Interpretation: ++++
Klang: +++++
Edition: ++++
HAUPT- UND NEBENWEGE
Dass die abendländische Musikgeschichte gleichsam in völlig geraden, "natürlichen" Pfaden von der Gregorianik bis Wagner und von da aus weiter in die Gegenwart verlaufen ist, erscheint nur in der vereinfachenden Rückschau so. Es gibt eine Fülle von Nebenwegen und auch Sackgassen, die von einzelnen beschritten wurden, die man dann, da abseits des Mainstreams und des Repertoire-Kanons, einfach vergessen hat oder die bestenfalls als Lexikoneintrag überlebten.
Der Wiener Komponist Josef Matthias Hauer war so ein Fall. Im Umfeld von Arnold Schönberg entwickelte er in den 20er Jahren ein eigenes Zwölftonsystem, bei dem er alle möglichen Reihenkombinationen (es sind unglaubliche 479 001 600) halbierte und in ein System von 44 Kategorien brachte. Die so gewonnenen 6-Tonreihen nannte er in Anspielung auf die Musik des Mittelalters "Tropen". Diese Tropen dienten ihm in einem Stück als Tonvorrat; die Töne können innerhalb dieser Reihe immer wieder umgestellt werden - anders als bei Schönberg, für den die einmal gefundene Zwölftonreihe (abgesehen von der Umkehrung der Intervalle oder Reihe) im Prinzip unveränderlich war. Außderdem ist es möglich, mehrere Tropen nach bestimmten Gesetzten zu kombinieren.
Hauer stellte außerdem einen absoluten Gegensatz zwischen der melodischen und rhythmischen Musik auf; erstere nannte er "atonal", letztere "tonal". Atonal meint also nicht einfach, dass diese Musik kein tonales Zentrum hat, sondern sich vor allem einstimmig in der Horizontalen bewegt.
Um Aufführungen seiner Musik hat sich Hauer nicht weiter gekümmert. Als Sonderling komponierte er offenbar für die Schublade (wenngleich der hier eingespielte Zyklus veröffentlicht wurde), betrieb sozusagen musikalische Grundlagenforschung. Immerhin nahm er Einfluss auf die Literaturgeschichte: Er soll u. a.das Vorbild für die Gestalt des exzentrischen Komponisten 'Mathias Fischböck' in Werfels Verdi-Roman und den 'Schneemann' in dessen 'Spiegelmensch' abgegeben haben. Hesse widerum liess sich durch Hauer möglicherweise zu seinem 'Magister Ludi' im 'Glasperlenspiel' anregen.
MUSIKALISCHE ASKESE
Nicht nur Hauers Theorie klingt esoterisch, sondern auch das Ergebnis. Dabei darf man zunächst all jene beruhigen, bei denen sich beim Wörtchen 'atonal' das Trommelfell kräuselt. Hauers Musik mag zwar streng, abstrakt und konstruiert sein, ist dafür aber auch sehr wohlklingend. In ihrer absoluten Beschränkung auf den Melos und unter weitgehender Vernachlässigung des Rhythmus ist sie sehr minmalistisch. Die sechtönigen Tropen begünstigen außerdem durch ihren konstanten Tonvorrat die Bildung von 'Patterns', von Mustern, die mitunter verblüffend an Musik von Morton Feldman erinnern. Wo Feldman ein "chromatisches Feld" beackerte und immer neu gruppierte, sortiert Hauer die Töne seiner Tropen, bis alle Möglichkeiten ausgeschöpft und das Material "verbraucht" ist.
Immerhin ist nicht alles einstimmig oder ganz ohne rhythmische Differenzierung komponiert. Es gibt so etwas wie Begleitakkorde, in denen immer wieder das traditionelle Dur-Moll-System anklingt. Nur erscheinen die Akkorde - wie auch die 'Melodien' - leittonlos. Sie schreiten fort und fort, sehr klar, sehr schön, sehr schlicht. Und gelegentlich schwingt sich die Musik sogar zu einer Art Tanz auf.
Steffen Schleiermacher nimmt sich dieser spartanischen Musik mit Hingabe an. Jeder halbwegs ambitionierte Pianist dürfte diese karge Kost wohl als Demutsübung emfpinden - wenn er sie nicht sowie als zu banal, eben was für Anfänger auf dem Klavier, zurückweist. Dabei werden dem Interpreten aufgrund der "leeren" Partituren eine ganze Reihe von Entscheidungen abverlangt, z. B. zu Tempo und Dynamik. Davon steht nichts in den Noten. Jede Phrase, so Hauer, bedarf der ihr angemessenen Gestaltung. Diese habe sich an der gebundenen Prosa der Sprache zu orientieren.
Schleiermacher unterwirft sich Hauers Anweisungen und spielt die Stücke so zurückhaltend und kristallklar, wie sie komponiert sind. Allenfalls rauht er die Oberfläche der Monodien etwas auf. Das Ergebnis vermag durchaus für sich einzunehmen. Doch wird auch dem Hörer höchste Konzentration abverlangt: Musikalisch scheint da eben nur wenig zu passieren.
Ein Gewinn für den Katalog ist diese merkwürdige Musik allemal.
13 Punkte
Georg Henkel
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