Schwedisches Radio Symphonieorchester und Schwedischer Rundfunk Chor / Tonu Kaljuste
Es war eine Radiosendung mit Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt, die den Produzenten Manfred Eicher bewog, in seinem renommierten Münchener Jazzlabel ECM eine neue Reihe zu eröffnen: ECM New Series. In diesem Segment wurde seit den 80er Jahren vor allem Musik veröffentlicht, die epochen- und spartenübergreifend eine Brücke zwischen Alter und Neuer Musik, zwischen U- und E-Musik schlug. In dieser Hinsicht erwiesen sich manche Platten der ECM New Series als legitime Vorfahren heutiger Crossover-Produktionen, ohne freilich wie diese in der bloßen Beliebigkeit von Marketingstrategien aufzugehen.
Die meist sehr räumliche Klangaura, die viele Einspielungen auszeichnet, ist ebenso Ausdruck der persönlichen Ästhetik Eichers wie die sorgfältige Auswahl der profilierten Interpreten und die gediegen-moderne Covergestaltung, die inzwischen gerne kopiert wird und der kürzlich ein eigener Bildband gewidmet wurde. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß diese Ästhetik manchmal ins Geschmäcklerische, ins pure musikalische und grafische Design umschlägt: New-Age und klingenden Räucherstäbchen lassen grüßen.
Ein Jazz-Pianist wie Keith Jarret, dessen Köln-Konzert zu den erfolgreichsten ECM-Produktionen überhaupt gehört, konnte in der New Series seine Deutungen von Bach und Mozart präsentieren. Zeitgenössische Wanderer zwischen den Klang-Welten wie der Komponist Heiner Goebbels oder György Kurtag scheinen hier mit ihrer Musik ebenso gut aufgehoben wie eine eigenwillige Oper der Amerikanischen Sängerin und Perfomance-Künstlerin Meredith Monk. Daneben erweist sich dann die chromatisch hochgespannte Vokalmusik des komponierenden Spätrenaissance-Fürsten Carlo Gesualdo von Venosa in der Deutung des Hilliard Ensembles plötzlich als reinste Avandgarde. Aber auch klassisches Repertoire wie die ‚Sieben letzten Worte' von Joseph Haydn bekommt in der Einspielung des Rosamunde Quartetts plötzlich eine Eindringlichkeit und Modernität, die sie wie neu erscheinen läßt.
Bei dem millionenfach verkauften Saxophon-Vokal-Mix "Officium" zeigt sich hingegen, wie fragil eine solche Balance mitunter ist: Die zum Backgroundchor reduzierten mittelalterlichen Gesänge des Hilliard Ensembles dienen Jan Garbareck lediglich als Kulisse für seine purifizierten Saxophonkantilenen. Das ist dann nur noch Kitsch, allerdings auf technisch allerhöchstem Niveau.
Eine Produktion mit Orchesterwerken von Arvo Pärt machte damals den Anfang der New Series. Inzwischen liegt das - wenn man so will - ‚Spätwerk' des Komponisten nahezu geschlossen auf den CDs der Reihe vor. Seit seiner Abkehr von avandgardistischen Kompositionstechniken (Zwölfton- und serielle Musik, Collage) in den 70er Jahren kennzeichnet die Musik Pärts ein einfaches Verfahren, das er selbst ‚Tintinnabuli-Stil' nennt. ‚Tintinnabuli' kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚Glöckchen'. Glockerartig klingt der Dreiklang. Über die Kombination von benachbarten Dreiklangs- und Skalentönen z. B. der C-Dur oder A-Moll-Tonleiter nach simplen, in der Anwendung aber höchst flexiblen Regeln gewinnt der tief in der russischen Orthodoxie verwurzelte Komponist das ‚Material' für seine überwiegend religiösen Kompositionen. Das Ergebnis sei, so der Komponist, eine ‚schöne' und ‚stille' Musik.
Das "Stille" und "Schöne" äußerte sich vor allem bei den ersten Werken im "Tintinnabuli-Stil" auch in einer radikalen Einfachheit, die wegen ihres meditativen Charakters bei vielen Hörern auch jenseits der typischen Klassikklientel auf offene Ohren stieß. Pärt wurde dann von der Kritik schnell als eine christliche Antwort auf die Minimal Music eines Steve Reich oder John Adams abgetan. Die meditative Sogwirkung eines Stückes wie ‚Fratres' oder die quasi-liturgische Schlichtheit der ‚Johannespassion' haben bis heute kaum etwas von ihrer faszinierenden Wirkung verloren.
Dabei ist Pärt bei dieser Form vokal-instrumentaler Askese nicht stehengeblieben. Insbesondere die Werke auf seiner jüngsten CD, die mit sicherem Gespür für aktuelle Themen das kurze Instrumentalstück ‚Orient & Occident' in den Mittelpunkt stellt, kennzeichnet eine zunehmende ‚Komplexität des Einfachen'. Sowohl beim eröffnenden ‚Wallfahrtslied' (Psalm 121) wie auch dem ‚Come cierva sedienta' (eine spanische Fassung von Psalm 42 und 43) ist an die Stelle des verhaltenen, strengen, gleichsam ‚mönchischen' Tonfalls ein wesentlich dramatischereres, differenzierteres aber auch farbigereres Klangbild getreten.
Eine zugleich schmerzvoll-zerissene und sehnsuchtsvolle Auf-Abwärtsbewegung der Streicher leitet das erste Stücke ein, um dann die einstimmig deklamierende Gesangslinie der Männerstimmen mit sparsamen Gesten zu kontrapunktieren. Das Werk ist dem Andenken eines Freundes von Pärt, dem 1984 verstorbenen Film- und Theaterregisseur Grigori Kromanov gewidmet. In den kontrastierenden Motiven sollen, so der Komponist, die Sphären von Dies- und Jenseits verschmelzen, soll ihre Grenze mit einer zarten klingenden Berührung, einem musikalischen Gruß überwunden werden.
Auch "Orient & Occident" versucht eines solche Grenzüberschreitung: Von einer einzigen, sozusagen virtuellen Melodielinie zusammengehalten, verbinden sich hier typisch Pärtsche ‚Harmonien' und pseudo-orientalische Einstimmigkeit: Statik und Dynamik, abrupter Innehalt und aggressives Vorwärtsdrängen mag hier als Metapher für die unlösbare Spannung und ‚geteilte Einheit' von Abend- und Morgenland fungieren.
In "Come cierva sedienta" werden die Stimmen des Frauenchores ähnlich wie im "Wallfahrtslied" von einem - in diesem Fall großen - Orchester umspielt. Hier wird vielleicht am deutlichsten, wo die Gefahr der Materialerweiterung liegt: Einfachheit und Strenge, die Pärts ersten Versuchen im ‚Tintinnabuli-Stil' einen nicht unbeträchtlichen Reiz verliehen haben, weichen hier mitunter einer klanglichen Plüschigkeit, die die Grenze zum Kitsch überschreitet. Hingetupfte Streicherklänge und Flötentriller, Harfenarpeggien und dumpfe Trommelschläge, dazu ätherische, mit der Präzision eines Lasers geführte Frauenstimmen - Neomittelalter und Neoimpressionismus gehen eine süßliche Melange ein.
Auch die plakative Steigerungsdramaturgie vermag nicht, die drohende Monotonie der schmerzvoll-schönen Sekundreibungen zu kaschieren, weckt dafür aber Assoziationen an Filmmusik. Überdies ermüdet nicht nur in diesem Werk der dominierende Affekt von ‚Passionsmusik'. Pärts Werk ist hier symptomatisch für eine zeitgenössische religiöse Musik, die sich in reine Innerlichkeit zurückgezogen hat: Kultivierte Traurigkeit vermag, ästhetisch entschärft, ja ein durchaus angenehmes Erlebnis zu verschaffen.
Dass Pärts Musik eine breite Hörerschaft erreicht, daß ihre gewiß authentische Religiosität, ihre Eingängikeit und meditative Grundhaltung Bedürfnisse befriedigt, die der etablierten musikalischen Avandgarde wenig bedeuten, ist offensichtlich. Aber diese Bedürfnisse befriedigen eine Bachkantate oder eine Psalmvertonung von Monteverdi oder Mendelsohn wesentlich überzeugender, weil ungezwungener und vitaler. Und sie lassen nicht vergessen, daß religiöse, zumal christliche Musik, nicht nur die Klage kennt, sondern auch überschäumende Freude und Jubel. Diese Ausdrucksqualität ist Pärts Musik per se fremd. "Die Wahrheit ist schon längst formuliert worden, nur unsere fühllosen Augen und Ohren verlangen eine moderne Explosion", äußerte sich der Komponist einmal. Vielleicht gilt dies nicht nur in religiöser, sondern auch in musikalischer Hinsicht.
Abgesehen davon: Sämtliche Interpreten werden in puncto Intensität, Klangschönheit und Expressivität den Werken voll und ganz gerecht. Dazu kommt eine vorbildliche Klangtechnik.
13 von 20 Punkte
Georg Henkel