Antonio Scarlatti
La Grisella
Opern-Fossil, frisch ausgegraben ALTMEISTERLICH
Altmeisterlich, das kann dreierlei bedeuten: perfektes Handwerk - künstlerische Inspiration - folgt nicht der gängigen Mode.
All dies trifft auf Antonio Scarlattis (1660-1725) Oper La Griselda (1721) zu. Doch was heute Musiker inspiriert und Hörern Vergnügen bereitet, nahm sich seinerzeit wohl eher wie eine Art Dinosaurier der Opernkunst aus: beeindruckend zwar, was die gediegene Machart der abwechslungsreichen Musik und ihre bis ins Detail durchdachte Anpassung an das Drama anging. Aber kommerziell eher ein Auslaufmodell. Schwere Kost eben, wuchtiger Barock. Wo man doch eben eine neue Leichtigkeit des Seins entdeckte, eine neue Galanterie und Empfindsamkeit.
BAROCK-TRAGÖDIE, NIX FÜR EMANZEN
Auch was das Libretto anging, gehörte La Griselda der Vergangenheit an. Im Grunde ist es eine "unmögliche" Geschichte, die, wenn überhaupt, dann nur als Oper funktionieren kann und das Werk fürs aktuelle Repertoire schwer verdaulich macht:
Um seinem rebellischen Volk zu beweisen, dass der Adel der Tugend mehr wert ist als der des Geblüts, unterwirft der König seine aus einfachen Verhältnissen stammende Frau den furchtbarsten Prüfungen: Die Kinder werden ihr genommen, sie selbst wird verstoßen und soll der neuen Königin gar als Sklavin dienen. Als sei das alles nicht genug, will man man sie zwingen, den ihr verhassten, intriganten Generalissimus seiner Majestät zu heiraten.
Griselda (so heißt die tragische Heldin) erleidet und erträgt dies alles mit heiligmäßiger Duldsamkeit, ja Hingabe und - man mag es kaum glauben - unzerschütterliche Liebe zu ihrem Ex-Mann. Denn - Emanzen bitte weghören - sie tut dies freiwillig, selbstbestimmt. Erst als ihr die erneute Heirat befohlen wird, begehrt sie auf: Diese Demütigung wird sie nicht hinnehmen, ihre erste und einzige Liebe nicht verraten! Hier enden die Prüfungen: Das Volk ist überzeugt, der König war es sowieso schon immer, die vermeintliche Nebenbuhlerin erweist sich als in der Fremde aufgewachsene ("scheintote") Tochter, die endlich ihren Geliebten heiraten darf, und selbst der begehrliche General übt Verzicht. Ende gut, alles gut ...
IM SCHATTEN HÄNDELS!?
Hat man Händels Opern im Ohr, dann nimmt sich Scarlattis Musik zunächst viel weniger spektakulär und aus. Die großen theatralischen Effekte und emotionalen Höhepunkte scheinen ihr abzugehen. Erst beim zweiten Hinhören entdeckt man den Reichtum der Partitur:
Die Arien sind konzentrierter und von diskreterer Virtuosität als bei Händel, aber ebenso dicht und als spannungsvoller Gegenpart zur Singstimme komponiert. Den kleingliedrigeren Melodien hört man noch ihre Herkunft vom Rezitativ oder Arioso des 17. Jahrhunderts an. Auch bestimmt der Textgehalt die Entwicklung der Musik, was zu überraschenden Wendungen führt. Aus diesem Grund hat der Komponist wohl zahlreiche einleitende Ritornelle noch nachträglich gekürzt: Die Musik sollte sich nicht in den Vordergund drängen. Umgekehrt sind dann aber die "trockenen" Rezitative harmonisch reicher und dramatisch effektvoller als bei den meisten Zeitgenossen. Schließlich wird der monotone Wechsel von Rezitativ und Arie, immer mal wieder durch Accompagnati und Ensembles aufgelockert, selbst Ansätze zu größeren Szenenkomplexen lassen sich ausmachen. So steht das Werk gleichsam zwischen den Epochen und Stilen.
HÖRERLEBNIS
Dass diese Oper heute nicht nur zu hören (und sogar auf der Bühne zu sehen) ist, sondern auch zum Erlebnis wird, verdanken wir - wieder einmal - René Jacobs, diesem unermüdlichen Missionar in Sachen Alter Oper. Mit diesem "Missing Link" zwischen Cavalli und Händel hat er zu Unrecht vergessene Musik ausgegraben (einige Kürzungen vor allem im dritten Akt kann man da wohl verschmerzen). Vom Ansatz her ist das Werk ganz anders gelagert als der vor einigen Monaten veröffentlichte Rinaldo (von Händel, ebenfalls HMF), den Jacobs ja kongenial zu einer regelrechten Barock-Revue mit Hörspielqualitäten hochinszeniert hatte. Hier dagegen übt sich der Dirigent in angemssener Zurückhaltung. Dank seines inspirierten Dirigats, das dem "hohen Ton" des Dramas ebenso gerecht wird wie der Vielschichtigkeit der Musik und unterstützt von der ambitioniert aufspielenden Akademie für Alte Musik / Berlin sowie von einer barockerfahrenen Sängerinnenriege, kann man diese Seria so recht genießen.
Dorothea Röschmann ist als Griselda eine vorzügliche Besetzung: Dank ihres wunderbar dunkel schattierten Soprans und einer intensiven Gestaltung verleiht sie dem Leiden wie dem Aufbegehren ihrer Figur eine berührende Stimme. Ebenso überzeugt der mädchenhafte, virtuos geführte Sopran von Veronica Cangemi als Constanza. Auch die heiklen Kastratenpartien sind gut besetzt: Der Altist Lawrence Zazzo gibt den König, der bereits von Scarlatti sensibler und mitfühlender gezeichnet wird, als es seine grausamen Prüfungen erahnen lassen. Zazzo, zum cantablen Schmeicheln wie zur engagierten Attacke fähig, gefällt auch deshalb, weil sein "ambivalentes" Timbre die Gratwanderung dieser Figur zwischen klassischem Heros und unmenschlichem Diktator hörbar werden läßt. Bei den beiden anderen Rollen entschied sich Jacobs für eine Mezzo-Besetzung. Silvia Tro Santafés gibt mit etwas kehliger Stimme einen kernigen, mitunter hochfahrenden General Ottone, Bernada Fink bietet einen lyrischen, in Darstellung sehr facettenreichen Roberto. Für die kleine Rolle des Corrado ist der Tenor Kobie van Rensburg eine angemessene Besetzung.
Übrigens wird die Aufnahme als SACD hybrid angeboten, die auf sämtlichen CD-Playern abgespielt werden kann und auch nicht mehr kostet als eine handelsübliche CD (in diesem Fall sogar weniger, da für drei SACDs nur der Preis von zwei zu entrichten ist). Klanglich ist die CD-Spur etwas verhangen und flächig. Wer die Qualitäten der Aufnahme in voller Pracht genießen will, der sollte sich unbedingt die SACD-Version zu Gemüte führen!
Die Präsentation in einer Kasette ist luxuriös, allerdings enthalten das Jacobs-Interview und der lesenswerte Artikel von Silke Leopold im Booklet einige sachliche Widersprüche.
Georg Henkel
Trackliste |
Trackliste Gesamtspielzeit 3:02:00 |
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Besetzung |
Dorothea Röschmann - Veronica Cangemi (Sopran)
Silvia Tro Santafé - Bernada Fink (Mezzosopran)
Lawrence Zazzo (Altus) / Kobie van Rensburg (Tenor)
Akademie für Alte Musik
Ltg. René Jacobs
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