Kastanien und Katastrophen: Carpe Noctem mit Syntension und Robert Graefe im heimatlichen Jena
Einmal im Jahr pflegen Carpe Noctem auf die Bühne des Jenaer Kulturbahnhofs zu steigen – das ist auch anno 2017 der Fall, übrigens exakt 366 Tage nach dem 2016er Auftritt, und in dieser Zeit, so wird sich zeigen, ist allgemein einiges passiert. Als ersten Support bekommt das Publikum diesmal Robert Graefe zu sehen und zu hören, einen Einzelkämpfer an Gesang und Akustikgitarre. Wer nun allerdings einen klassischen Liedermacher erwartet, der über einigen rohen Akkorden gegen AfD, Donald Trump und Klimakiller wettert, liegt falsch: Graefe hegt zum einen keine politischen und/oder weltverbesserischen Ambitionen, zum zweiten kommt er musikgedanklich eher von der Gitarre als vom Gesang her, und drittens spielt er einen Stil, den er selber als Acoustic Prog bezeichnet – zumindest im Hauptteil seines Sets, der einer leicht gekürzten Wiedergabe seines Debütalbums gehört. Selbiges ist wie ein Buch aufgebaut, beginnt mit einem „Prolog“, setzt sich mit einer „Blank Page“ (zum Eintragen von Widmungen etc.) fort, bevor der Hauptteil dann aus drei „Chapters“ besteht, die an diesem Abend in einem neuen, etwas komprimierten und die Kapitel zusammenfassenden Arrangement erklingen. Das Buch endet mit einem „Epilog“, und in all diesen Nummern schafft es Graefe tatsächlich, eine Art Prog-Feeling hervorzurufen und trotz begrenzter Mittel ein breites dynamisches Spektrum abzudecken. Wenn die Musik dabei ruhig dahinfließt, fühlt man sich an einige Anathema-Momente erinnert, aber Graefes Gesang ist völlig anders als der Vinnie Cavanaghs und läßt sich phasenweise eher mit Antony Kalugin von Karfagen vergleichen. Wer sich vorstellen kann, wie Kalugins Musik nur mit Gesang und Akustikgitarre (welchletztere auch vielfältig perkussiv eingesetzt wird) klänge, der kommt Graefes Sound schon relativ nahe, wobei die Polyphoniestrukturen, die Graefe auch ohne Loopstation zu erzeugen imstande ist, durchaus zu beeindrucken wissen. Zwei Songs anderer Herkunft hat er noch vor dem Albummaterial gespielt, zwei unveröffentlichte hängt er hinten an, und erst in den letzteren erweitert er die Ausdrucksmöglichkeiten mittels der Loopstation. Auch wenn man sich irgendwie wünscht, Graefe würde sein Können im technischen wie songwriterischen Bereich in den Dienst einer vollen Band stellen, sorgt auch sein Soloauftritt für viel Applaus im Publikum, so dass eine ruhige Zugabe namens „Elegie“, die als Filmmusik entstand, als Belohnung folgt. Als der Rezensent den Kulturbahnhof betrat, war ihm Syntension-Gitarrist Alexander Rauhut aufgefallen – nun gut, der wird sicher als Besucher bei seinen Proberaumkumpels Carpe Noctem da sein, schien der logische Gedanke. Die Wahrheit sieht anders aus: PZZL, die eigentlich geplante zweite Supportband, sind wegen Erkrankung der Sängerin kurzfristig ausgefallen, und die naheliegendste Lösung für Carpe Noctem war, Syntension zu fragen, ob sie einspringen könnten. So kommt es zu der kuriosen Lage, dass die gleichfalls 366 Tage zuvor bereits gespielt habenden Syntension auch diesmal mit von der bühnenaktiven Partie sind. Diese 366 Tage hat die Band genutzt, um einerseits einen neuen Zweitgitarristen namens Manuel Doppel einzuarbeiten, und das ist offensichtlich bestens gelungen, denn der Mann fügt sich prima in den komplexen Progmetal der Band ein (das schafft man auch als technisches As nicht mal eben mit links) und schüttelt seine Matte ebenso intensiv wie seine Kollegen an den anderen Saiteninstrumenten. Andererseits aber ist beispielsweise auch ein neuer Song namens „Five Days Left“ entstanden, der hier an Position 2 steht und gleichermaßen für Stiltreue wie Weiterentwicklung des Quintetts steht. Die Reverenzen an die mittelfrühen Opeth sind immer noch da, aber der Song scheint eine etwas größere Portion Traditionsmetal eingeatmet zu haben, und so wird es kein Zufall sein, dass sich Sänger Roy Burkhardt ein kleines Stück stärker dem klassischen höheren (allerdings keine schwindelerregenden Lagen erklimmenden) Power-Metal-Gesang widmet. Der Gesamtsound der Band ist natürlich immer noch am besten als Progmetal zu bezeichnen und bietet Platz sowohl für Zehnminutenmonster wie „Invading Desire“ (mit gelegentlichen extremmetallischen Anflügen) als auch für kompaktere Nummern wie „Pathfinder“ (hier blitzt in der Gitarrenarbeit mal kurz ein Rimski-Korsakows Hummelflug ähnelndes Motiv auf) und selbst für eine Ballade, an diesem Abend allesamt in ein recht lautes, aber auch sehr klares Klanggewand gehüllt. Wie selbstverständlich hält sich auch älteres, aus der Phase vor Sommer 2016, als die Band noch unter dem Namen Junksound agierte, stammendes Material im Programm: „Inner Enemy Pt. 1“ beschließt den regulären Set, und da im Publikum prima Stimmung herrscht, kommen Syntension ohne eine Zugabe natürlich nicht aus, in der dann Kurioses passiert: Im wildesten Progmetalgewitter beginnt hinter dem Rezensenten ein Pärchen plötzlich weltvergessen zu knutschen, und in den letzten Takten fällt Manuels Gitarre aus, ohne dass das jemand zu bemerken scheint. Carpe Noctem hatten vor 366 Tagen eigentlich ihre neue CD Schattensaiten erstverkaufen wollen, aber die war nicht rechtzeitig angeliefert worden. Auch diesmal geht im Vorfeld einiges schief: Der Ausfall von PZZL wurde bereits erwähnt, und zwei Wochen vor dem Gig war auch noch die Bandhomepage gehackt worden. Andere strukturelle Besonderheiten aber waren tatsächlich geplant und werden an diesem Abend dann auch so realisiert. Das soll nicht bedeuten, dass die Band ihrem originellen String Metal mit Geige (statt Gesang), zwei Celli (statt Gitarren) und einer traditionellen Metal-Rhythmusgruppe grundsätzlich untreu geworden wäre – aber besagte Rhythmusgruppe ist neu in der Band und eröffnet neue Denkweisen und Erweiterungsmöglichkeiten. Neu-Bassist Sasch ist nicht nur des E-Basses, sondern auch des Kontrabasses mächtig und wechselt in einigen Songs daher auch an selbigen, und Neu-Drummer Martin (der kurioserweise ein klein wenig wie Axel Rudi Pell, freilich mit etwas anderer Haarfarbe, aussieht) besetzt im neuen zweiten Teil von „Gravely To Forget“ (der erste Teil steht auf dem Album Op. 2: Allegro Con Fuoco) zusammen mit Gastsängerin Bine das Frontmikrofon, wobei hier freilich in der Darbietung dieses Abends noch etwas Unordnung entsteht, die bei einer etwaigen Tonkonservierung sicherlich einer stärkeren Stringenz weichen wird. Ansonsten mischt sich munter älteres mit neuerem und ganz neuem Material, die Ballade „Fate“ sorgt für ruhige Momente, der Oldie „Mephisto“ ist in den Set zurückgekehrt, und mit „BACH“ erklingt auch das allererste, mit dem titelgebenden Thema anhebende Stück der Band, die übrigens am 3.10.2009 gegründet wurde und damit am 2.10.2017 quasi den Vorabend ihres 8. Geburtstages feiert. An Spielfreude mangelt es wie gewohnt nicht, außer den beiden genannten Sängern ist noch ein weiterer Vokalgast namens Basti im Einsatz (der einige Kastanien [!] ins Publikum wirft – Plektren, Drumsticks etc. können ja alle ...), am Klanggewand gibt es nichts zu deuteln, die Neuen sind spieltechnisch fit und spielharmonisch offensichtlich bestens integriert, und so ist es nur folgerichtig, dass das begeisterte Auditorium die Band nach dem Oldie-Doppelschlag „Intermezzo“/„Afterwrath“ nicht ohne eine Zugabe gehen läßt. So bekommen wir noch „Requiem“ vorgesetzt, und weiteren Zugabeforderungen, die natürlich nicht ausbleiben, wird mit einem Outro vom Band vorgebeugt: dem zweiten Walzer aus dem, was man lange Zeit für Dmitri Schostakowitschs Jazzsuite Nr. 2 hielt. Dieses durch seinen Einsatz im Film „Eyes Wide Shut“ weitreichend bekannte Stück erzeugt Bewegungsmodusänderungen im Publikum: Die Singles machen Platz, und die Pärchen beginnen sich im Dreivierteltakt durchs Rund zu schieben. Nächstes Jahr wieder? Gerne! (Dass der Rezensent auf dem Hin- und dem Heimweg das Inchtomanie-Album der Inchtabokatables im Autoradio hatte, deren Grundstil entfernt an den von Carpe Noctem erinnert, war allerdings wirklich purer Zufall.) Setlist Carpe Noctem: Blick über die Klippen Conviction Mephisto Untold Story Gift der Spinne Wintertag Gravely To Forget Part II Toxicity BACH Fate Intermezzo Afterwrath -- Requiem Roland Ludwig |
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