Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: ++++
RAUSSCHMISS ...
Zu den zahlreichen Künstlern, die nach der von Warnermusic verordneten Zwangsfusion und 'Umstrukturierung' der Traditionslabel Erato und Teldec plötzlich ohne Vertrag dastanden, gehörte auch William Christie mit seinem Ensemble Les Arts Florissants. Diese künstlerische Selbstkastration mag wirtschaftliche Gründe haben - doch das mit großer Geste angekündigte neue Profil von Warnerclassics zeichnet sich bilsang eher durch Konturlosigkeit aus. Das Geschäft wird damit auf Dauer wohl kaum gerettet. Immerhin: Der luxuriöse Katalog von Les Ars Florissants mit Musik vom 16.-18. Jahrhundert in den Aufnahmen der letzten 10 Jahre ist nach wie vor erhältlich. Im Oktober wird dann sogar noch eine der letzten Aufnahmen des Ensembles für Erato in den Handel kommen: Händels Oratorium Theodora.
... UND EINSTIEG. UND WEITERE EXPEDITIONEN IN SACHEN FRANZÖSICHER BAROCK
Was der eine verliert, kann ein anderer gewinnen. LAF sind bei Virgin Classics untergekommen, mit einem vorerst auf drei Projekte begrenzten Non-Exklusive-Vertrag. Nachdem im Frühjahr schon eine Aufnahme mit Händels Violinsonaten erschienen ist, bei der William Christie auch einmal wieder als Solo-Cembalist in Erscheinung getreten ist, folgt nun eine Produktion, bei der Kernrepertoire von LAF auf dem Programm steht: drei Grand Motets des französischen Komponisten André Campra. Damit setzten LAF ihre Erkundungen dieser zu Unrecht lange vergessenen und vernachlässigten Gattung fort, die zu den Höhepunkten geistlicher Barockmusik zählt. Nach Motetten von Lully und Delalande (HMF) folgten Einspielungen mit Werken von Rameau, Mondonville und Desmarets.
MUSIKGESCHMACK Á LA FRANCAISE
Bei den Grand Motets handelt es sich um Psalmvertonungen, die mit ihren Arien und Chören am ehesten noch der protestantischen Kirchenkantate vergleichbar sind. Was eine effektvolle Ausmalung des Textes ausgeht, sind der Phantasie des Komponisten praktisch keine Grenzen gesetzt. Stilistisch steht Campra zwar noch hörbar in der Tradition von Lully und Delalande, geht aber in punkto Virtuosität und Tonmalerei über seine Vorbilder hinaus, vor allem was die Einschmelzung italienischer Stilelemente angeht. Der italienischen Musik begegnete man in Frankreich, das sich seiner originären nationalen Musikkultur sehr bewußt war, lange mit einer Art Hassliebe, die sich erst im 18. Jahrhundert zugunsten Italiens in Begeisterung wandelte. Campra frönt der italienischen Mode ganz selbstverständlich und präsentiert die Texte seiner Motetten verpackt in traditionell französische und neuartig italienische Klangreize. Vielleicht mag man die "mystische Tiefe" von Delalande oder aus Desmarets verm
ssen. Dafür spürt man bei Campra, der Zeit seines Lebens zwischen Kirche und Theater hin- und hergerissen war, in jedem Takt die Lust an der ausdrucksvollen, theatralischen Geste. Der Operndramaturg Campra verwandelt die heiligen Texte in heiliges Theater. Chor-, Solo- und Orchesterpartien wechseln einander ab, die Vielfalt der Besetzungen, Stimmungen und Effekte sorgt für ein andächtig-vergnügt-unterhaltsames Hörerlebnis.
CAMPRA-EXEGESE AUF HÖCHSTEN NIVEAU: LAF
Daran hat auch die Einspielung durch LAF einen großen Anteil. Der Live-Mitschnitt eines Konzerts vom vergangenen Jahres ist vorzüglich gelungen. Gäbe es nicht ein oder zwei kleine Nebengeräusche, ich wäre nicht darauf gekommen, dass es sich nicht um eine Studioproduktion handelt - sieht man einmal von der Spontaneität ab, mit der hier musiziert wird. Die Konzertsaal-Akustik sorgt für optimale Durchhörbarkeit der Chorsätzte, das Orchester wird detailliert abgebildet. Auch die Solisten können sich von ihrer besten Seite präsentieren. Christie, der sein Ensembles wie kaum ein anderer Dirigent quasi als Familienbetrieb mit über längere Zeit konstanten Solo-Besetzungen aufgebaut hat, profitiert hörbar von der Vertrautheit der Mitwirkenden. Die Einspielungen sind wie aus einem Guss geraten. Im Unterschied zu der Desmarets-Produktion, die etwas unter dem Weichzeichnerklang des Arsenal in Metz und einer vielleicht doch zu schwelgerischen Barock-Romantik leidet, erklingt hier alles mit dem
gewohnten rhythmischem Drive und erlesener Klangkultur. Bei den Solisten ist mir allerdings der erste Einsatz der Bass-Baritone etwas zu polternd geraten - wohl ein Tribut an die Live-Situation. Jael Azzaretti besticht dafür mit Innigkeit und Agilität; Paul Agnews jungenhafter Tenor hat gegenüber älteren Produktionen an Markanz gewonnen.
Es steht nur zu hoffen, dass dies nicht die letzte Expedition von LAF in Sachen Grand Motet gewesen ist. Lange schon warte ich auf weitere Aufnahmen mit Werken Delalandes. Und dann gab es im vergangenen Jahr eine große Bühnen-Produktion mit Rameaus unglaublicher letzter Oper, den Boreaden. Unbedingt ein Fall für die Platte! Im nächsten Jahr soll vom gleichen Komponisten die komische Oper Les Paladins folgen. Auch so ein Kandidat ... Ob Virginclassics es möglich macht?
18 Punkte
Georg Henkel
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