"Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu ein und derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische." So leitet der erste Biograph Johann Sebastian Bachs, Forkel, sein Werk aus dem Jahre 1802 ein. Und
wäre heute eine Frage aktueller, als die, was den Menschen prägt: Genetische
Disposition oder Sozialisation?
Ihr lässt sich musikalisch-spielerisch nachgehen anhand der neuesten Veröffentlichung der renommierten Musica Antiqua Köln. Auf ihr sind Werke von Mitgliedern der Bach-Familie vereint, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Es handelt sich um erst kürzlich wiederentdeckte Schätze
aus den Archiven bzw. um Rekonstruktionen. Die Entdeckerfreude darüber steht hier sicher mehr im Vordergrund, als der von Ensemble-Leiter Reinhard Goebel erhobene Anspruch, jene musikalischen Quellen und Wurzeln aufzuspüren, aus denen Johann Sebastian schöpfte. Denn: Es ist schwer vorstellbar,
dass er etwa von Cyriacus Wilche, der mit einem Stück auf der CD vertreten ist, beeinflusst wurde. Handelte es sich
immerhin "nur" um den Großvater von Johann Sebastians zweiter Ehefrau! Insofern mag eine Zusammenstellung dieser Art wohl eher abwechslungsreich-interessant, als musikhistorisch schlüssig sein. Interessant aber, ja nachgerade spannend ist sie dann allerdings auch. Und das liegt nicht zuletzt am feinsinnigen
Spiel der Musica Antiqua, die jedes dieser Stücke in seiner ganz eigenen Art bestmöglich auslotet, ohne dabei trocken akademisch zu werden und die Freude am Musizieren zu vernachlässigen.
Zwei Werke Johann Ludwig Bachs, eines Verwandten aus der sog. "Meininger Linie", finden sich unter anderem. Anhand der Ouvertüre in G-Dur läßt sich der oben angedeutete Streit trefflich fortsetzen.
Goebel meint in anderem Zusammenhang, bei aller verwandtschaftlichen Entferntheit einen bach´schen "Familienstil" zu entdecken. Vergleicht man nun aber beispielsweise diese Ouvertüre mit den zeitgleich entstandenen Johann Bernhard Bachs (sog. "Erfurter Linie"), so wird deutlich, daß jedes Familienmitglied es
vor allem verstand, sich den Gegebenheiten seines Umfeldes und dem Regionalgeschmack anzupassen bzw. alles dafür notwendige musikalische Wissen in sich aufzunehmen. Ob angesichts dessen der Familienstil nicht vielmehr rückblickendes Wunschdenken ist, sei dahingest ellt.
Jedenfalls, und darauf kommt es eigentlich an, werden sowohl diese Ouvertüre, als auch das (in der Zuordnung zum
Komponisten zweifelhafte) Concerto D-Dur technisch perfekt dargeboten, als Unterhaltungsmusik im besten Sinne des Wortes. Besonders vermag das saubere Spiel der Solo-Violinen im Concerto zu gefallen.
An die Zeit der sog. Stadtpfeiffer erinnern die Stücke Heinrich Bachs (1615-1692) und Cyriacus Wilches (?-1667). Die Sonaten bzw. die Battaglia werden dann auch angemessen derb-zupackend interpretiert. Wohl nur so kann diese Musik auch uns heute noch Spaß machen; wenn nämlich nicht mit verbissenem Ernst
versucht wird, sie zu musikalischen Juwelen aufzuwerten, sondern sie statt dessen in ihrer Schlichtheit akzeptiert wird.
Weitaus komplexer erscheinen da schon Sonata & Capriccio g-moll des
"Signr. Pagh" (vor 1672). Struktur und Satztechnik bieten hier interessantes, von dem sicher auch Johann Sebastian vieles verinnerlicht haben könnte. Insbesondere wird schon die Kunst ersichtlich, ein auch den weniger versierten Hörer unmittelbar ansprechendes Werk aus einer zunächst sehr strengen
technischen Grundanlage zu schaffen. Diese macht das filigrane, verständige Spiel des Ensembles vorbildhaft erkennbar.
Als einzige "Solo-Nummer" findet sich auf der CD die "Aria Eberliniana" für Cembalo des Johann Christoph Bach (1642-1703). An dieser wird exemplarisch die Fähigkeit deutlich, aus einem (äußerst) banalen Thema Variationen von größter Kühnheit zu entwickeln, die den Zuhörer in
Staunen versetzen - wenn er sich denn die Mühe macht, die gut 16 Minuten konzentriert zu verfolgen. Leider ist Léon Berbens Spiel am Cembalo etwas schulmeisterlich und sehr analytisch, so als wollte er den Hörer bei der Hand nehmen. Ein sparsamerer Einsatz des Ritardandos etwa wäre dafür vielleicht sogar hilfreicher
gewesen, denn durch dieses Stilmittel (mag es auch womöglich unter historischen Aspekten korrekt sein) wird der Entwicklungsfluß innerhalb der einzelnen Variationen immer wieder gehemmt - die Belehrung verdrängt ein wenig die Freude an der Musik.
Diese kommt dafür ganz ungebremst bei dem einzigen Werk Johann Sebastian Bachs auf dieser Einspielung zur Geltung. Es ist das
Concerto D-Dur für 3 Trompeten, Pauken, 2 Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo. Dieses ist in erster Linie bekannt als Sinfonia aus dem Osteroratorium, BWV 249, stammt aber ursprünglich aus einer weltlichen Kantate.
Die Einspielung operiert mit einem rekonstruierten 3. Satz, der das ganze zu einem eigenständigen Instrumentalwerk ausbaut. Ganz zur Freude des Hörers (und seiner Nachbarn im Mietshaus...). Die Trompeten brillieren, das tänzerische Element der Musik kommt voll zur Geltung und die Spiellaune der Musica Antiqua
ist einfach mitreißend. Diesen schwungvollen 11 Minuten und 38 Sekunden kann sich niemand entziehen.
Wieviel mehr an österlicher Lebensfreude (um auf die kirchliche
Verwendung zurückzugreifen) wird hier dargeboten, als beispielsweise in den Einspielungen die Rilling vom Osteroratorium in den achtziger und Herreweghe in den neunziger Jahren vorgelegt haben! Goebels Interpretation hinterläßt in jedem Moment den Eindruck der Stimmigkeit, das Gefühl, daß das Wesen dieser Musik
in idealer Weise erfaßt und transportiert wird. Keine Kleinigkeit, kein musikalischer Übergang wirkt mehr banal oder erscheint als konventionelle Lösung.
So lässt diese CD gespannt sein auf weitere Ausgrabungen. Sie verlangt dem Hörer eine gewisse neugierige Offenheit ab, macht es ihm aber auf der anderen Seite durch eine mustergültige Darbietung leicht, sich auf die Entdeckungsreise
einzulassen.
Das Klangbild läßt an Klarheit und Transparenz nichts zu wünschen übrig. Beim Booklet hingegen wäre, wenn man schon solch einen hohen musikwissenschaftlichen Anspruch erhebt, ein wenig mehr Detailliertheit und auch Übersichtlichkeit angebracht gewesen. Aber die Deutsche Grammophon verlagert ihr Interesse in letzter Zeit
ja zunehmend eher auf eine innovative Covergestaltung: Reinhard Goebel und einige Ensemblemitglieder in einer Lounge mit Designermöbeln. Früher stand meist die Musik im Vordergrund, nicht der Musiker. Auch zu Zeiten der Bachs. Aber wenn es den Absatzerfolg fördert, mag
man sich mit solchen Absonderlichkeiten abfinden - im eigenen Regal ist ohnehin nur der
CD-Rücken zu sehen.
Die DGG plant eine Fortsetzung der Reihe mit Werken der Bach-Familie, wobei Teil 2 dem Thema "Doppelkonzerte" gewidmet sein soll.
Repertoire: 5 Punkte
Klang: 5 Punkte
Interpretation: 4 Punkte
Edition: 4 Punkte
Gesamt: 18 Punkte
Sven Kerkhoff