Musik an sich


Reviews
Carissimi, G. u. a. (O’Reilly)

Rom ca. 1640


Info
Musikrichtung: Barock Oratorium

VÖ: 01.09.2007

Passacaille / Note 1
2 CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. 940


Gesamtspielzeit: 102:00



DRAMA UND MEDITATION

Das aufregendste Stück auf dieser an mehr oder weniger bekannten Meisterwerken nicht gerade armen Produktion befindet sich auf der 1. CD: Die 1630 publizierte Toccata Settima von Michelangelo Rossi. Kaum fünf Minuten währt das chromatische Delirium, in das der Komponist Interpreten und Hörer stürzt. Und dennoch: Es handelt sich um ein manieristisches Kabinettstück, das zeitlos modern ist und auf dem gewählten historischen Instrument eine angemessene Wiedergabe erfährt. Yannck Varlet spielt auf der barocken Orgel von Moutiers du Perche. Die mitteltönige Stimmung sorgt für gänsehauterzeugende scharfe Dissonanzen bei den auf- und abflitzenden chromatischen Skalen, mit denen das Stück gespickt ist.

Mit seinem extrovertiertem Timbre sorgt das an italienischen Orgeln des 17. Jahrhundert orientierte Instrument für eine markante Farbe im Konzert der Stimmen und Instrumente, das das Ensemble européen William Byrd auf seiner Zeitreise in das frühbarocke Rom des Jahres 1640 aufführt.
Rückgrat des Programms bilden Oratorien von Giacomo Carissimi, darunter das prominente Vanitas Vanitatum und die Historia di Jephte: musikalische geistliche Übungen in der Tradition ignatianischer Exerzitien.
Aber auch selten gespielte Werke Carissimis gibt es zu entdecken, so das dreistimmige Audite omne quodquod estis und die anonym überlieferte zweistimmige Motett sur la Vanité de hommes, die dem Komponisten zugeschrieben wird. Zwei melodisch und harmonisch reizvolle Vertonungen des „Sonnenpredigt“ durch Marco Marazolli und Luigi Rossi komplettieren nebst einigen weiteren Orgelstücken die Produktion.

O’Reilly und seinen Musiker/innen, die vor einiger Zeit eine hinreißende Aufnahme mit Oratorien des Carissmi-Schülers Marc-Antoine Charpentiers vorgelegt haben (Pan Classics / Note 1), nehmen sich der dramatischen Meditationen stilkundig und mit technischer Finesse an. Die einfache Besetzung, bei der „Chor“ und Solisten identisch sind – einen „Chor“ nach heutigem Verständnis gab es damals noch nicht –, sorgt für differenziertes und doch intimes Klangbild. Ein schlanker, eher objektivierender Ensembleklang ist das ästhetische Ideal, wobei die Soprane in der Höhe etwas gleißend klingen. So geht die Gruppe mit den individuellen vokalen Ausdrucksmitteln zurückhaltender um als z. B. Les Paladins auf ihrem 2006 veröffentlichten Konzertmitschnitt (Pan Classics) oder das Ensemble Tragicomedia auf seiner von mediterranem Feuer durchglühten Aufnahme „Vanitas vanitatum. Rom 1650“ aus dem Jahre 1995 (Teldec / Warner Classics). Bei aller Sorgfalt fehlt es mir bei der Neuproduktion etwas an diesem emotionalen Überschwang, der die beiden anderen Aufnahmen auszeichnet: eine religiöse Inbrunst, die die Musik nicht nur in eindrucksvoll vorführt, sondern ins Herz auch des heutigen Zuhörers katapultiert.
Je nach Dimension der Stücke wurde übrigens die Aufstellung der Ausführenden am Aufnahmeort verändert. Überzeugend u. a. die historisch verbürgte Lösung, die Sänger/innen und Instrumente gleich auf der Orgelbühne, vor dem Hauptinstrument zu platzieren. So kommt die kammermusikalische und doch dramatische Disposition der Musik optimal zur Geltung. Beiheft auch mit deutschem Kommentar, Libretto leider nur italienisch, französisch und Englisch.



Georg Henkel



Besetzung

Ensemble européen William Byrd
Ltg. Graham O’Reilly


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