June Tabor und die Oysterband - Ray Cooper über das zerlumpte Königreich
|
Die Oysterband gehört bereits seit vielen Jahren - man könnte schon sagen Jahrzehnten - zu den versiertesten Folkrockbands Britanniens. Das Quintett hat eine große Anzahl an Alben veröffentlicht. Doch eines sticht etwas heraus. Und zwar Freedom and Rain aus dem Jahr 1991. Dieses wurde zusammen mit der 1947 geborenen Sängerin June Tabor eingespielt, welche ihrerseits selbst ein großes Ansehen in der einheimischen Folkszene genießt. Aus den Augen verloren hat man sich seitdem nie. Hin und wieder war June Gast auch bei der Oysterband. Aber erst jetzt kam es zu einer erneuten Zusammenarbeit über Albumlänge. Ragged Kingdom nennt sich das neue gemeinsame Werk und entpuppt sich als wahre - bisweilen etwas düstere - Fundgrube an warmen und kitschfreien Melodien. Die CD enthält zwölf Stücke, welche aus alten Traditionals und Geschichten, sowie ein paar aktuellen Coverversionen von u.a. Bob Dylan und Joy Division besteht. Grund genug einmal bei Bassist/Cellist Ray „Chopper“ Cooper nachzufragen, wie es zu dem Ganzen kam.
„Seitdem wir unsere erste gemeinsame Platte aufnahmen, war uns bewusst, dass wir eine weitere folgen lassen würden. Es dauerte aber bis zu einem gemeinsamen Auftritt im Roundhouse zu London im letzten Jahr, dass es plötzlich an der richtigen Zeit dafür schien.“ Dabei empfinden die beiden Parteien die Zusammenarbeit als ganz natürlich. Denn im Grunde teilt man auf der einen Seite dieselbe Liebe für traditionelles Liedgut - andererseits genießt man es auch, zeitgemäße Melodien einzubinden. Dabei beweisen vor allem die fünf Herren der Oysterband ein feines Gespür für Arrangements. Denn ihr erklärtes Ziel ist es, jegliche Art von Klischee elegant zu umschiffen und sich generell nicht zu wiederholen. Trotzdem fragt man sich unweigerlich, ob die Texte, welche teilweise 100 Jahr oder älter sind, in der heutigen Zeit altmodisch oder nostalgisch wirken. „Der springende Punkt beim Singen dieser alten Folksongs ist es, einen modernen Nachklang zu finden“, gibt Cooper zu Protokoll. „Menschen erleben heutzutage oft dieselben Dinge. In ‚Sweet Sixteen’ geht es zum Beispiel um eine Teenagerschwangerschaft. ‚The hills of Shiloh’ handelt von den Leiden des Kriegs. Andere Lieder wie ‚Judas’ and ‚Bonnie bunch of roses’ haben eine gewisse dunkle Romantik. Wir lieben einfach derartige Dinge.“
Die richtige Auswahl zu treffen war das schwerste am ganzen Projekt. Denn schließlich wurden die besten traditionellen Stücke bereits ziemlich oft aufgenommen - auch von der Band selbst. „Wir gingen viele Listen durch, welche wir uns gegenseitig per Email zuschickten. Dazwischen nahmen wir Demos auf und trafen uns für Akustiksessions in Johns (Jones, Sänger - Anm.d.Verf.) Haus.“ Der Wohnort des Sängers ist ein gutes Stichwort. Denn indirekt geht hierauf auch der Albumtitel zurück, wie uns Ray erläutert: „Es ist ein Ort. Ein kleines Dorf an der walisischen Grenze, wo John lebt.“ Die Vermutung, es wäre eine sarkastische Bezeichnung für den momentanen Zustand Englands erweist sich somit als nicht ganz richtig. „Natürlich könnte es auch das bedeuten. Man kann den Titel auf verschiedene Weise interpretieren. Deswegen liebe ich ihn auch. Wir konnten uns sofort darauf einigen.“
Nachdem man sich auf die richtigen Lieder für das Projekt verständigte, man sich über die Arrangements einig war und man die Stücke schließlich aufnahm, verging schließlich mehr als ein Jahr. Dabei gestaltete sich der Aufnahmeprozess - wie heute so üblich - vielfältig. Ray Cooper: „Zuerst nahmen wir in zwei Sessions gemeinsam in den bekannten Rockfield Studios in Wales auf. Viele von Junes Einsätzen sind First Takes. Beim nächsten Schritt nahm unser Produzent Al Scott die Aufnahmen mit in sein Studio in Brighton und wir machten ein paar Oberdubs. Ich selbst nahm dabei viel in meinem eigenen Studio in Schweden auf und schickte die Sachen übers Internet an Al. Unser Gitarrist Alan Prosser machte es genauso. Al Scott ging am Ende mit seinem portablen Aufnahmestudio noch einmal zu John um mehr Gesang von ihm aufzunehmen.“ Da stellt sich natürlich die Frage, ob man bei einem solchen Aufnahmeprozess eigentlich noch einen direkten Draht zu den Stücken und den Musikern selbst hat. „Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber sobald ich die Kopfhörer aufsetze, fühle ich mich, als wäre ich mittendrin in der Aufnahme und es spielt keine Rolle, ob die Band hier oder weit weg ist.“ Am Ende ist es wahrscheinlich auch dem Talent des langjährigen Oysterband-Produzenten Al Scott geschuldet, dass das Endergebnis rund klingt. Die Band selbst sieht ihn mittlerweile sogar als eine Art sechstes Bandmitglied an. „Al ist perfekt im Komplettieren der einzelnen Stücke. Wir kommen mit ein paar Ideen zu ihm und er arbeitet an ihnen und macht, dass sie gut klingen. Er ist beides: Produzent genauso wie Arrangeur und Musiker.“
Wer die Oysterband kennt, weiß natürlich auch, die Studioalben nur die halbe Faszination an ihr ausmachen. Das Quintett ist ebenso eine außerordentlich gute Liveband. In unseren Breitengraden kommt man glücklicherweise fast jedes Jahr in den Genuss einer Konzertreise. Passend zum Albumrelease spielen die Musiker im Dezember einige Konzerte in Deutschland und Österreich (s. Konzertkalender). Nach der letzten Akustiktour, was erwartet uns da, Chopper? „Wir haben mittlerweile eine gemischte Show entwickelt, die akustisch startet, sich aber dann in Richtung elektrische Stücke bewegt. Es kommt immer darauf an, in welcher Örtlichkeit wir spielen - ob mit oder ohne Sitzplätze.“ Wir werden vielleicht ein paar Stücke von Ragged Kingdom zu hören bekommen. Doch auf June Tabors warme Stimme müssen wir leider verzichten. Diese bleibt den Briten vorbehalten. Dort touren Sängerin und Band im November gemeinsam. Wäre das nicht auch etwas für Kontinentaleuropa? „Dafür müsst ihr leider noch ein wenig warten und unsere Webseite beobachten. Ich habe mitbekommen, dass Ragged Kingdom die britischen Charts geentert hat. Wer weiß also was nächstes Jahr passiert? Ich hoffe wir können so viel spielen wie möglich.“ Es bleibt zumindest die Hoffnung.
Natürlich kam im Laufe des Interviews Rays im letzten Jahr veröffentlichter Alleingang Tales of love, war and death by hanging zur Sprache. Da dies sein erster großer Solostreich war, wollte MAS natürlich wissen, ob er dadurch eine neuen Blickwinkel auf die Musik und wieder einen freien Kopf für die Arbeit mit der Band erhielt: „Ja, das habe ich. Ich sehe mich nun nicht mehr als reines begleitendes Mitglied. Ich bekam einen breiteren Weitblick. Die Sache gab mir mehr Selbstvertrauen.“ Aus diesem Grund wird es auch keine einmalige Sache bleiben. Der Musiker hat definitiv Blut geleckt: „Ich kann diese Seite an mir nicht mehr einfach außen vor lassen, nachdem ich jetzt damit begonnen habe.“ Man darf also gespannt sein, was aus dieser Richtung noch kommt. Denn sein Album war ein ganz wunderbares und leidenschaftliches Folkalbum, eines hervorragenden Musikers. Dabei mag er es gar nicht, wenn man seine Musik und die seiner Band als schnöden Folk bezeichnet. „Ich mag es, mit der Kultur Nordeuropas verbunden zu sein. Schließlich ist das meine Identität. Aber ich spiele nicht wirklich Folkmusik im engsten Sinne. Ich sehe diese mehr als eine Art Schatztruhe, von der ich mich glücklich schätze, mich bedienen zu können.“
Dem sind sich auch seine Bandkollegen bewusst. Und das schon seit rund drei Jahrzehnten. Dahin gehend wundert man sich natürlich, ob man mit der Zeit nicht müde wird und was einen nach so langer Zeit immer noch antreibt. „Was uns antreibt, ist dass es sich immer noch gut anfühlt, unsere Musik zu spielen“, meint Herr Cooper. „Wir müssen sie aber immer wieder etwas ändern und weiter entwickeln. Andererseits wird sie fad und altbacken. Aber auch die Fans haben etwas damit zu tun. Sie geben uns Energie!“ Welch schöneres Schlusswort könnte man für dieses Interview wählen? Vielleicht dieses: „Wir haben die Absicht ziemlich bald an neuen Oysterband-Songs zu arbeiten.“ Die Zukunft bleibt also - wie immer - weit offen…
Mario Karl
|