Joshua Bell, Camerata Salzburg, Sir Roger Norrington
Auch wenn der Werbefeldzug für Anne-Sophie Mutters jüngst erschienene CD ein anderes Glauben machen will: Es gibt Alternativen zu der Star-Geigerin, die auch schon mal ihre üppige Oberweite zur Covergestaltung einsetzt und dabei so kulturbeflissene Interviews gibt.
Eine glänzende Alternative stellt zum Beispiel die neue CD mit dem amerikanischen Violinisten Joshua Bell dar. Auch er war schon in ganz jungen Jahren ein gefeierter Virtuose, hat bei uns aber leider nie die Beachtung gefunden, wie Frau Mutter.
Nunmehr legt er eine Einspielung von zwei Standardwerken der Konzertliteratur für sein Instrument vor: Die Konzerte von Felix Mendelssohn-Bartholdy und von Ludwig van Beethoven.
Aufhorchen läßt dabei insbesondere seine Mendelssohn Interpretation. Es gelingt ihm, das Stück von pathetischem Vibratogesäusel zu befreien, wie es vor allem in den 80er und 90er Jahren lange Zeit üblich war. Das berühmte Eingangsmotiv kündet bei ihm nicht mehr von Melancholie, sondern von drängender Sehnsucht (ähnlich Yehudi Menuhins Interpretation). Die runde, singende Tongebung, die Bell perfekt beherrscht, hält ihn nicht davon ab, doch zugleich kraftvoll zuzupacken und dem Werk eine selten gehörte Lebendigkeit zu verleihen. Im Piano und Pianissimo ergreifend, im Forte zwingend, bei Tempowahl und Phrasierung mit viel Gespür für das Wesen dieser Musik, so gelingt es dem Amerikaner jenes schon oft gehörte Stück doch wieder neu und aufregend zu machen. Im ersten Satz hat der Solist eine selbst erdachte Kadenz der üblichen, in ihrer Authentizität aber zweifelhaften vorgezogen und stellt mit ihr unter Beweis, daß es ihm um mehr geht, als um die Präsentation technischen Könnens. Seine Kadenz erwächst vollkommen adäquat aus dem musikalischen Material, durchdenkt es, vollzieht es nach, spielt im besten Sinne mit ihm und findet schließlich kongenial zurück in die Schlußsentenz. Das alles geschieht ganz unaufgeregt und ohne Spirenzchen á la Nigel Kennedy und Konsorten.
Auch das Beethoven Konzert braucht keinen Vergleich zu scheuen. Diesem scheinbar so kompromißlosen, bisweilen nachgerade aggressiven Werk ringt Bell tausenderlei Facetten ab. Wiederum zahlt sich seine unbefangene und solchermaßen junggebliebene Herangehensweise aus und pustet die Staubschicht von dem Konzert hinweg, mehr, als es manch einer vermocht hat, der sich für einen Klassik-Rocker hält (siehe oben...). Mal schluchzt die Geige, mal springt der Bogen tänzerisch über die Saiten (dadurch besonders erfreulich das abschließende Rondo), mal scheint der Klang fast zu verdämmern, dann schreit er wieder laut auf. Perfekte Kontrastzeichnung, die aber nie übertrieben und nervenzerrend wird.
Zu all dem begleitet die Camerata Salzburg unter dem erfahrenen Sir Roger Norrington tadellos, offenbar den Wünschen und Vorstellungen des Solisten entgegenkommend. Bedauerlicherweise ist das Orchester von der Aufnahmetechnik stiefmütterlich behandelt worden, so daß der Klang etwas dumpf und baßlastig erscheint. Da hätte man gerade von Sony besseres erwartet, aber das Problem scheint bei Violinkonzerten trotz modernster Tontechnik noch nicht überzeugend gelöst zu sein.
Von diesem kleinen Manko abgesehen: Eine CD, die wärmstens empfohlen werden kann. Dem, der schon Einspielungen dieser Werke besitzt ebenso wie jenem, der sie kennenlernen möchte. Schließlich wissen wir alle, daß Mutter zwar die erste, aber besser nicht die letzte große Liebe im Leben sein sollte!
19 von 20 Punkte
Sven Kerkhoff