Russische Komponisten 17./18. Jhdt.
The Powers Of Heaven
Barock-Orthodoxe Fusion Ich muss zugeben: Selten hat mich eine Aufnahme mit Chormusik vom ersten Ton an so gepackt. Das hat in diesem Fall aber weniger mit der Musik zu tun, als mit der Interpretation: Was der Estnische Kammerchor hier mit einem Nonplusultra an Leuchtkraft, Homogenität und Farbigkeit bietet, sollte selbst solche Hörer überzeugen, die mit A-Capella-Gesang sonst nicht so viel anfangen können.
Der Ursprung dieser Musik aber gibt dem unwissenden Hörer zunächst einige Rätsel auf: Da ist zum einen die seltsame Sprache. Latein? Italienisch? Eher nicht. Die seltsam archaische Klangaura erinnert zunächst an Volksmusik, dann an ostkirchliche Gesänge, doch tönt vieles wieder typisch westlich, nach Renaissance-Polyphonie im Palestrina-Stil oder prächtiger barocker Homophonie. Solistische Passagen in Concerto-grosso-Form finden sich ebenso wie die klassische Dur-Moll-Tonalität. Was also ist das?
EAST MEETS WEST
Das ist orthodoxe Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhundert. Die Sprache ist das alte Kirchenslawisch. Die Komponisten haben allerdings nicht einfach die altehrwürdigen Traditionen russischer Sakralmusik fortgeführt, sondern sich - wie Russland überhaupt im 17. und 18. Jahrhundert - den Einflüssen Westeuropas geöffnet. Westliche Musiker, Komponisten wie Sänger, besuchten Russland, westliche Musik erklang am Zarenhof, selbst dort herrschte die italienische Opera seria. Und die Kirchenmusik? Die orthodoxe Liturgie setzte der Geschmacksexpansion gewisse Grenzen: Instrumente waren hier nicht erlaubt, allein die menschliche Stimme wurde zum heiligen Gesang zugelassen.
Die einheimischen Komponisten respektierten diese Einschränkung und investierten in die Mehrstimmigkeit. Der eindrucksvoll strenge Ton, die überwältigende Mächtigkeit der traditionellen Kirchenmusik wurde formal und harmonisch angereichert, aufgebrochen, überformt. Auch das Ausdrucksprektrum verwandelte sich: Statt ewige Wahrheiten 'objektiv' zu verkünden, appelliert diese Musik nun ganz 'subjektiv' an die religösen Gefühle der Hörer. Eine neue Empfindsamkeit schimmerte durch den akustischen Goldglanz dieser "gesungenen Ikonen" hindurch, die weit entfernt ist von der heiligen Hieratik der Originale.
Das alles ist gewiß sehr schön, vor allem, wenn es so kompetent und glutvoll dargeboten wird, wie in diesem Fall. Man kann sich kaum bessere Anwälte als Paul Hillier und den Estnischen Kammerchor für diese Musik vorstellen.
"NACHKLANG"
Hat man aber die Originale im Ohr, so bleibt ein eigentümlicher "Nachklang". Es ist wie mit dem Cäcilianismus des 19. Jahrhundert in Deutschland, der das A-Capella-Ideal für die Kirchenmusik beschwor und mit zuweilen süßlicher Romantik realisierte: Neuer Wein in alten Schläuchen, das geht selten gut ... Oder wie mit den "malerischen" barocken Mosaiken in San Marco / Venedig: Das funktioniert einfach nicht, gerade weil es "modern" sein will - die statischen, ornamentalen byzantischen Vorbilder sind unerreicht. Bei dieser barockisierten orthodoxen Musik ist es mir manchmal ähnlich gegangen, vor allem bei den späteren Werken, z. B. von Dmitry Bortinansky. Peter Tschaikowsky, nun wahrlich ein romantischer Komponist, schätzte dessen Werke wohl nicht umsonst und hat Kirchenmusik in einem ganz ähnlichen Stil komponiert. Vielleicht ist diese religiöse Kunstmusik doch mehr was fürs Kirchenkonzert, als für die Liturgie.
Georg Henkel
Trackliste |
01 Dmitry Bortinansky: Let my Prayer Arise 06:54 02 Giuseppe Sarti: Now the Powers of Heaven 05:36 03 Bortinansky: The Cerubic Hymn 03:54 04 Anonymus: O Most Holy Maiden Mary 11:03 05 Vasily Titov: Glory / Only-Begotten Son 03:15 06 Baldasare Galuppi: In the Flesh Thou Didst Fall Asleep 02.46 07 Bortinansky: I Lift Up My Eyes to the Mountains 06:11 08 Nicolai Diletsky: Praise the Name of the Lord 02:01 09 Bortinansky: With My Voice I Cried Out to the Lord 09:05 10 Artemy Vedel: By the Rivers of Babylon 10:13 11 Bortinansky: Lord, Make Me to Know My End 08:15 Gesamtspielzeit 70.14 |
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Besetzung |
Estnischer Kammerchor
Ltg. Paul Hillier
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