiland viel gespielte Werk erlebt an diesem Abend seine deutsche Erstaufführung, 45 Jahre nach seiner Uraufführung in Moskau mit dem Komponisten selbst am Klavier, der neben Komposition auch Klavier studiert hatte und seine insgesamt vier Klavierkonzerte häufig selbst spielte. Zwar dreisätzig wie in der klassischen Konzertform vorgegeben, gönnt sich der Komponist doch einige strukturelle Freiheiten, indem der erste Satz nur eine knapp gehaltene Introduktion darstellt, die ungewöhnlicherweise mit einem wie die Solokadenz wirkenden Part anhebt. Tritt das Orchester hinzu, entwickelt sich eine seltsame Mixtur aus Tradition und Neutönerei mit deutlichem Überhang der erstgenannten. Der bombastische Tuttieinsatz kommt recht plötzlich um die Ecke geschossen, und schon sind wir im zweiten Satz, der mit „Sonate“ auch einen eigentümlichen Titel trägt. In einer recht zerklüfteten Struktur sammelt Chrennikow erstmal Ideen, wobei er etliche scharfe Rhythmuselemente entwickelt, mit Offbeats und Jazzanleihen spielt und phasenweise Erinnerungen an Keith Emerson aufkommen läßt – wohlgemerkt in der Sowjetunion und im Jahr 1972, wo man sich derartige „Westgedanken“ nur leisten konnte, wenn man sich in einer relativ unangreifbaren Position fühlte. Der Satz kommt zumeist recht flüssig von der Bühne, nur durch wenige Verharrungen unterbrochen, und hier und da gönnt sich Chrennikow etwas impressionismusangehauchte Tonmalerei, die durchaus nicht so weit weg von Mussorgskis Ausstellungsbildern liegt (welchselbiger sich nun justament Emerson in seiner ELP-Adaption gewidmet hatte). Nemtsov kann sein Können außer im Zusammenspiel mit dem Orchester auch wieder in einer langen Kadenz unter Beweis stellen, an der ein knackiger spätromantischer Orchesterschluß hängt. Der dritte Satz, „Rondo“ betitelt, gerät dann noch viel mussorgskiger als der zweite: Folkige Offbeatparts wirken langsamer als die Attacken im zweiten Satz, obwohl sie es bei Metronomprüfung wahrscheinlich nicht sind, und bisweilen entsteht der Eindruck von Zirkusmusik, allerdings ohne jegliche ironische Anwandlung. Der Zug zum Tor erscheint ungebrochen, währenddessen Nemtsov in der Kadenz mit einigen schrägen Rhythmusverschiebungen klarzukommen hat. Dann ist das muntere Treiben plötzlich vorbei: Das Tutti vom Schluß des ersten Satzes wird wiederholt, hier aber deutlich finsterer gestaltet, die Glocke läutet das letzte Morendo-Stündlein ein und beschließt im Gleichklang mit dem Soloklavier das Werk. Wagner und Nemtsov schaffen es, die unvermittelt hereingebrochene düstere Spannung stehen zu lassen, die dem Werk einen noch seltsameren Charakter verleiht, als man ihm bisher schon attestieren wollte. Irgendwie wird man bis zum Ende und darüber hinaus den Eindruck nicht los, dass Chrennikow einen eigenen Zugang zur modernen Welt gesucht hat, den er vielen anderen verwehrte – das kompositorische Resultat dieser Suche ist aber beileibe nicht uninteressant, und gerade wenn man Emerson und dessen Mussorgski-Auseinandersetzung kennt, ergeben sich hier interessante Perspektiven, jedenfalls deutlich interessantere als in den drei jüdischen Volkstänzen von Alexander Weprik, die Nemtsov noch zugibt. In klassischer Schnell-Langsam-Schnell-Folge gehalten, enthält der langsame Satz einige hübsche Melodieideen, aber bei weitem nicht jeder Einfall will zünden. Jüdische Bezüge findet man auch im dritten Werk des Abends, sogar an sehr markanter Stelle: Die suitenartig konzipierte 13. Sinfonie Babi Jar von Dmitri Schostakowitsch trägt ihren Titel nach dem Kopfsatz, der sich mit der Exekution von Zehntausenden Kiewer Juden in der namensgebenden Schlucht befaßt, worüber der Dichter Jewgeni Jewtuschenko 1961 ein im Handumdrehen große Popularität genießendes Gedicht veröffentlichte. Schostakowitsch vertonte dieses und vier weitere Gedichte Jewtuschenkos in einer reichlich einstündigen Sinfonie für Baßsolo, Orchester und Chor. 1962 uraufgeführt, war die sowjetische Kulturbürokratie interessiert, das Werk eher unter Verschluß zu halten, da das Verhältnis des Sowjetstaates zum Judentum recht spannungsgeladen und der politische Antijudaismus auch in der Sowjetunion ausgeprägt war (möglicherweise hatte Chrennikow, der mit einer Jüdin verheiratet war, eine Aktie daran, dass das Werk überhaupt uraufgeführt werden durfte und nicht gleich von vornherein verboten wurde). Kurt Masur etwa hatte große Schwierigkeiten, die Genehmigung zu bekommen, in seinem Schostakowitsch-Zyklus im Leipziger Gewandhaus, der noch zu Lebzeiten des Komponisten auf die Agenda gerückt war, auch die problembehaftete Dreizehnte spielen zu können, aber es gelang ihm. Trotzdem sieht man diese Sinfonie nur äußerst selten auf den Spielplänen der Orchester, und auch für den Rezensenten ist es das erste Liveerlebnis. Die Einbindung des Konzertes in die Achava-Festspiele Thüringen, die sich interreligiösen und interkulturellen Dialog auf die Fahnen geschrieben haben, ermöglicht die Mitwirkung des Männerchores des Gottesmutter-Klosters Kasan, der aus Anlaß ebenjenes Festivals in Thüringen gastiert. Die 21 Herren machen denn auch schnell klar, was ein originär russischer Gesang für einen Zugewinn an Authentizität der Wiedergabe ermöglicht, was freilich nicht die Leistung des Baßsolisten Ulrich Burdack, der zwar wie ein Wolgaschlepper aussieht, aber aus Schleswig-Holstein stammt, schmälern soll, zumal der Sänger über etliches an Tiefenpower verfügt. Wer Schostakowitschs Siebente Sinfonie (die „Leningrader“) kennt, weiß um den Umstand, dass ein extrem markanter Kopfsatz die ganze restliche Sinfonie dominieren kann, und das ist bei der Dreizehnten ähnlich und aufgrund der Benennung der ganzen Sinfonie nach ihm noch stärker ausgeprägt. Zwar widmet sich der Komponist auch in den anderen Sätzen Untugenden des Sowjetsystems (freilich mit der ihm eigenen Doppelbödigkeit, indem er etwa im dritten Satz das stundenlange Anstehen der Frauen in den Läden, um eine bestimmte Ware zu ergattern, als heroische Tat preist), aber die existentielle Bedeutung des ersten erreicht rein textlich keiner der vier anderen Sätze. Musikalisch hingegen hat Schostakowitsch versucht, das Ganze doch einen Tick ausgewogener zu gestalten, wenngleich natürlich nicht mit einem klassischen Sinfonien-Spannungsbogen wie etwa in der Zehnten. In der Dreizehnten muß Laurent Wagner also mit einer einerseits kopflastigen und andererseits eher unübersichtlichen Struktur zurechtkommen, aber er schafft das in nachvollziehbarer Form und bringt einige ergreifende Momente unter, etwa das hochdramatische Finale des „Babi Jar“-Satzes, dessen Wirkungsmacht an diesem Abend immens hohe Werte annimmt. Aber auch die Doppelbödigkeit in „Der Witz“, wenn Schostakowitsch Anklänge an seine berühmten zirkusartigen Motive mit finsteren Elementen koppelt, verlangt Aufmerksamkeit vom Orchester und einen geschickten Dirigenten. Beides trifft an diesem Abend glücklicherweise zusammen, und so bekommt auch die finale Katastrophe dieses Satzes, als sich der Tanz als Totentanz erweist, ihre intendierte Wirkung. Die Darstellung quälenden Wartens „Im Laden“ wird noch getoppt durch den ultradüsteren Übergang in Satz 4 „Ängste“, den auch die ganzen neuzeitlichen Düstermetaller nicht schwärzer hinbekommen würden. Der Ironiegehalt von dessen Schluß erfährt im letzten Satz „Karriere“ durch ein schräges Auf und Ab eine weitere Steigerung, und dass die Sinfonie mit einem friedlichen Streicherschluss und einer verklingenden Xylophonmelodie endet, setzt der genialen Abstrusität die Krone auf. Die Spannung steht am Ende enorm lange, bevor sich begeisterter Applaus Bahn bricht, für den sich der übrigens exzellent ins Geschehen eingepaßte Chor mit einem sehr ätherischen Pater Noster als Zugabe bedankt. Eine ergreifende Aufführung eines großartigen Werkes, an die man sich als Hörer lange erinnern wird. Roland Ludwig |
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